Putins Armee der Trolle (eBook)
400 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-30023-4 (ISBN)
Die finnische Journalistin Jessikka Aro (geb. 1980) begann im September 2014 ihre Recherche zu pro-russischen Internettrollen. Prompt fand sie sich selbst in ihrem Kreuzfeuer wieder, wurde mit dem Tod bedroht und musste ihr Heimatland verlassen. Im Dezember 2020 wurde Jessikka mit dem renommierten Courage in Journalism-Preis ausgezeichnet, der in Kooperation mit der Washington Post und CNN verliehen wird, 2016 erhielt sie den Bonnier-Preis für Journalismus. Ihre Verdienste rund um die Offenlegung der Informationsschlachten des Kremls im Internet haben weltweit Beachtung gefunden. Putins Armee der Trolle ist ihr erstes Buch.
2. Der Diplomat
Drei Jahre nachdem der litauische Diplomat Renatas Juška 2013 seinen Posten als Botschafter in Ungarn verloren hatte, verliefen die polizeilichen Ermittlungen um den rechtswidrigen Lauschangriff auf von ihm in seiner Zeit als Botschafter geführte Telefonate im Sand.
Noch nicht einmal digitale Forensiker hatten eine Antwort auf die brisante Frage: Wer hatte heimlich die Gespräche zwischen Juška und einem Kollegen in Wilna belauscht, aufgezeichnet und die Aufnahmen dann manipuliert auf YouTube eingestellt? Mit Sicherheit war es nicht »Zydrunas Gerintas«, der die Videos hochgeladen haben will. Zydrunas Gerintas mag sich nach einem litauischen Namen anhören, aber außerhalb des Internets scheint er schlicht nicht zu existieren.
Den Ermittlungen der litauischen Polizei zufolge hatte jemand die Bänder über ein Mobilgerät von einer nicht zu identifizierenden IP-Adresse aus hochgeladen. Man hatte sich mehrmals an YouTube mit der Bitte um nähere Informationen gewandt, aber das Unternehmen hatte nicht reagiert.
Die Forensiker durchkämmten die Dateien mit einer speziellen Software und arbeiteten ein dumpfes Geräusch zu Beginn eines der Anrufe heraus, das sie als »das Ein- oder Ausschalten eines Geräts« interpretierten. Die technische Untersuchung bestätigte, was Juška seit Beginn des Skandals im Sommer 2013 immer wieder beteuert hatte: Die Aufnahmen seien aus mehreren Telefonaten mit einem Kollegen zusammengeschnitten. Auf YouTube jedoch hatte man die Schnipsel als einen zusammenhängenden Anruf dargestellt.
Mit sensationsheischenden englischen Schlagzeilen und Untertiteln versehen, richteten die Videos sich eindeutig an ein internationales Publikum. Sie stellten den Botschafter als undiplomatisch und leichtfertig dar und damit als ungeeignet für eine so verantwortungsvolle Position. Gleichzeitig lud man noch zwei weitere Telefonate auf YouTube hoch. Bei diesen handelte es sich um Aufzeichnungen von Telefonaten des litauischen Botschafters im aserbaidschanischen Baku mit einem Kollegen in Wilna.
Juška wurde nicht zum ersten Mal das Opfer von kompromat, wie man »kompromittierendes Material« im russischen Geheimdienstjargon nennt. Er hatte die Skandale der vorangegangen sieben Jahre jedoch mit – fast – weißer Weste überstanden, weil sein Arbeitgeber, Litauens Außenministerium, öffentlich hinter ihm stand und eine schützende Hand über ihn hielt. Die manipulierten Videos allerdings, die schlampige litauische Medien als »Leaks« deklarierten, waren denn doch zu viel. Nach einem Monat Druck seitens der Öffentlichkeit und Hearings im Parlament zogen seine Vorgesetzten Juška schließlich von seinem Posten in Budapest ab und zitierten ihn nach Hause.
Man hatte Botschafter Juška jedoch nicht von ungefähr aufs Korn genommen: Er war zur Zielscheibe geworden, weil er seit jeher für die Demokratie eintrat.
