Patriarchale Belastungsstörung (eBook)

Geschlecht, Klasse und Psyche
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
384 Seiten
Haymon (Verlag)
978-3-7099-3989-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Patriarchale Belastungsstörung -  Beatrice Frasl
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Patriarchat und mentale Gesundheit: Beatrice Frasl wühlt tief in den Eingeweiden unseres 'kranken' Gesundheitssystems. Psychische Gesundheit ist politisch In Ländern wie Deutschland und Österreich können wir uns auf eine medizinische Notversorgung verlassen. Gibt es einen Unfall, wird ein Rettungswagen gerufen, Patient*innen werden in ein Krankenhaus gebracht und schnellstmöglich versorgt. Selbstverständlich, oder? Immerhin wäre es für uns unvorstellbar, mit einem Knochenbruch wieder nach Hause geschickt zu werden, einschließlich einer Wartefrist von sechs Wochen. Bis ein Behandlungsplatz zur Verfügung steht. In etwa so gestaltet sich jedoch die Situation im Bereich der psychischen Erkrankungen. Denn: Unser Gesundheitssystem schreibt, als Teil unseres Gesellschaftssystems, Ungleichheiten fort. Sozialer und ökonomischer Background, kulturelle Rahmenbedingungen und der neoliberale Leistungsgedanke bestimmen, wer gesund ist und wer nicht, wer krank sein darf und letztendlich auch: wem Behandlungsmöglichkeiten offenstehen und wem diese verwehrt bleiben. Ungleichheit in der psychischen Krankenversorgung geht uns alle etwas an! Du fragst dich, was Geschlecht und die Versorgung psychischer Erkrankungen gemeinsam haben? Was das Patriarchat mit der Diagnose von Krankheiten zu tun hat? Spoiler-Alarm: sehr viel! Der Grund, warum Frauen so viel häufiger von Depressionen und Angsterkrankungen betroffen sind als Männer, warum Männer jedoch weniger oft Ärzt*innen aufsuchen und sich behandeln lassen, liegt u. a. in den stereotypischen Vorstellungen und Rollenbildern, die wir im Laufe unseres Aufwachsens erlernt haben. Und: Frausein im Patriarchat bedeutet Gefährdung auf vielen Ebenen. Der Mangel an ökonomischer Sicherheit, die körperliche und psychische Gewalt, denen Frauen sehr viel häufiger ausgeliefert sind, und die Doppelbelastung, die durch Arbeit und Care-Arbeit auf den Schultern von Frauen lastet, sind zusätzliche Gründe dafür, warum weibliche Personen zur Risikogruppe zählen und durch unzureichende Krankenversorgung abermals benachteiligt sind. Stigmatisierung und Tabuisierung: Wie können wir mit psychischen Erkrankungen umgehen? Dass die psychische Krankenversorgung keine Selbstverständlichkeit ist, hängt eng mit der Pathologisierung bestimmter menschlicher Empfindungen zusammen, die nicht in das kapitalistische System passen. Besonders Frauen, ihre Körper und ihre Wahrnehmungen sind und waren schon immer ein Instrument zur Ausübung patriarchaler Kontrolle. Geschlechterrollen, der 'Diagnose Gap' und gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse - Beatrice Frasl zeigt in diesem Buch: Das Sprechen über psychische Gesundheit ist ein feministischer Akt, ein Akt, der uns allen die Macht über uns selbst zurückgeben kann.

Beatrice Frasl ist Kulturwissenschaftlerin/Geschlechterforscherin, Podcasterin, Kolumnistin und immer: Feministin. In ihren Arbeiten setzt sie sich seit Jahren mit den Leerstellen im Gesundheitssystem, psychischen Erkrankungen und Feminismus auseinander. In ihrem Podcast 'Große Töchter' bearbeitet sie geschlechterspezifische, gesellschaftspolitische Fragen. Als @fraufrasl betreibt sie auf Social Media Aufklärung zum Thema psychische Gesundheit und Feminismus. Ihr Ziel? Ein besserer Zugang zu Therapie für alle und: das endgültige Aus für das Patriarchat.

