Antiqueere Rhetorik (eBook)

Wie die Bolsonaros in Brasilien ein Feindbild LGBTIQ* konstruieren
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
436 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45204-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Antiqueere Rhetorik -  Dinah K. Leschzyk
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Copacabana, Karneval in Rio, Urlaub unter Palmen? Jenseits der gängigen Bilder beleuchtet das Buch eine dunkle und eher unbekannte Seite von Brasilien: die Diskriminierung von LGBTIQ* - von höchster politischer Stelle befördert. Der ab 2019 amtierende brasilianische Präsident Jair Bolsonaro und seine politisch aktiven Söhne sind für ihre ausfallende Rhetorik bekannt. Sprachrohr sind die sozialen Medien. Die Analyse von knapp 37.000 Tweets, 72 Blogbeiträgen und 139 Kongressreden verdeutlicht, mit welchen Strategien die Politiker LGBTIQ* zum Feindbild stilisieren. Anhand von Tweets, Blog-Kommentaren und YouTube-Kommentaren zu Kongressreden analysiert das Buch zudem, wie User:innen diese verbalen Angriffe aufnehmen.

Dinah K. Leschzyk, Dr.in habil., forscht und lehrt zu Risiko- und Krisenkommunikation, Diskursanalyse, politischer Kommunikation, Online-Kommunikation sowie Diversität, Diskriminierung und Vertrauen.

Dinah K. Leschzyk, Dr.in habil., forscht und lehrt zu Risiko- und Krisenkommunikation, Diskursanalyse, politischer Kommunikation, Online-Kommunikation sowie Diversität, Diskriminierung und Vertrauen.

1.Einleitung


Am 1. Januar 2019 trat Jair Messias Bolsonaro das Amt als 38. Präsident Brasiliens an. Dies alarmierte insofern als sich der Politiker stets als zynischer Gegner von Gleichstellung und Antidiskriminierung präsentiert hatte. Extreme Aussagen wie etwa die, dass es ihm lieber wäre, einer seiner Söhne sterbe bei einem Unfall, als dass er sich als schwul oute, zeigen, welchen rhetorischen Stil Bolsonaro pflegt. Die Presse nimmt derart provokative Worte gerne auf und reproduziert sie ins Unendliche, erfüllen sie doch alle aufmerksamkeitsökonomischen Kriterien. Gleichzeitig bezeichnet Bolsonaro sich selbst ausdrücklich als »nicht-homophob« und liefert regelmäßig exemplarisches Bildmaterial, das ihn mit vermeintlich schwulen Freunden zeigt, um seine Selbstbeschreibung zu untermauern.

Zwischen diesen Extremen lassen sich vielfältige verbale Grautöne ausmachen, die von der grundsätzlichen Ablehnung sexualpädagogischen Unterrichts, der sexuelle Diversität einbezieht, über Leugnung und Relativierung von Diskriminierung bis hin zu der Behauptung, Gleichstellungsmaßnahmen seien Privilegien, reichen. Jair Bolsonaro und seine politisch aktiven Söhne – Flávio, Carlos und Eduardo Nantes Bolsonaro – zeichnen ein vielschichtig negatives Bild, wenn es um sexuelle Orientierungen und Genderidentitäten geht, die binären und heteronormativen Vorstellungen nicht entsprechen. Da wiederholt explizit feindliche Äußerungen zusammen mit implizit negativen Stereotypen auftreten, die tiefer gehen als die vereinzelten Extremäußerungen, die unaufhörlich geechot werden, lässt sich die These aufstellen, dass die Bolsonaros mit einem Feindbild LGBTIQ*2 operieren.