***
Renatas Juška, Streiter für Menschenrechte und Visionär, hatte Geschichte studiert. Seine berufliche Laufbahn begann 1995, er war gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt, beim litauischen Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Erst fünf Jahre zuvor hatte Litauen nach einer von Gewalt geprägten sowjetischen Besatzung seine Unabhängigkeit erklärt. Juškas Arbeit im Außenministerium konzentrierte sich hauptsächlich auf Litauens südöstlichen Nachbarn Belarus, eine ehemalige Sowjetrepublik, die damals – daran hat sich bis heute nichts geändert – erheblich unter russischem Einfluss stand.
Als junger Diplomat arbeitete Juška eng mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zusammen und schließlich als Berater für den litauischen Botschafter in der belarussischen Hauptstadt Minsk.
In dieser Zeit sah sich Juška erstmals mit dem Phänomen der Einschüchterung konfrontiert. In einer für den russischen Geheimdienst typischen Aktion brach jemand in seine Minsker Wohnung ein und hinterließ etwas Zigarettenasche im Ausguss seiner Küche. Weder Juška selbst noch einer seiner Angehörigen rauchte. »Ich empfand das als unangenehm«, sagte mir Juška, »akzeptierte es aber als Teil meines Jobs.«
Außerdem erlebte Juška während seiner Zeit in Belarus, wie Wahlen manipuliert wurden, um die Verlängerung der Präsidentschaft des Kreml-Protegés Alexander Lukaschenko zu garantieren. Anfangs vergewisserte man sich des Wahlsiegs durch korrupte Wahlleiter; später dann änderte man die Verfassung, was es Lukaschenko erlaubt hat, von 1994 bis heute auf unbestimmte Zeit im Amt zu bleiben.
Im Fernsehen allgegenwärtig, präsentierte Lukaschenko sich Belarus als einzige Option. Darüber hinaus sparte er nicht mit Spott gegenüber Westeuropa und den Vereinigten Staaten. Bereits 1999 verschwanden in Belarus erste Oppositionelle – Aktivisten und Journalisten. Wer sich näher mit belarussischer Politik beschäftigte, konnte sehen, dass Lukaschenko sich – mit dem Segen Moskaus – als Diktator zu gebärden begann.
Im Gegensatz zu heute war es für westliche Diplomaten damals eher ungewöhnlich, sich in ehemaligen Sowjetrepubliken hinter Oppositionelle oder aktive Bürgerrechtler zu stellen. Lieber verschleierte man im Westen seine Unterstützung, sei es durch nichtstaatliche Organisationen (NGOs) oder Stiftungen, und ließ diese an seiner statt agieren. Litauen dagegen, wo man die sowjetischen Unterdrückungstaktiken noch in bester Erinnerung hatte, zog es als jüngst wiedergeborene Demokratie nach westlichem Muster vor, den direkten Kontakt mit prodemokratischen Aktivisten ehemaliger Sowjetstaaten zu suchen.
Nachdem Juška 2003 wieder nach Wilna zurückgekehrt war, beauftragte ihn das Außenministerium mit der Pflege der Beziehungen zu den schwachen belarussischen Oppositionsgruppen, dortigen NGOs, aber auch zu Politikern marginalisierter Parteien. Auf ihn gehen Idee und Umsetzung von Litauens Entscheidung zurück, der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität Minsk eine Zuflucht zu bieten, Belarus’ einzige unabhängige Hochschule, bis Lukaschenko sie 2004 schließen ließ. Heute arbeitet diese einzigartige Bildungseinrichtung mit Fokus auf den Geisteswissenschaften im litauischen Exil. Zahlreiche junge Belarussen studieren dort in der Hoffnung auf einen EU-konformen akademischen Grad. »Das litauische Außenministerium«, sagte Juška dazu, »war eines der ersten, wenn nicht gar überhaupt das erste, das mit der demokratischen Opposition Weißrusslands direkt in Verbindung trat. Was ein mutiger Schritt war, schließlich wussten wir alle, dass das zu zahlreichen Komplikationen führen konnte. Aber ich bin stolz darauf, bei diesen ersten Schritten mit von der Partie gewesen zu sein.«
Während Belarus sich auf internationalem Parkett unverhohlen für Doktrin und Interessen des Kremls starkmachte, herrschte bei den meisten westeuropäischen Staaten hinsichtlich ihrer Beziehungen zu Russland zu der Zeit immerhin Optimismus. Geduldig wartete man hier darauf, dass Wladimir Putin den Reformweg hin zu einer russischen Demokratie einschlagen würde. Dem Westen lag ernsthaft am Aufbau für beide Seiten vorteilhafter Beziehungen mit dem Regime des ehemaligen KGB- und FSB-Agenten, der es 2000 bis hoch zum Präsidenten der Russischen Föderation gebracht hatte.
