Politische Körper (eBook)

Von Sorge und Solidarität

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
180 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-0548-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Politische Körper -  Jule Govrin
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Wie verwundbar unsere Körper sind, verdrängen wir im Alltag, wo wir nur können. Doch die Pandemie hat uns diesen Umstand schmerzhaft ins Gedächtnis gerufen: Wird schon das Ein- und Ausatmen zur Gefahr, erscheint jedes Miteinander bedrohlich. Zugleich wird sicht- und mehr noch spürbar, wie sehr wir auf Begegnungen und Berührungen angewiesen sind. So tritt eine Ambivalenz zutage, die zum philosophischen Ausgangspunkt für Jule Govrins Nachdenken über Körper und Politik wird: Verletzbar zu sein vereint alle Körper, in unserer Körperlichkeit scheint damit ein Moment radikaler Gleichheit auf. Doch Gegenwart und Geschichte sind von Mechanismen bestimmt, die darauf abzielen, Körper ungleich zu machen. Govrins aufwühlender Essay lenkt die Aufmerksamkeit darauf, wie politische Bilder und ökonomische Praktiken Körper formen. Zugleich eröffnet dieser Blick Aussichten auf einen Universalismus von unten, wie er sich in aktuellen feministischen Protestbewegungen abzeichnet. Ausgehend von der Erkenntnis, dass unsere Körper durch einander verwundbar und voneinander abhängig sind, wird die Sorge um sie zum Dreh- und Angelpunkt globaler Solidarität.

Jule Govrin ist politische Philosoph*in und forscht an der Schnittstelle von Feministischer Philosophie, Politischer Theorie, Sozialphilosophie und Ästhetik zur politischen Dimension von Körpern und Begehren als transformativer Kraft.

Jule Govrin ist politische Philosophin und forscht an der Schnittstelle von Feministischer Philosophie, Politischer Theorie, Sozialphilosophie und Ästhetik. Zudem arbeitet sie bei dem wissenschaftlichen Magazin Geschichte der Gegenwart und ist journalistisch tätig.

1. Produktive Körper


Die Pandemie stößt uns darauf, dass Körper zutiefst politisch sind. Sie bilden nicht bloß Instrument und Zielobjekt von Politik, ihnen wohnt eine eigene Form des Politischen inne. Zunächst dienen Körper als Metaphern der Macht. Die Geschichte ist reich an Bildbeispielen, angefangen bei den königlichen Körpern, welche gegenüber ihren Untertanen räumlich höhergestellt wurden, um diese vom Thron aus zu überragen. Darin zeigt sich eine erste Dimension der politischen Körper: die Dimension der Repräsentation. Körpermetaphern der Macht beschränken sich nicht auf königliche Körper, auch moderne Politiker:innen setzen ihre Körper als Zeichen der Autorität in Szene. Erinnert sei an die aufmerksamkeitsheischenden Aufnahmen von Wladimir Putin, mit entblößtem Oberkörper auf dem Rücken eines Pferdes. Solch eine Selbstdarstellung soll militärische Härte demonstrieren, eine Härte, die zumindest bei Putin keine reine Pose bleibt, sondern sich in der Brutalität des Angriffskriegs auf die Ukraine zeigt. Das Beispiel seines Selbstbildnisses als berittener Krieger bezeugt, wie Vorstellungen von politischer Souveränität mit Vorstellungen von Maskulinität verbunden sind. Demgegenüber stechen Körper hervor, die nicht den traditionellen Vorstellungen von Macht entsprechen, nicht mit ihren Insignien ausgestattet sind.1 Nimmt man das Beispiel von Angela Merkel, tritt eine andere, vor ihrem Amtsantritt unbekannte Verkörperung von Autorität zutage. Gerade weil Merkel nicht althergebrachten Assoziationen von Autorität entspricht, wurde ihr Körper als solcher in zahlreichen Schlagzeilen kommentiert. »Wieviel Dekolleté darf eine Kanzlerin zeigen?«, fragt die Welt 2008.2 2015 bezeichnet sie dagegen der Cicero als »Dame ohne Unterleib«.3 Mal bemängelte man sie wegen zu viel, mal wegen zu wenig Weiblichkeit. Ob nun die Medien einen Weiblichkeitsüberschuss oder -mangel monieren, sie behandeln Merkels Körper besonders, weil er nicht den maskulinen Normen politischer Autorität entspricht. Ihr Körper wird exponiert, im Gegensatz zu den altbekannten, anzugtragenden Körpern von Merkels männlichen Kollegen, deren Körperlichkeit unkommentiert bleibt. Darin deutet sich an, dass Körper durch soziale, symbolische Einschreibungen ungleich gemacht werden.