Ein Feindbild3 bezieht sich auf eine als gegnerisch perzipierte Gruppe (vgl. Pörksen 2005: 51), die einerseits greifbar sein muss, gleichzeitig »aber auch nicht zu greifbar sein« darf (Adorno 2018 [1950]: 108), und andererseits auf einer gewissen Tradition mit »wohlbekannten Stereotypen« beruht (ebd.), sodass eine historische Komponente zum Tragen kommt. Feindbilder werden deindividualisiert und mit ausschließlich negativen Prädikationen und Referenzen versehen (vgl. Spillmann/‌Spillmann 1989: 3). Sie werden mit dem Bösen gleichgesetzt, ihnen wird grundsätzlich misstraut und keinerlei Empathie entgegengebracht (ebd.).

Die Ausgangsfrage der vorliegenden Studie lautet: Welche diskursiven Strategien und rhetorischen Techniken wenden die Bolsonaros im Rahmen ihrer Feindbildkonstruktion an? Rhetorik wird in dieser Arbeit in aristotelischer Lesart verstanden als Fähigkeit, »das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt«, zu erkennen (Aristoteles 2019 [4. Jhd. v. Chr.]: 12) Es handelt sich folglich um den, wie es Jens Runkehl (2019: 547) im Handbuch Politische Rhetorik formuliert, »kompetente[n] Gebrauch sprachlicher Mittel zum Zweck der Meinungs- und Handlungsbeeinflussung/-lenkung […].« Dabei bilden redetechnische Überzeugungsmittel den Bestandteil von Rhetorik, der »auf Grund einer Methode durch uns selbst geschaffen werden kann […].« (Aristoteles 2019 [4. Jhd. v. Chr.]: 12) Überzeugungsmittel definiert Aristoteles (2019 [4. Jhd. v. Chr.]: 9, 1355a) als »eine Art von Beweis«. Demnach seien »wir am meisten überzeugt, wenn wir annehmen, etwas sei bewiesen […].« Durch redetechnische Überzeugungsmittel werde entsprechend etwas nachgewiesen, »oder zumindest de[r] Anschein erweckt, etwas nachzuweisen.« (Aristoteles 2019 [4. Jhd. v. Chr.]: 12, 1355b) Diese Mittel müssen Aristoteles zu Folge von den Redner:innen erst gefunden werden. Teil dieser redetechnischen Überzeugungsmittel sind Argumente und Argumentationsmuster. Diese umfassen neben

»[…] explizite[n], nach den Standards guten oder richtigen Argumentierens überzeugende[n] Argumente[n] […] auch in Aussagen implizit enthaltene und also durch die Analyse erst interpretativ zu erschließende Muster, die argumentative Wirkungen entfalten, ohne daß der Sprecher/‌Schreiber ›sauber‹ argumentiert hat. Auch unvollständige Realisierungen vollständiger Argumentationsmuster sind nämlich wirkungsvoll oder überzeugungskräftig, weil die vollständige Argumentation vom Sprecher stillschweigend mitgemeint und vom Rezipienten mitgedacht wird.« (Jung/‌Wengeler 1999: 153)

Die Argumentationsanalyse beinhaltet die Bestimmung rhetorischer Topoi. Ein Topos ist ein »Sachverhaltszusammenhang, der zur argumentativen Begründung konkreter zur Diskussion stehender Positionen herangezogen wird.« (Jung/‌Wengeler 1999: 154) Für die vorliegende Untersuchung ist der Topos der Gefahr zentral: Immer wieder werden LGBTIQ* als »Gefahr« für Kinder und für die Familie dargestellt. Die so konstruierte Bedrohung erfüllt in Argumentationen dann die Funktion der Begründung von Exklusion und anderen Formen der Diskriminierung.