Beatrice Frasl ist Kulturwissenschaftlerin/Geschlechterforscherin, Podcasterin, Kolumnistin und immer: Feministin. In ihren Arbeiten setzt sie sich seit Jahren mit den Leerstellen im Gesundheitssystem, psychischen Erkrankungen und Feminismus auseinander. In ihrem Podcast "Große Töchter" bearbeitet sie geschlechterspezifische, gesellschaftspolitische Fragen. Als @fraufrasl betreibt sie auf Social Media Aufklärung zum Thema psychische Gesundheit und Feminismus. Ihr Ziel? Ein besserer Zugang zu Therapie für alle und: das endgültige Aus für das Patriarchat.

Vorwort: Wir sind alle Betroffene. Aber manche sind betroffener.


Liebe Leserin,

dieses Buch handelt von dir.

Das verwundert dich möglicherweise, schließlich weiß ich, die Autorin dieses Buches, nichts über dich (abgesehen von den Freundinnen und Familienmitgliedern, die dieses Buch lesen – herzliches Hallo an dieser Stelle).

Eine Sache weiß ich aber mit Sicherheit, auch wenn ich dich nicht kenne: Du bist vom Thema psychische Gesundheit und Krankheit sowie der Zugänglichkeit von Behandlung (oder eben der Nicht-Zugänglichkeit) und der Niederschwelligkeit unseres Gesundheitssystems (oder eben den vielen Hürden) betroffen.

Auch das verwundert dich möglicherweise: Vielleicht denkst du jetzt: Ich bin aber doch psychisch gesund? Ich brauche weder Therapie noch Psychopharmaka, ich habe dieses Buch in die Hand genommen, um mich über dieses Thema zu informieren, nicht um etwas über mich und meine Situation zu erfahren.

Es tut mir leid, werte Leserin, dass ich dich nun schon zu Beginn dieses Buches enttäuschen muss (Enttäuschungen werden vermutlich im Zuge des Lesens noch einige folgen): Tatsächlich geht es in diesem Buch um dich und deine Situation. Die deiner Familienmitglieder, deiner Kolleginnen, deiner Freundinnen.

Wir sind nämlich alle Betroffene.

Wenn es um psychische Gesundheit und Krankheit geht, tun wir oft und gerne so, als ginge uns das alles nichts an. Als wären Menschen mit psychischen Erkrankungen Outlaws, als würden sie außerhalb der Gesellschaft stehen, weit weg von uns. Das ist uns in der Regel auch recht, denn mit „Geisteskranken“, mit „Verrückten“, mit „Irren“ möchte man ohnehin lieber nichts zu tun haben.

Psychisch Kranke sind im Wortsinn marginalisiert. Das lateinische „margo“ bedeutet Rand. Psychisch Kranke werden an diesen Rand und über den Rand hinausgeschoben. Sie kommen in der öffentlichen Debatte selten als Sprechende vor. Es wird über sie gesprochen, sie reden aber nicht mit. Psychische Erkrankung wird aus dem Blickfeld geschafft – sogar physisch, so doch Psychiatrien historisch oftmals am Rande von Städten gebaut wurden.

Unser Umgang mit körperlichen Erkrankungen und jenen, die sie haben, unterscheidet sich frappant von unserem Umgang mit psychischen Erkrankungen und psychisch Erkrankten. Im Fall von körperlicher Gesundheit und Krankheit ist uns in der Regel bewusst, dass niemand von uns jemals in vollkommener Gesundheit leben wird. Wir alle haben unsere chronischen Wehwehchen, von Allergien über Skoliose bis hin zu Diabetes. Wir alle wissen auch, dass wir an einer Grippe erkranken können, an einer Angina oder einer Durchfallerkrankung. Wir alle wissen, jede von uns kann auch schwer erkranken, sogar tödlich. Gerade in Zeiten wie diesen, inmitten einer Pandemie, wird uns unsere Vulnerabilität täglich eindrücklich vor Augen geführt. Nicht alle sind im selben Maß vulnerabel, aber niemand ist frei von der Gefahr zu erkranken. Wir wissen, dass wir aufgrund dessen alle davon betroffen sind, wie unser Gesundheitssystem aufgestellt ist. Dass wir Vorsorge und Versorgung brauchen – präventive und kurative Unterstützung durch Professionalistinnen.