In den ersten Jahren seiner Regierungszeit signalisierte er seine Bereitschaft zur Kooperation mit dem Westen. Offiziell war Russland strategischer Partner der Europäischen Union, und nach den Anschlägen des 11. September 2001 sagte Putin der westlichen Koalition unter Leitung der USA seine Unterstützung beim Kampf gegen den Terror des internationalen Dschihadismus zu. Zu jener Zeit wurde in der Öffentlichkeit eher selten Besorgnis über verdeckte russische Operationen oder Fake News laut. Und hätte jemand solche Ansichten mit Nachdruck vertreten, man hätte ihn glatt als Verschwörungstheoretiker abgetan.
Juška und seine Kollegen vom litauischen Außenministerium jedoch erkannten, dass Belarus nur ein Testgelände für russische Geheimdienste und politische Manipulatoren war. Falls es Putin gelang, Belarus vom Informationsaustausch und den Werten des Westens abzukoppeln, könnte der Kreml ähnliche Techniken auch innerhalb der eigenen Grenzen anwenden und schließlich auch darüber hinaus.
***
Kaum fünfzig Kilometer von der litauischen Hauptstadt Wilna entfernt verletzte man die Menschenrechte belarussischer Bürger; mit der Demokratie von Belarus ging es bergab. Juška verfolgte die Entwicklung mit Sorge. Er reagierte unter anderem damit, die demokratischen Aktivisten der Region zusammenzubringen, darunter auch Jugendbewegungen wie die georgische Kmara! (Genug!), den Ukrainischen Ersten Maidan und Serbiens Otpor! (Widerstand!). Sein Team half den Belarussen mit Kontakten zu Geldgebern aus, mit der Organisation von Meetings sowie mit Brainstorming-Kampagnen für Menschrechte und europäische Werte.
Die nächsten Präsidentschaftswahlen sollten 2006 stattfinden, und man konnte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass man sie manipulieren würde. Lukaschenkos Regime hatte ein Frühwahlsystem eingeführt, das den Wahlbetrug zum Kinderspiel machte. Mit einem starken Mandat des litauischen Außenministeriums im Rücken versuchte Juška, die schwachen Oppositionsgruppen zu stärken, die Belarus in Richtung einer modernen Demokratie nach westlichem Vorbild zu dirigieren versuchten. Er tauschte sich mit den prodemokratischen Präsidentschaftskandidaten Alexander Milinkewitsch und Alexander Kasulin aus. Da weder internationale nicht staatliche Organisationen noch westliche Geldgeber im Land tätig...
Erscheint lt. Verlag | 31.8.2022 |
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Übersetzer | Katharina Diestelmeier, Enrico Heinemann, Bernhard Schmid |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Putinin trollit / Putin’s Trolls: On the Frontlines of the Information War Against the World |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2022 • Cyberkrieg • Deepfakes • eBooks • Facebook • Instagram • Internet • Krieg • Neuerscheinung • Neuerscheinungen 2022 • Politik • Propaganda • Putin • Russland • Social Media • TikTok • Trolle • Twitter • Ukraine |
ISBN-10 | 3-641-30023-1 / 3641300231 |
ISBN-13 | 978-3-641-30023-4 / 9783641300234 |
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