Der Killer im Kreml (eBook)
Bei der Verfolgung seiner Ziele geht Wladimir Putin über Leichen, und das nicht erst seit dem Überfall auf die Ukraine. John Sweeney, investigativer Journalist und seit vielen Jahren auf der Spur von Putins Verbrechen, legt die Beweise vor: Schon bei seinem unheimlichen Aufstieg vom Stasi-Mann in Dresden zum unumschränkten Herrscher im Kreml ging Putin mit erbarmungsloser Konsequenz vor, ließ Oppositionelle ausschalten, provozierte Kriege und überzog Russland mit einem Netzwerk der Korruption. Sein Ziel: die Festigung seiner Macht, persönliche Bereicherung, Russlands Wiederaufstieg zur Weltmacht. Mit kriminalistischer Akribie hat Sweeney vor Ort recherchiert - in Moskau, Tschetschenien, in der Ukraine während des Krieges -, hat mit Zeugen und Experten gesprochen, mit Dissidenten und Ex-KGBlern, mit Handlangern des Systems Putin, mit Kritikern, von denen zu viele für ihre Haltung sterben mussten.
Psychogramm, packender Hintergrundreport und knallharte Analyse - eine längst überfällige Aufklärung, eine beispiellose Anklageschrift.
John Sweeney, Jahrgang 1958, arbeitete als Reporter für die BBC und ist ein vielfach ausgezeichneter Journalist mit internationalem Profil, der seit Kriegsbeginn aus Kiew berichtet. Seit fast 30 Jahren verfolgt er als investigativer Journalist hartnäckig die Geschäfte und Verbrechen der Mächtigen Russlands, allen voran Wladimir Putins.
Kapitel eins
Die Tötungsmaschine
Irgendein Idiot rückt in der Wohnung über mir Möbel. Ich schrecke aus dem Schlaf und bin schon drauf und dran, beim Lambeth Council anzurufen, damit sie sich darum kümmern, als mir einfällt, dass ich in Kyjiw (Kiew) bin. Es ist vier Uhr morgens, und der Krach stammt nicht von Tischen und Stühlen, sondern von der russischen Artillerie.
Der Idiot ist Wladimir Putin, und sein idiotischer Krieg ist gerade zwei Tage alt.
Ich stöhne, schlafe wieder ein, stehe irgendwann auf und gehe raus, versuche, Klopapier zu kaufen, aber vergeblich. Im Laden vor mir stehen ein Opa und eine Hausfrau. Der Alte kauft zehn Päckchen Zigaretten derselben Marke und sonst nichts – eine vulgäre Demonstration seines einzigen Lasters vor den Augen der Welt. Die Hausfrau schnappt sich sämtliche Cervelatwürste, die noch zu haben sind, und beweist damit, dass Panikkäufe auch ihre komischen Seiten haben. Komisch, aber alles andere als erfreulich.
Der Fußweg von meinem Quartier in der Nähe des Olympiastadions bis ins Stadtzentrum dauert eine halbe Stunde. Die Chreschtschatyk, die wichtigste Straße der ukrainischen Hauptstadt, wirkt wie eine neostalinistische Version des Royal Crescent in Bath, ergänzt durch ein paar Gläser Wodka. Sie ist so breit, dass man mit drei Panzern nebeneinander darauf fahren könnte. Und genau das hat Putin vor.
Auf halbem Weg fange ich an, in meine Handykamera zu brummeln. Wenig später spricht mich ein derber Typ mit sehr authentischem britischem Akzent an und weist mich darauf hin, dass ich gerade am Rathaus vorbeigehe und dass das heute kein guter Aufenthaltsort sei. Ich erkläre meinem Landsmann, dass die Russen heute nicht auf das Rathaus schießen werden – das kommt erst später –, und mache, dass ich weiterkomme. Als ich die Hauptpost erreiche, baut sich eine Woge aus Lärm vor mir auf wie eine Monsterwelle auf See: Es ist die Luftschutzsirene, die sich da so gewaltig auftürmt und vor russischer Artillerie oder Raketen warnt. Ein obszönes Geräusch.
Sie nennen es Putins Wiegenlied.
Ich filme noch ein bisschen mit meinem Smartphone und poste einen Tweet, während die Sirene weiterheult: „Ich mache mir Sorgen um Roman Abramowitschs Jacht. Hoffentlich ist alles in Ordnung.“
„Versenkt die Jacht“, erwidert jemand auf Twitter.