Bei psychischen Erkrankungen machen wir uns gerne vor, dass wir nichts mit ihnen zu tun haben. Dabei verhält es sich sehr ähnlich wie bei körperlichen Erkrankungen: Wir alle haben unsere Belastungen, die manchmal auch Behandlung benötigen, damit sie sich nicht chronifizieren. Wir alle haben unsere genetischen und biologischen Prädispositionen – sind für Beschwerden verschieden anfällig.

Psychische Gesundheit und Krankheit ist genauso wie körperliche ein Spektrum. Psychisch Erkrankte sind keine „Wesen von einem anderen Stern“. Im Gegenteil, sie sind „zutiefst menschlich“.i Ihre Krisen und Krisenhaftigkeit – eigentlich also: unsere Krisen und Krisenhaftigkeit – sind Erfahrungen, von denen sich niemand abgrenzen kann, da sie zutiefst menschliche Erfahrungen sind, wenn sie auch in unterschiedlicher Ausprägung und in unterschiedlichem Schweregrad gemacht werden.

Die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit sind fließend. Die Grenzen zwischen Krise und Krankheit sind fließend. Es gibt nicht die Betroffenen auf der einen und die Nicht-Betroffenen auf der anderen Seite. Wir sind alle Betroffene. Es gibt nicht die Gesunden auf der einen und die Kranken auf der anderen Seite. Wenn es beispielsweise nicht genügend Psychotherapieplätze auf Krankenschein gibt, bedeutet das, dass wir – ich, du, deine Mutter, dein Bruder, deine Freundin – möglicherweise diesen einen Therapieplatz nicht bekommen, wenn wir ihn brauchen.

Schlechte Gesundheitsversorgung in Sachen Psyche betrifft uns also ausnahmslos alle. Aber sie betrifft uns nicht alle im gleichen Ausmaß – soziale und ökonomische Ungleichheiten und patriarchale Geschlechterverhältnisse bringen einen äußerst ungleichen Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen und ein äußerst ungleich verteiltes Erkrankungsrisiko hervor.

Im Jahr 2017 – also noch bevor die Covid-Pandemie den psychischen Gesundheitszustand vieler signifikant verschlechterte – wurde die Zahl derer, die weltweit an psychischen und Suchterkrankungen litten, von der WHO mit 970 Millionen beziffert. Menschen mit niedrigerem sozioökonomischem Status waren weltweit stärker betroffen, Frauen ebenso. Von den genannten 970 Millionen entfielen 264 Millionen an Depressionen, 284 Millionen an Angsterkrankungen. 2019 wurde die Zahl der Personen mit Depressionen wesentlich höher als 2017, nämlich mit 322 Millionen weltweit beziffert.ii

In den zehn Jahren vor 2017 stiegen psychische Erkrankungen weltweit um 13 Prozent. Im Jahr 2006 – also sowohl vor diesem Anstieg als auch vor der Corona-Pandemie – errechnete die TU Dresden in einer Meta-Analyse von 27 Studien zum Thema die Wahrscheinlichkeit von Europäerinnen, im Laufe ihres Lebens an einer psychischen Erkrankung zu erkranken. Sie lag zu jenem Zeitpunkt bei 50 Prozent. Am häufigsten treten „Angststörungen [auf ], an die sich im weiteren Verlauf oft somatoforme, Sucht- und depressive Erkrankungen anschließen.“iii Jedes Jahr versterben innerhalb der Europäischen Union 58.000 Menschen durch Suizid. Das sind mehr Tote als durch Morde und Verkehrsunfälle zusammen. In der Altersgruppe der 15–29-Jährigen ist Suizid mittlerweile die zweithäufigste Todesursache. Suizid und Suizidalität entstehen oft in Zusammenhang und als Symptom von psychischen Erkrankungen. Wir haben es also schon lange mit einer ganz anderen Art der Pandemie zu tun: mit einer Pandemie psychischer Erkrankungen.iv Und diese Pandemie ist eng mit sozioökonomischen und Geschlechterverhältnissen verwoben.

