Der Pflege-Tsunami (eBook)

Wie Deutschland seine Alten und Kranken im Stich lässt
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
240 Seiten
Edel Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
978-3-8419-0813-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Pflege-Tsunami -  Monja Schünemann
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In der Pflege ist Deutschland auf dem besten Weg in eine humanitäre Katastrophe. Konkrete Lösungsansätze müssen her, und zwar schnell! Monja Schünemann, Medizinhistorikerin und Fachkrankenschwester mit dreißig Jahren Berufserfahrung geht in ihrem Buch auf den eklatanten Mangel an Pflegefachkräften ein, der die deutsche Gesellschaft überrollen wird, sollte in den nächsten Jahren von politischer Seite nicht massiv gegengesteuert werden. Bis zum Jahr 2030 werden bereits 500 000 Pflegekräfte fehlen, während die Anzahl der Pflegebedürftigen immer weiter steigt. Schünemann prangert das morsche Gerüst des angeblich 'besten Gesundheitssystems der Welt' an, an dem sie selbst lange als Arbeitskraft verzweifelt ist. Dringend notwendig ist ein stark reformiertes System, das nicht mehr auf dem Verschleiß der pflegenden Menschen fußt. Was müssen wir tun, damit Pflegekräfte Bedingungen vorfinden, unter denen sie gut und gerne ihre Arbeit verrichten? Denn nur so kann der Schwund der Pflegekräfte und die dadurch entstehende menschenverachtende Vernachlässigung unserer Alten und Kranken verhindert werden.

Monja Schünemann, geboren 1970, ist Medizinhistorikern und arbeitete zuvor 30 Jahre lang als Fachkrankenschwester. In ihrer wissenschaftlichen Disziplin ist sie als Key-Speakerin international renommiert. Im Bereich der Pflege ist sie vor allem durch ihren kritischen Blog 'Pflegephilosophie' bekannt, der von den Medien immer wieder breit rezipiert wird. Ihr Blog widmet sich dabei vor allem einem bunten Strauß tabuisierter Themen, die sie aus aktuellen Geschehnissen aufgreift. Monja Schünemann lebt in Berlin.

Monja Schünemann, geboren 1970, ist Medizinhistorikern und arbeitete zuvor 30 Jahre lang als Fachkrankenschwester. In ihrer wissenschaftlichen Disziplin ist sie als Key-Speakerin international renommiert. Im Bereich der Pflege ist sie vor allem durch ihren kritischen Blog "Pflegephilosophie" bekannt, der von den Medien immer wieder breit rezipiert wird. Ihr Blog widmet sich dabei vor allem einem bunten Strauß tabuisierter Themen, die sie aus aktuellen Geschehnissen aufgreift. Monja Schünemann lebt in Berlin.

KAPITEL 1
Kein „Pflegenotstand“, sondern ein Tsunami


Damit kein falscher Eindruck entsteht: Mit dem Stehlen habe ich es nicht so. Im Gegenteil bin ich der festen Überzeugung, dass den Menschen in diesem Land ein Gesundheitssystem zusteht, in dem niemand stehlen muss. Keine Minuten, Stunden, Tage, an denen man eigentlich frei hat, aber einspringen muss, weil wieder mal Personal fehlt. Es ist doch paradox, dass wir, eine kreative Spezies, für uns selbst nie Visionen für das Alter und das Leben mit Pflegebedürftigkeit entwickelt oder einen Aushandlungsprozess vollzogen haben. Tatsächlich verstehe ich jeden, der den Gedanken verdrängt, in ein Krankenhaus oder „für immer“ in ein Seniorenheim zu müssen. Pflege ist hierzulande kaum positiv besetzt. Wer will ein sogenannter Pflegefall sein? Wer will ins Altenheim „abgeschoben“ werden? Niemand. Aber wenn es schon sein muss, Pflege im Krankheitsfall oder im Altersheim unumgänglich sind, dann wünsche ich Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, Orte, an denen Sie Sicherheit, Vertrauen, Freude und Zuversicht finden.

Stellen Sie sich vor, Sie müssten sich einer Operation unterziehen. Keine Angst, es ist nichts Lebensbedrohliches. Den Termin, die ganzen damit verbundenen Organisationen und Tests hat Ihre Pflegepraxis für Sie gemacht. Sie wohnen auf dem Land? Kein Problem. Die Praxis, von der ich rede, gibt es auch auf dem Dorf. Sie und die dortigen Mitarbeiter kennen sich seit Jahren. Dort bekommen Sie Rat und Rezepte, es schaut wer nach dem Blutdruck. Die Inhaberin der Praxis ist Doktorin med. rerum curae, also eine studierte Pflegefachkraft. Sie macht auch Hausbesuche und ist gut vernetzt mit der Ergotherapeutin und dem Krankengymnasten, klärt darüber auf, welche Hilfsmittel Ihnen den Alltag erleichtern – und das Beste ist: Sie verschreibt sie auch gleich.