Weiter geht es über den Majdan zur Mietwohnung meines Freundes Oz Katerji, einem britisch-libanesischen Reporter, halb so alt wie ich. Oz bietet mir eine Tasse Earl Grey an. Wir trinken unseren Tee wie die englischen Lords, die wir vielleicht in einem Paralleluniversum sein könnten. Durch das Fenster hören wir heftiges Artilleriefeuer. Nicht sehr nah, aber dieses Geräusch ist nie gut.
Artillerie. Wladimir Putin ruft mir in Erinnerung, wie ich 1976 für meine Abschlussprüfung in Englisch lernte. Wilfred Owens großes Gedicht Anthem for Doomed Youth kam dran – Nur die scheußliche Wut der Geschütze …
Oz und ich sind beide Freelancer, die darauf hoffen, mithilfe von Interviews für BBC Northern Ireland oder Scotland, LBC und RTE in Dublin ihren kümmerlichen Lebensunterhalt zu verdienen. Der Stückpreis ist nicht hoch, aber wenn etwas gesendet wird, reicht es immerhin für ein oder zwei Döner.
Wir vertrödeln ein bisschen Zeit mit dem Versuch, ein Taxi zu finden oder sonst jemanden, der uns dorthin fährt, wo der Krieg ist. Nichts zu machen. Wer ein Fahrzeug hat, transportiert seine Lieben zum Bahnhof, damit sie aus der Stadt flüchten können. Wir nehmen die Metro. Sehen die Angst in den Gesichtern der Menschen. Eine Mutter schlägt ohne Anlass ihr Kind, eine alte Dame steht verwirrt da, während ihre Tochter in ihr Handy schnauzt, harte Männer im Kampfanzug strömen aus den U-Bahn-Wagen, andere zwängen sich hinein. Es kommt einem vor, als wäre Krieg. Was ja der Fall ist.
Wir steigen am Arsenal aus, dem alten Zeughaus der Stadt und gleichzeitig dem tiefstgelegenen U-Bahnhof der Welt. Er ist in den Felsen hineingebaut, der Kyjiw zu einer natürlichen Zitadelle macht. Hier wurde vor tausend Jahren das Reich der Rus gegründet. Moskau war nur ein Ableger, ist es bis heute und wird es immer sein. Als wir aussteigen, trifft uns eine Flut menschlichen Elends. Es fühlt sich an, als würden wir einen U-Bahnsteig im London des Jahres 1940 entlanggehen, mitten im Blitzkrieg. Im Februar 2022 verstecken sich die Menschen vor russischen Bomben. Ein altes Paar schläft tief und fest. Eine alte Frau sitzt umgeben von Einkaufstüten mit ihren Habseligkeiten da; die Muskeln in ihrem Gesicht zucken unkontrolliert. Zwei niedliche Kinder starren auf das Display ihres Smartphones, auf dem ein Film läuft. Ein alberner Hund sitzt zu ihren Füßen.
Verflucht, Wladimir Putin.
Wir gelangen mit der Rolltreppe nach oben und gehen am Westufer des Dnipro Richtung Norden. Angeblich steht irgendwo da vorne die russische Armee. Ich muss haltmachen, um mit Jeremy Vine für seine Sendung auf BBC Radio Two zu sprechen. Er ist ländliches Mittelschicht-England, aber das ist gut, er erreicht die ganz normalen Leute. Oz bleibt nicht stehen. An diesem Tag werde ich ihn nicht wiedersehen. Im Weitergehen filme ich mich selbst und im Hintergrund ein paar ukrainische Soldaten, die am Triumphbogen für die russisch-ukrainische Freundschaft herumlungern – keine Ironie, Leute. Ein Soldat brüllt mich an, ich solle aufhören zu filmen. Ich nehme die Kamera runter, gehe hundert Meter weiter und filme weiter.
Sweeney, du Idiot.
Ein junger Ukrainer mit Gewehr fängt an, mich auf Russisch anzubrüllen. Die Mehrheit der Stadtbevölkerung spricht russisch. Er ist nicht komplett im Tarnanzug, sondern trägt einfache grüne Hosen. Andere Typen schwenken ihre Gewehre eher so allgemein in meine Richtung.
Herr Grünhose verlangt mein Handy, er will sehen, was ich gefilmt habe.
„Sehe ich aus wie ein russischer Spion?“ Ich trage eine orangefarbene Strickmütze und einen kamelhaarfarbenen Dufflecoat, wie ihn Trevor Howard anhatte, als er in dem Film Der dritte Mann den Major Calloway spielte, darunter ein braunes Cordjackett mit Flicken auf den Ellenbogen. Ich sehe aus wie ein arbeitsloser Erdkundelehrer aus Dorking.
Er verlangt trotzdem mein Handy.
