Abgehängt (eBook)
Lisa Graf wird von den Kids in ihrem Klassenzimmer an ihren eigenen Bildungsweg erinnert, der alles andere als gradlinig verlief. Voller Wertschätzung für ihre Schüler:innen und wütend über unser milieugeprägtes Bildungssystem erzählt die Lehrerin von ungenutzten Chancen, unentdeckten Talenten und Herkunft als Stigma. Sie zeigt, welche Kraft junge Menschen entfalten, wenn jemand an sie glaubt, und was sich dringend ändern muss, damit Schule ein Ort wird, an dem Kinder und Jugendliche wachsen können - unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.
Lisa Graf kennt die Probleme ihrer Schüler:innen an der Haupt- und Realschule aus der eigenen Vergangenheit. 1989 als Tochter einer Krankenschwester und eines Werkzeugbauers geboren, stürzte der frühe Tod ihres Vaters sie und die Familie in eine tiefe Krise. Es folgte eine Abwärtsspirale aus immer schlechteren Zeugnissen, ungehörten Hilferufen und wachsender Scham. Nach erfolgloser Ausbildungsplatzsuche studierte sie Germanistik und Philosophie, wurde Gymnasiallehrerin und fühlte sich doch immer fremd. Seitdem sie an einer Brennpunktschule arbeitet, ist Lisa Graf angekommen - und wütend: über fehlende Chancengleichheit und die Ungerechtigkeiten unseres Bildungssystems. Davon und von ihrem Schulalltag erzählt sie auf ihrem Blog »Meine Klasse«. Mit ihrer Familie lebt sie in Mannheim.
Kapitel 1 – Erinnerungen – Chancen in der Schultüte
25 Kinder – 25 Hintergründe
Die Fünftklässler:innen ermahne ich ständig. Viele von ihnen können nicht stillsitzen und richten ihre Aufmerksamkeit auf alles, nur nicht auf meinen Unterricht. »Bleib’ doch einfach mal sitzen!«, höre ich mich dann sagen. Manchmal auch »Ist das so schwer?« oder »Was ist mit deinem Heft passiert?« Dazu zucke ich fragend mit den Schultern, schüttle den Kopf und schreibe ins Klassenbuch: »Melin schon wieder ohne Arbeitsmaterial!« Wenn die Kinder später aufgeregt brüllend mit dem Klingeln aus dem Raum stürmen und Ruhe einkehrt, meldet sich leise mein schlechtes Gewissen. Weil ich merke, dass ich wieder nur eine 25-köpfige und viel zu laute Meute gesehen habe, ohne mich zu fragen, wer Melin eigentlich beim Taschepacken unterstützt. Wer Alma bei ihren Hausaufgaben hilft. Ob Yasmir im Heim schlecht geschlafen hat. Dabei weiß ich es doch eigentlich besser.
Ich selbst war eines dieser Kinder, die mich heute als Lehrerin herausfordern. Auch ich sorgte für Unruhe und bekam zu hören, wie unmöglich, unordentlich und unkonzentriert ich sei. Ich weiß, wie schnell man aus der Spur geraten kann und wie dringend diese Schüler:innen Unterstützung brauchen. Deswegen will ich meine Geschichte erzählen.
30.06.1997, Zeugnis, Klasse 1
Lisa arbeitete immer gut, interessiert und erfolgreich mit. Sie bewies bei schriftlichen Aufgaben Selbstständigkeit und Ausdauer. Neu vermittelten Lernstoff verstand sie meist mühelos. Ihre Hausaufgaben erledigte sie ordentlich.
Lisa konnte lesen, als sie in die Schule kam. Ihre Lesetechnik und ihr Leseverständnis entwickelten sich erfreulich weiter.
Im Zahlenraum bis 20 fand sie sich zurecht und beherrschte Additionen und Subtraktionen. Lisa beteiligte sich interessiert im Sach- und Religionsunterricht. Im Kunstunterricht löste sie alle bildnerischen Aufgaben mit Freude und Geschick.
Mein erstes Zeugnis ist wohl das beste meiner gesamten Schullaufbahn. Stolz trug ich es damals nach Hause und präsentierte es meiner Familie. Die Unbeschwertheit, mit der ein Kind in Deutschland durchs Leben gehen muss, um so einen Wisch ausgestellt zu bekommen, verlor ich vier Monate später mit dem Tod meines Vaters. Stattdessen hielten Unruhe, Einsamkeit und Wut Einzug in meinen Alltag. Meine Zeugnisse wurden schlechter, mein Selbstbild auch. Wie konnte es so weit kommen? Um das zu verstehen, muss man bei der gemeinsamen Geschichte meiner Eltern anfangen.