Auf erkenntnistheoretischer Ebene setzt die vorliegende Arbeit an konstruktivistischen Überlegungen an. In dieser Perspektive gibt es nicht »die« Wahrheit, vielmehr wird Wissen konstruiert. Das, was als »Fakten« unumstößlich erscheint, wird als gewordenes Wissen betrachtet, Wissen also, das im Laufe der Zeit durch gesellschaftliche Aushandlungsprozesse entstanden ist (vgl. Spitzmüller/‌Warnke 2011: 46). Diese Prozesse finden innerhalb der jeweiligen Diskursgemeinschaften statt, die aushandeln, was für sie zu einer bestimmten Zeit als »wahr« gilt. Dass Konzepte gesellschaftlich konstruiert und damit veränderbar und folglich temporär sind, wird bei Gender-Themen besonders deutlich: Als »real« proklamierte, »natürliche« Tatsachen werden hier neu verhandelt. Es finden diskursive Verschiebungen statt, und gesellschaftliche »Gegebenheiten« ändern sich. Das zeigt zum Beispiel der Beschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017, neben männlich und weiblich einen weiteren positiven Geschlechtseintrag im Personenstandsrecht einzuführen (vgl. BVerfG 2017). Was Geschlecht dabei so brisant macht, ist das der Kategorie innewohnende Potenzial zur Destabilisierung der Machtordnung, wie Christine Hauskeller (2018: 744) unter Bezug auf Judith Butlers wegweisendes Werk Das Unbehagen der Geschlechter (1991) feststellt: »Butlers Rekonstruktion folgend ist ›Geschlecht‹ eine performative Alltagspraxis, die Machtordnungen stabilisieren oder in Unordnung bringen kann.« (Hauskeller 2018: 744) Im antiqueeren Diskurs spielen Fragen nach Normalität und Faktizität eine besondere Rolle. Hierzu gehören zum Beispiel die Darstellung von Sachverhalten als selbstverständlich und die Frage danach, welches Wissen bei den Rezipient:innen (ggf. auch nur vorgeblich) vorausgesetzt wird. Dabei lässt sich feststellen, dass »Anti-Gender-Akteur*innen [im Kern] definieren [wollen], was richtiges und was falsches, was wichtiges oder unwichtiges Wissen ist.« (Schutzbach u. a. 2018: 18) Überlegungen zur Verschiebung von Sagbarkeitsgrenzen finden hier ihren Ausgangspunkt.

Die Studie zeigt, mittels welcher diskursiven Strategien die Bolsonaros LGBTIQ* ausgrenzen, wie sie Konzepte diskriminierend auslegen, etwa Familie und Ehe, und welche spezifisch antiqueeren Begriffsprägungen sie vornehmen. Begleitet wird diese Analyse von der Frage nach den aufgerufenen Stereotypen, auf die rekurriert wird und die sich für die Anti-LGBTIQ*-Kampagne der Bolsonaros als anschlussfähig erweisen. Eingebettet ist die vorgenommene Untersuchung in die Queer Theory, wie Kapitel ‎2 zeigt, in dem eine Queer perspektivierte Feindbildanalyse als theoretische Rahmung entworfen wird. Erläutert wird hier das Phänomen der antiqueeren Diskriminierung sowie die damit verbundenen zentralen Begriffe. Ausgehend von Binarität und Heteronormativität sowie dem mit diesen Konzepten einhergehenden sprachlichen Ausschluss werden drei Kampfbegriffe vorgestellt, die im antiqueeren Diskurs musterhaft verwendet werden. Ausdrücke also, denen unterstellt werden kann, zur Instrumentalisierung für partikulare Interessen verwendet zu werden (vgl. Nullmeier 2009: 9). Wie Frank Nullmeier weiter ausführt, werden diese Zwecke »im Begriff selbst verdeckt und verborgen.« Im Kontext der untersuchten Feindbildkonstruktion handelt es sich dabei um politische Korrektheit, Genderideologie und Frühsexualisierung. Diese sind in antiqueeren Argumentationen omnipräsent und bilden vielfach die Prämissen von Argumentationen. Ihre...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2022
Reihe/Serie Interaktiva, Schriftenreihe des Zentrums für Medien und Interaktivität, Gießen
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Kommunikation / Medien
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bolsonaro • LGBTIQ • Queer • Social Media • Twitter
ISBN-10 3-593-45204-9 / 3593452049
ISBN-13 978-3-593-45204-3 / 9783593452043
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