Als Sie in der Klinik, die die OP durchführt, eintreffen, werden Sie bereits erwartet. Eine Pflegefachperson nimmt Sie persönlich in Empfang und bespricht mit Ihnen die OP. Da Sie nach dem Eingriff etwas eingeschränkt sein werden, erklärt sie Ihnen auch, wie Sie sich am Tag danach verhalten sollten, damit es nicht allzu sehr zwickt und zwackt. Sie wähnen sich – zu Recht – in so guten Händen, dass Sie gar keine Angst vor der Operation haben. Und es kommt noch besser: Nach dem Eingriff wachen Sie aus der Narkose auf und alles ist exakt so, wie Ihnen gesagt wurde – und das gibt Ihnen Sicherheit. Niemand ist in Hektik, dann alle wissen, gut Ding will Weile haben.

Für den Fall, dass Sie zu Hause Hilfe benötigen, weist Ihre Pflegefachperson Ihr soziales Umfeld ein, wie es Ihnen am besten beistehen kann. Es sind ja oft die kleinen Tricks und Kniffe, die erst die Genesung und dann das Leben einfacher machen. Mit der Nachsorge gibt es keinen Stress. Ihre Pflegepraxis weiß bestens Bescheid über Ihren Gesundheitszustand. Alle relevanten Informationen wurden auf digitalem Weg übermittelt. Toll, wie alle Beteiligten Hand in Hand arbeiten!

Falls Sie doch in ein Seniorenheim gehen müssen, können Sie der Einrichtung voll und ganz vertrauen. Nach einer eingehenden Erörterung Ihres körperlichen Zustands tüfteln Sie mit der zuständigen Pflegefachperson einen auf Ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnittenen Plan aus. Von wegen altes Eisen! Sie wollen weiterhin soweit es geht am Leben teilhaben und dieses mitgestalten. In die Gespräche mit dem Seniorenheim, wie dieses Ziel am besten zu erreichen ist, sind Ihre Verwandten von Beginn an eingebunden. Alle wissen, worum es geht. Wie gut klappt es mit dem Laufen? Trinken Sie genug, und wenn ja, was am liebsten? Dass Sie Entwässerungstabletten nehmen und deshalb in der Nacht oft auf die Toilette müssen, ist kein Problem, denn auch zu später Stunde ist immer jemand da, der schnell genug kommt, damit nicht – na, Sie wissen schon.

Mit Ihrer Wohngruppe machen Sie sich abends gerne schick, um im Gemeinschaftsraum am Public Viewing teilzunehmen. Dort gibt es Liveübertragungen aus der Oper, dem Theater und auch von Konzerten für diejenigen, die solche Veranstaltungen vor Ort nicht mehr durchhalten. Sie müssen zufrieden zugeben: Hier sind Sie am rechten Ort zur rechten Alterszeit.

Werden Sie daheim von einem professionellen Dienst betreut, können Sie oder ein Familienmitglied am Computer oder Handy einen exakt auf Sie abgestimmten Wochenplan mitgestalten. Auch hier wird alles mit Ihnen besprochen und es gibt, wenn nötig, Anleitungen für Angehörige, die Sie mitpflegen und in alle notwendigen Schritte eingebunden werden. Die Pflegepraxis steht Ihnen bei, sie verordnet Hilfsmittel und fordert, wo es nötig ist, therapeutische Unterstützung an. Gerenne um Rezepte und Verordnungen kennen Sie und Ihre Verwandten nicht. Die am Abend fällige Spritze kriegen Sie unproblematisch auch dann, wenn Sie zu Besuch bei einer Freundin außerhalb des Heims sind, sogar in einer anderen Stadt. Denn alles läuft digital, Sie müssen einfach Ihren Aufenthaltsort angeben – und schon kommt jemand vorbei und verabreicht Ihnen die Spritze.

Jede Wette, Sie haben es so nie erlebt, dass ein Pflegeprozess mit Ihnen besprochen wurde, und kennen auch keinen einzigen Menschen – nicht einmal vom Hörensagen –, der jemals so umsorgt wurde. Dabei gibt es zig Millionen Fälle, in denen exakt so gehandelt worden ist. Allerdings nur auf dem Papier. Denn es handelt sich um das gesetzlich vorgeschriebene Vorgehen seit Anfang der 1990er-Jahre. Die Realität sieht bekanntlich anders aus. Die bittere Wahrheit ist: Planung, eigentlich das grundlegende Instrument sämtlichen pflegerischen Handelns, ist zum Abhakmarathon der Tätigkeiten verkommen, von denen Sie nur einen Bruchteil mitkriegen. Sie existieren lediglich in kilometerlangen Verwaltungsakten.