Die beiden waren bereits seit ihrer Jugend ein Paar. Damals ging mein Vater noch auf die Hauptschule, und meine Mutter war Schülerin auf einem Gymnasium, das sie ein paar Jahre später, kurz vor dem Abitur, verließ. Beide machten eine Ausbildung – meine Mutter zur Krankenschwester und mein Vater zum Werkzeugmacher. Sie fanden mühelos Arbeit. Ihr Gehalt reichte aus, um in den frühen 80er-Jahren einen Kredit aufzunehmen und mithilfe von Freund:innen und Bekannten mein zukünftiges Elternhaus zu bauen.
Als das Haus fertig war, war meine Schwester schon ein Jahr lang auf der Welt. Mit ihr und mit meiner Oma zogen sie ein. Der Plan eines Mehrgenerationenhauses ging trotzdem nicht auf. Denn Oma Anna, eine Frau Mitte 50, die vorgehabt hatte, richtig mit anzupacken, konnte meiner berufstätigen Mutter nicht beim Haushalt und der Kindererziehung helfen. Der Krebs in ihrer Brust begann mit dem Einzug zu streuen und fesselte sie ans häusliche Krankenbett. Meine Mutter übernahm im Krankenhaus nun die Nachtdienste, damit sie tagsüber, völlig übermüdet, für Oma Anna und meine Schwester da sein konnte. Wenn sie morgens um sieben von der Arbeit nach Hause kam, legte sie sich auf die Couch neben das Krankenbett und schlief in ständiger Abrufbereitschaft, weil immer irgendjemand etwas von ihr brauchte. Erst dreißig Jahre später, als ich selbst Mutter geworden war, habe ich sie gefragt, wie sie das angestellt hat. Ob ihr nicht klar gewesen sei, dass das alles unzumutbar war. Ihre Antwort war so vage, dass ich mich kaum an sie erinnere: »Es war halt so.« In dieser Zeit wurde sie schwanger und erlitt ein paar Wochen später eine Fehlgeburt, aber auch das war halt so. Meine Oma lebte noch ein Jahr.
Ihr Tod verschaffte meiner damals 28-jährigen Mutter, neben einer tiefen Trauer, die sie gut wegzurödeln wusste, wieder Luft zum Atmen. Sie wurde erneut schwanger und hörte auf zu arbeiten. »Das kriegen wir schon hin«, hatte mein Vater zuversichtlich gesagt, der immerhin ein Haus abzubezahlen hatte. Er hatte recht. Meine Eltern kriegten es so gut hin, dass nach meinem Bruder drei Jahre später auch noch ich geboren wurde. Mein Vater hatte ein paar Lungenentzündungen, aber abgesehen davon war alles in Ordnung. Auf diese Lungenentzündungen antwortete er mit dem Abschluss einer Lebensversicherung für das Haus. Sicher ist sicher, sagte er.
In den kommenden Jahren fuhren wir regelmäßig in den Sommerurlaub, nach Österreich, Holland oder Italien. Ich erinnere mich kaum daran, aber Fotos erzählen von einem glücklichen Kleinkind, das in ein Handtuch gewickelt Pommes isst und in den Bergen ins Gras pinkelt. Wenn mein Vater uns gerade nicht in seinem verrauchten VW in den Urlaub kutschierte, arbeitete er oder werkelte am Haus und sorgte meistens für gute Stimmung.
Ständig waren Freund:innen meiner Eltern zum Grillen bei uns oder umgekehrt. Brauchte jemand Hilfe beim Umzug, stand mein Vater mit einem Kasten Bier bereit. Er liebte Reinhard Mey und Tina Turner, Rosenkohl und sein Motorrad. Manchmal, wenn er auf seiner Maschine von der Arbeit kam, setzte er mir den Fahrradhelm auf und fuhr, mich sicher zwischen seine Beine geklemmt, im Schritttempo durch den Wald, in den unsere Straße mündete. Er war es, der meiner großen Schwester das Schwimmen beibrachte und im Winter mit meinem Bruder einen Schneemann baute. Er war es auch, der meine Mutter zum Lachen brachte und Verständnis für sie hatte, wenn sie dann und wann, zu früh am Tag, zu tief ins Glas schaute. »Du hast den Tod deiner Mutter nicht verkraftet«, sagte er wohl einmal zu ihr, und sie konnte dem nichts entgegnen.