Völlig bescheuert. „Sehe ich aus wie ein russischer Spion?“, brülle ich noch mal – und ich kann ziemlich laut brüllen. Sollten Sie das nicht glauben, fragen Sie mal jemanden von Scientology.
Inzwischen werden die Gewehre nicht mehr allgemein in meine Richtung geschwenkt, sondern zielen auf mich.
Ich händige mein Handy, meinen Pass und meinen Presseausweis aus. Sie nehmen mich mit in ihre Basis, ich halte die Hände über dem Kopf. Eine Stahltür schließt sich hinter mir. Niemand hat gesehen, wie ich reingegangen bin, niemand hat meine Festnahme mitbekommen. Ich bin in Schwierigkeiten.
Wir befinden uns in einem Pumpwerk, das halb Kyjiw mit Trinkwasser versorgt. Es riecht nach gut geölten alten Maschinen.
Jemand ruft beim ukrainischen Inlandsgeheimdienst SBU an – Sluschba bespeky Ukrajiny. Ich sage immer wieder, schaut euch doch meinen Twitter-Account an!
Grünhose holt seinen Kommandanten und dessen Stellvertreter. Die beiden sind echtes Militär und tragen die komplette Uniform der ukrainischen Armee. Der Chef ist ein großer Mann, größer als ich, und ich bin nicht gerade winzig. Der Stellvertreter ist kleiner, aber gerissen. Mit einer Mischung aus Amüsement und Ironie schaut er mich an. Ich vermute, ihm ist klar, dass ich keine Bedrohung darstelle. Die beiden erinnern mich an Captain Mainwaring und Sergeant Wilson aus der britischen Kriegs-Sitcom Dad’s Army. Aber der Chef sieht mich grimmig an und sagt: „Russki schpion.“ Ich habe in der Schule Russisch gelernt und fast alles vergessen, aber so viel verstehe ich noch: „Russischer Spion“. Da setze ich mich hin und bekomme einen Lachanfall.
Der russische Spion scheint sich nicht angemessen zu fürchten. Die Stimmung verändert sich. Grünhose googelt mich und findet endlich mein Twitter-Profilbild, auf dem ich Putin persönlich herausfordere. Nachdem im Juli 2014 eine russische BUK-Rakete, von Separatisten in der Ostukraine abgefeuert, alle Passagiere an Bord des Flugs MH17 der Malaysia Airlines getötet hatte, konnte ich den russischen Präsidenten in Sibirien stellen und ihn auf den Mordanschlag ansprechen.
Grünhose findet auch das Foto aus dem Jahr 2013, auf dem Donald Trump vor mir steht und mir die Hand geben will, um zu signalisieren, dass unser Interview beendet ist. Ich sitze noch da, die Hand erhoben. Meine Frage lautete: „Mr. Trump, warum haben Sie Beton von Fat Tony Salerno gekauft?“
Schon möglich, dass einer der beiden Männer auf diesem Foto ein russischer Spion ist, aber sicher nicht ich.
Eine Omi erscheint und bringt dem Häftling eine Tasse Tee. Grünhose wird mein Held. Er stellt sich als Vlad Demchenko vor, ein netter, kluger Filmemacher, der 2014 eine Dokumentation über die Kämpfe um den Flughafen von Donezk gedreht hat. In einem früheren Leben, vor dem Krieg, war er viel auf Reisen. Wie man das so macht. Er spricht ziemlich gut Englisch, und wir verstehen uns auch gut, aber nun haben sie ja den SBU angerufen, also stecke ich in den Mühlen der Militärbürokratie fest und muss versuchen, mich von dem schlimmstmöglichen Verdacht zu befreien. Es ist, als würde man von bewaffneten Leuten in einer fremden Sprache beschuldigt, ein Verräter zu sein, und müsste sich...
Erscheint lt. Verlag | 21.7.2022 |
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Übersetzer | Ulrike Strerath-Bolz, Karl Heinz Siber, Bernhard Schmid, Monika Köpfer, Stefanie Römer, Larissa Rabe |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Killer in the Kremlin |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2022 • Alexei Nawalny • Atomkrieg • Bucha • Catherine Belton • Diplomatie • Donbas • Donbass • eBooks • fsb • Gas • Gaslieferung • KGB • Kiev • Kiew • Krieg • Kriegsverbrechen • mariupol • Masha Gessen • NATO • Nato-Osterweiterung • Neuerscheinung • Öl • putin biografie • Reportage • Russland • Russlandexperte • Selenskyi • Sowjetunion • Stasi • Tschetschenien • Ukraine • Ukrainekonflikt • Ukraine-Konflikt • Ukrainekrieg • Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-641-30183-1 / 3641301831 |
ISBN-13 | 978-3-641-30183-5 / 9783641301835 |
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