Noch mein Großvater drehte eine Runde nach der anderen mit immer unterschiedlichen Tätigkeiten auf den jeweiligen Stationen. Was die einzelnen Leute hatten, wusste er nicht immer, das wusste nur die Oberschwester. Die Fachwelt hat dafür den Begriff der „Funktionspflege“ erfunden. Seitdem hat sich viel geändert, denn es wurde eine Bezugspflege eingeführt, die besagt, dass eine Pflegefachperson nicht mehr einzelne Tätigkeiten Runde für Runde abarbeitet, sondern für ihre Patienten im Ganzen zuständig ist und über alle Belange Bescheid weiß. Das ist ein grundsätzlich richtiger, professioneller Ansatz. Das Krankenpflegegesetz von 1985 definierte eine „sowohl sach- als auch fachkundige, umfassende und geplante Pflege am Patienten“. Die Vorgaben waren ein Meilenstein in der deutschen Pflegelandschaft. Seit 1993 arbeitet die professionelle Pflege nach einem Modell, das sie selbst entwickelt und anhand wissenschaftlicher Studien belegt hat.

Dass die breite Öffentlichkeit davon früher nichts mitbekommen hat und bis heute nichts mitbekommt, liegt daran, dass schon zwei Jahre nach Inkrafttreten der Reform die Pflegeversicherung unter Bundessozialminister Norbert Blüm eingeführt wurde. Vor der Reform musste Krankenpflege verschrieben werden. Vom Arzt, der gar nicht so genau wusste, was das eigentlich ist und was sie kann, die Pflege. Nun sollte nicht nur ein jeder das Recht auf Pflege haben, nein, es sollte auch das Geld dafür zur Verfügung gestellt werden und man konnte sich aussuchen, ob man dieses Geld einsetzt, um seine pflegenden Angehörigen oder einen Pflegedienst zu bezahlen. Dass es sich dabei allerdings um eine Teilkaskoversicherung handelte, die lediglich einen kleinen Teil der Kosten übernimmt, das bekam nur mit, wer damit konfrontiert wurde.

In den Kliniken wurden gleichzeitig massenhaft Stellen abgebaut und Mechanismen wie die unsinnigen Fallpauschalen eingeführt, um die Krankenhäuser und andere Einrichtungen auf Effizienz zu trimmen. Man bleibt jetzt nicht mehr so lange im Krankenhaus, bis man gesund ist, sondern die jeweilige Krankheit gibt vor, wie viele Krankenhaustage einem zustehen. Verweildauer nennt sich das. Ich muss sagen: Das Ziel wurde erreicht.

So wurde aus dem Meilenstein ein Kieselsteinchen. Pflegeplanung verkam zu einer Art Planwirtschaft. Pflege wurde nun von Klinik- und Heimmanagern in Minuten eingeteilt und rationalisiert. Die Folgen waren verheerend und sind bis heute spürbar.

Es fängt schon bei der Ausbildung an, die ad absurdum geführt wird. Der Nachwuchs erlernt einen Beruf, den er nach dem Abschluss nicht einen einzigen Tag so ausüben kann, wie er ihm beigebracht wurde. Das Ziel bestmöglicher Pflege von Kranken und Alten wird konterkariert. Hunderttausende Profi-Pflegende möchten ihren Beruf gerne so ausüben, wie das Gesetz und ihr Können es ihnen erlauben. Dazu bräuchte es in erster Linie genug Pflegekräfte an den richtigen Stellen und eine gute Bezahlung. Das ist eigentlich alles. Aber die Realität sieht komplett anders aus. Viel zu viele Kolleginnen und Kollegen nehmen bald nach dem Ende der Ausbildung oder des Studiums Reißaus und wechseln für immer in andere Jobs. Der Personalmangel ist tatsächlich epochal und so gravierend, dass das System implodieren wird, wenn keine radikale Wende eintritt, die sich bislang in keiner Weise abzeichnet.

Während der Coronapandemie redete das ganze Land über die Defizite, endlich. Die Klagen der betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen waren unüberhörbar. Inzwischen schwant den Leuten, dass irgendetwas nicht stimmt mit dem Gesundheitssystem und vor allem: der Pflege. Altenheime galten nie wirklich als Orte des Vertrauens und der Sicherheit. Corona hat daran nichts geändert. Im Gegenteil.

Die Angst vor dem Heim ist deutsche Realität. Manchmal ist sie sogar tödlich. „Ich habe ihr die Luft zum Leben genommen“, gestand im November 2020 ein...

Erscheint lt. Verlag 11.10.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Altersheime • Ausbeutung Pflegekräfte • Buch • Buch Pflege • Carearbeit • Care-Arbeit • Geriatrie • Gesundheitssystem • gute Pflege • Krankenpflege • Pflegebedürftig • Pflegeberufe • Pflegeheim • Pflegekräftemangel • Pflegenotstand • Pflegepolitik • Pflegeschlüssel • Pflexit • Überlastete Krankenpflegerinnen
ISBN-10 3-8419-0813-6 / 3841908136
ISBN-13 978-3-8419-0813-1 / 9783841908131
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