Es war mein Vater, der, zehn Jahre nach dem Bau des Hauses, das Wohnzimmer renovierte, mir einen Zollstock in die Latzhose steckte und mich seine Gesellin nannte. Ich durfte Staubsauger und Wasserwaage halten und platzte vor Stolz. Er war es, der bei dem ganzen Staub auf der Baustelle zu husten anfing und nicht mehr damit aufhörte. Bald kam er am Nachmittag von der Arbeit nach Hause, sank auf die Couch und schlief stundenlang. Bei diesem Anblick wurde meine Mutter stutzig. Mein Vater konnte für gewöhnlich nicht stillhalten und tat tagsüber alles Mögliche, aber sicher nicht schlafen. Sie schickte ihn zum Arzt, denn wie immer vermutete sie die Katastrophe. Etwa, dass er gegen den neuen Teppich allergisch sein könnte oder – schlimmer – wieder eine Lungenentzündung ausbrütete. Von den Untersuchungen kam er zurück mit einem riesigen Röntgenbild seiner Lungen. Darauf ein weißer Fleck, so groß wie eine Zitrone.
Ich, damals noch ein Kindergartenkind, lag rücklinks auf dem Teppich und schaute von unten zu, wie meine Eltern das Bild vor die Fensterscheibe hielten und mit den Fingerspitzen den Rand der Zitrone nachfuhren.
Zwischen Pflegedienst und Pflegefall
Meine Mutter, die seit einiger Zeit abends im mobilen Pflegedienst jobbte, hatte jetzt also wieder einen privaten Pflegeauftrag, den sie gerne abgelehnt hätte und doch wie selbstverständlich übernahm. Die Zitrone würde die Endstation sein, das war sehr schnell klar. Wer sich von nun an um alles kümmerte, ebenfalls.
An dunklen Winterabenden fühlte sich die Hand meiner Mutter warm und trocken an, wenn sie mich durch die verlassenen Straßen zwischen den Betonklötzen führte, in denen die fremden Menschen wohnten, die sie wusch, anzog, denen sie Spritzen und Medikamente gab. Die alten Leute hatten kleine, gemütliche Wohnungen, voller Kram und mit vergilbten Tapeten. Während meine Mutter mit ihnen im Bad war, streifte ich durch die Zimmer. Im Hintergrund lief die Tagesschau, und ich schaute mir die gerahmten Fotos an, auf denen die Menschen jung waren und trotzdem uralt aussahen. Wenn alles fertig war, liefen wir weiter durch die Dunkelheit hin zur nächsten Tür, die uns surrend von oben geöffnet wurde.
Gut gelaunt und mit anpackendem Pragmatismus wehte meine Mutter durch die Räume der Alten. Sie öffnete Fenster, schüttelte Kopfkissen, wechselte Handtücher und Küchenschwamm im Vorbeigehen. Sie fegte wortwörtlich einmal durch die Wohnung und war so schnell wieder weg, wie sie gekommen war. Aber immer hatte sie etwas von sich dagelassen. Etwas von ihrer Ordnung, ihrer Sauberkeit und vielleicht ein bisschen Nähe.
Zurück zu Hause tauschte sie die Sauerstoffflasche meines Vaters aus. Sie fuhr ihn zu Terminen, begleitete ihn durch die Chemos, behielt den Überblick über seine Medikamente und die Termine ihrer drei Kinder. Ein knappes Jahr später, ich war mittlerweile in der Grundschule, wusch sie ihn, gab ihm Morphium, holte den Toilettenstuhl. Sie bezog Betten, machte unsere Schulbrote und fuhr an einem Abend, an dem sie mich zu Hause ließ, auf dem Weg zum Pflegedienst gegen eine Laterne, weil sie zuvor beim Kuchenbacken zu viel vom Rum probiert hatte.
Dieser kleine Unfall, der ausgerechnet direkt vor der Polizeiwache stattgefunden hatte, schaffte es in die Regionalzeitung unserer Kleinstadt. Die betrunkene Fahrerin, meine...
Erscheint lt. Verlag | 14.9.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2022 • Arbeiterkind • Arbeiterklasse • Aufstiegschancen • benachteiligt • Bildung • Bildungsaufsteiger • Bildungschancen • Bildungspolitik • Bildungssystem • Bildungsverlierer • Brennpunktschule • Chancengleichheit • Christian Baron • eBooks • Eltern • Homeschooling • Klassismus • Lehrer • Missstände • Mobbing • Neuerscheinung • Pädagogen • Pädagogik • Problemschule • Schule • Schüler • Schulpolitik • Soziale Ungerechtigkeit |
ISBN-10 | 3-641-29629-3 / 3641296293 |
ISBN-13 | 978-3-641-29629-2 / 9783641296292 |
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