Dies führt unmittelbar zur zweiten Dimension der politischen Körper: die Dimension der Ungleichmachung. Sie entfaltet sich in den symbolischen Einschreibungen von Differenz, die wiederum die materiellen Bedingungen beeinflussen, unter denen Menschen leben. Diejenigen, die dem Traditionsbild von Macht und Autorität entsprechen – die Päpste und Bischöfe, die Könige und Fürsten, die Politiker und Präsidenten –, sind zwar in ihren Körpern allgegenwärtig, derweilen werden sie nicht auf diese reduziert. Vielmehr spricht man ihnen Charisma, Stärke und Klugheit zu. Dagegen werden andere auf ihre Körper beschränkt, man spricht ihnen die Befähigung ab, Vernunft und politische Autorität zu verkörpern, wofür man auf vermeintliche körperliche Besonderheiten verweist. So besagt ein langlebiges Vorurteil, Frauen seien von Natur aus zu nervenschwach und emotional für das harte Geschäft der Politik. Dahingegen werden Schwarze Männer oft noch auf ein rassistisches Klischeebild aggressiver, animalischer Maskulinität beschränkt, das ihnen Vernunftvermögen abspricht. Auch wenn diese Zuschreibungen verschiedentlich verfahren, wird eines deutlich: Aufgrund der Differenzen, die in Körper eingeschrieben werden, wird die Anerkennung als politisches Subjekt gewährt oder verweigert. Das bezeugen Geschichten der Geschlechterpolitiken und der rassistischen Gesetzgebungen, Formen der Ungleichmachung von Körpern, die bis in die Gegenwart fortbestehen.

Diese Ordnung der Ungleichheit ist eng mit der dritten Dimension der politischen Körper verbunden: die Dimension der Produktivkraft. Ökonomie bildet, bündig gefasst, eine Organisation von Körpern durch Körper. Politik zielt darauf ab, Körper so zu regieren, dass deren Arbeitskraft eingespannt und eingeplant werden kann. Michel Foucault bezeichnet diese Regierung von Körpern als Biopolitik.4 Sie greift tief in die Empfindungen von Einzelnen ein. Wenn die Familienpolitik eine höhere Geburtenrate fordert und steuerliche Anreize setzt, damit Besserverdienende Nachwuchs bekommen, wirkt die Politik feinstofflich auf das Leben von Individuen ein. Obwohl sie auf den Gesamtkörper der Gesellschaft abzielt, gelingt es der Biopolitik, das subjektive Erleben zu beeinflussen, den Bezug zu sich selbst und zum eigenen Körper.

Dadurch scheint die vierte Dimension der politischen Körper auf: die Dimension der Affekte. Unser persönliches Empfinden, unsere affektiven Wahrnehmungsweisen und körperlichen Handlungsmuster sind unauflöslich in herrschende Vorstellungen eingebunden. Sie bringen diese hervor und werden von ihnen hervorgebracht. Hierbei spielen die Dimensionen der Repräsentation und Ungleichmachung hinein: Körper, die von Differenzen markiert sind, bewegen sich anders in sozialen Räumen, als es Körper tun, die den Normen entsprechen. Während sich die einen beständig bedroht fühlen müssen, können sich andere in aller Selbstverständlichkeit bewegen. Erfahrungen der Bedrohung und Selbstverständlichkeit sind ungleich verteilt. Allein dieser Umstand verweist darauf, wie eng soziale und politische Ordnungen mit Affekten und Körpern verbunden sind. Das Dasein von Menschen, ihr unweigerlich soziales Sein, entfaltet sich inmitten affektiver Dynamiken, die niemals rein privat oder individuell sind, weil sie sich stets innerhalb dieser Ordnungen abspielen.5 Anders ausgedrückt: Affekte äußern sich körperlich und sie sind politisch.