Ob du im Laufe deines Lebens an einer Angststörung oder einer Depression erkrankst, Schlafstörungen entwickelst, hängt in hohem Maße davon ab, ob du ein Mann oder eine Frau bist. Und davon, in welchen sozioökonomischen Verhältnissen du lebst.

Wir sind alle betroffen. Wir sind allerdings nicht alle gleich betroffen.

Du vermutest nun vielleicht, dass diese Zahlen politische Verantwortungsträger in aller Welt bereits in Alarm versetzt haben, dass das Ausmaß und die Dringlichkeit des Problems dazu führen, dass Budgets aufgestockt werden, um bessere Gesundheitsversorgung bereitzustellen, dass in Forschung investiert wird, die die Ursachen für psychische Erkrankungen untersucht und neue Behandlungsmethoden entwickelt. Dass in vielen Gesellschaften der Welt breit diskutiert wird, woran Menschen erkranken und wie Systeme umgebaut werden können, damit sie das nicht mehr oder nicht mehr in diesem Ausmaß tun.

Ich muss dich leider – erneut – enttäuschen und dir eine ernüchternde Zahl präsentieren: zwei Prozent, denn „der weltweite Durchschnitt der staatlichen Gesundheitsausgaben für psychische Gesundheit beträgt weniger als 2 %.“v Selbst im reichen Mitteleuropa, in dem ich dieses Buch schreibe, ist die Versorgung nicht gut und nicht ausreichend: „Nur selten [werden] psychische Störungen früh erkannt und adäquat behandelt. 26 Prozent der Betroffenen [erhalten] eine unspezifische und noch weniger eine adäquate Behandlung.“vi

Die Kosten, die innerhalb der Europäischen Union durch psychische Erkrankungen entstehen, werden auf etwa 300 Milliarden Euro im Jahr geschätzt, 132 Milliarden davon entfallen allerdings auf indirekte Kosten in Form von Krankenständen, frühzeitigen Ruheständen, vorzeitiger Sterblichkeit und Arbeitsunfähigkeit. Nur 110 Milliarden Euro fließen in die Behandlung von Patientinnen in Form von Hospitalisierungen und Hausbesuchen. Die Ausgaben, die durch mangelnde, zu späte oder zu schlechte Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen entstehen, sind also höher als der Betrag, der in diese Behandlung gesteckt wird. Falls du an der Stelle noch nicht umfassend frustriert bist, hier noch eine Zahl: Von den genannten 300 Milliarden Euro entfallen vier Prozent auf medikamentöse Behandlung, für Psychotherapie wird weniger als ein Prozent ausgegeben.vii

Der größte Anteil entfällt also auf indirekte Kosten, die auch durch zu späte oder gar keine Behandlung entstehen, wie...

Erscheint lt. Verlag 15.11.2022
Verlagsort Innsbruck
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Depression • Diagnosen • Feminismus • Femme fatale • Femme fragile • Geschlechterrollen • Gesundheitssystem • Hysterie • Kapitalismus • Klasse • Krankenversorgung • Leistungsgesellschaft • mentale Gesundheit • ökomische Faktoren • Patriarchat • Psyche • Psychoanalyse • Psychotheraphie • Soziokulturell • Therapiezugang • Ungleichheit
ISBN-10 3-7099-3989-5 / 3709939895
ISBN-13 978-3-7099-3989-5 / 9783709939895
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