Diese beiläufigen Beispiele beleuchten die vier Dimensionen von politischen Körpern: Repräsentation, Ungleichmachung, Produktivkraft und Affekte. Sie bieten Orientierungshilfen, um das weitverzweigte Verhältnis von Körpern und Politik zu verstehen. Das Nahverhältnis von Physischem und Politischem lässt sich außerdem besser begreifen, wenn man aus der Gegenwart hinaustritt und durch ihre Geschichten streift. Politische Ideengeschichte und die Geschichten politischer Körper sind ineinander verflochten. Bei aller Beständigkeit verändern sich die Vorstellungswelten des Politischen unaufhaltsam, genauso wie sich die Wahrnehmungsweisen des Körperlichen wandeln. Körperlichkeit wird geschichtlich bedingt gelebt. Wie wir unseren Körper empfinden, ist von den materiellen Verhältnissen genauso wie von den Wissensregimen der jeweiligen Zeit bestimmt. Besonders medizinisches Wissen beeinflusst die körperliche Wahrnehmung, die sich mit den Wissensdiskursen weiterentwickelt. In der Medizingeschichte nahm man lange an, Organe würden wandern, und glaubte, die Gesundheit sei von Körpersäften bestimmt – Vorstellungen, die uns heutzutage abstrus anmuten, damals allerdings die leibliche Selbstwahrnehmung der Patient:innen prägten.6 Genauso schreiben sich politische Körperbilder in die physischen und affektiven Wahrnehmungsmuster ein. Sie disziplinieren uns und spornen uns zur Selbstkontrolle an. In subtilen Spielweisen vermitteln sie uns soziale Normen, die wir verinnerlichen. Somit prägen sie, welche Körper wir als fremd und feindlich empfinden und welchen Körpern wir uns nah fühlen. So schreibt sich die Ungleichheit in unsere Selbst- und Weltwahrnehmung ein.

Es scheint so, als hätten sich soziale Hierarchien und politische Herrschaftsverhältnisse derart hinterlistig und hartnäckig in unseren Körpern eingenistet, dass jeglicher Ausweg versperrt ist. Doch durch die Geschichten der niedergerungenen und unterworfenen Körper ziehen sich auch Geschichten der Sorge und Solidarität, des Aufbegehrens und der Aufstände. In ihnen zeigt sich Gleichheit nicht allein als Ideal, sondern als praktisches Bestreben, Körper egalitär zu behandeln. Diese Widerstandsgeschichten und Wandlungsmomente werfen die Frage auf, wie solche egalitären Körperpraktiken entstehen. Gesucht wird kein fernes Ideal, sondern solidarisch gelebte Gleichheit in der Gegenwart. Solidarische Praktiken setzen bei den bestehenden Verhältnissen an, die Körper ungleich machen. Um Gleichheit zwischen Körpern zu begreifen, muss man also bei ihrer Ungleichmachung beginnen. Dazu dient dieses Kapitel, das eine Genealogie politischer Körper skizziert. Beim Streifzug durch die politischen Körpergeschichten stehen vier Wegetappen an: erstens die Körpermetaphern der body politic, zweitens Aufklärungsideen des Körpers als Privateigentum, drittens Biopolitiken und das Kräftespiel der Körper und viertens Verkörperungen von Herrschaft und Wissen. Die body politic beschreibt, wie Körper als Machtmetaphern dienen. Nachdem die body...

Erscheint lt. Verlag 24.6.2022
Reihe/Serie Fröhliche Wissenschaft
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Biopolitik • Corona-Pandemie • Feminismus • Geschichtswissenschaft • Judith Butler • Körperpolitik • Michel Foucault • Pandemie • Politische Theorie • Verletzung
ISBN-10 3-7518-0548-6 / 3751805486
ISBN-13 978-3-7518-0548-3 / 9783751805483
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