Von schrumpfenden Tintenfischen und windfesten Eidechsen (eBook)
»Alarmistische Töne und Besserwisserei hat der Biologe nicht nötig. Er beeindruckt durch seine mitreißende, mitfühlende und humorvolle Erzählweise, die Leserinnen und Leser klüger und hoffentlich auch einsichtiger macht.« (Jury zum Wissensbuch des Jahres 2023)
Über die faszinierende Wechselbeziehung von Klimakrise und Evolution
Wir wissen, die Anpassung an den menschgemachten Klimawandel ist ein Wettlauf gegen die Zeit - dabei ist die Natur uns mitunter schon einige große Schritte voraus.
Von gefräßigen Borkenkäfern, die dank gestiegener Temperaturen heute ganze Wälder bedrohen, bis zu Eidechsen, denen die Evolution mehr Griffkraft bescherte, damit sie nicht von immer häufiger auftretenden Tropenstürmen weggeweht werden: Während wir noch diskutieren, sind die Antworten der Natur auf den Klimawandel bereits in vollem Gang - und dabei ebenso beunruhigend wie auch faszinierend.
Feinfühlig und nuanciert, legt Naturschutzbiologe Thor Hanson die oft im verborgenen liegenden Geschichten vom Kampf der Natur gegen ein sich rapide änderndes Klima offen. Eine Reise an die Schauplätze des biologischen Wandels, welche die Konsequenzen der globalen Erwärmung unmittelbar greifbar macht und erahnen lässt, welche Tragweite unsere Entscheidungen für das Leben auf dem Planeten haben.
Thor Hanson stammt aus dem pazifischen Nordwesten der USA, ist promovierter Naturschutzbiologe, Umweltschützer und Wissenschaftskommunikator. Als Guggenheim Fellow und gefragter Experte in TV und Print, forscht er zu Biodiversität und gibt regelmäßig Interviews. Sein erstes ins Deutsche übersetzte Buch Federn erhielt die John-Borroughs-Medaille und den AAAS / Subaru-Science-Prize. Er lebt mit Frau und Kind auf einer Insel im Bundesstaat Washington.
Vorwort
Geschichten erzählen
Ich sinne, Bruder, über eine Weissagung, die ich dieser Tage las …
William Shakespeare1
Es war stockdunkel und regnete in Strömen, als ich mein Zelt aufschlug. Ich hoffte, den Hang weit genug hinaufgeklettert zu sein, um nicht einer Überschwemmung zum Opfer zu fallen. Drinnen fühlte es sich dann an wie im Schleudergang einer Waschmaschine. Der Wind rüttelte an den Zeltstäben, die nasse Zeltplane kam meinem Gesicht gefährlich nahe und ließ einen feinen Sprühregen auf mich niedergehen. Als der Sturm bis tief in die Nacht weiterwütete und mein Schlafsack sich langsam vollsog, begann ich an meinem Plan für die Frühjahrsferien zu zweifeln.
Ich hätte mit Freunden zum Angeln gehen können, also rumhängen und Bier trinken – was College-Studenten vor dem Abschlusssemester halt so machen. Stattdessen hatte ich in allerletzter Minute beschlossen, mir ein paar Brote zu schmieren, meine Campingausrüstung in den Rucksack zu stopfen und ein unberührtes Fleckchen in der südkalifornischen Wüste zu erkunden, aus dem später einmal der Joshua Tree National Park werden sollte. Ich wäre im Traum nicht auf die Idee gekommen, eine wasserdichte Plane und Regenklamotten mitzunehmen – es handelte sich schließlich um die trockenste Region Nordamerikas. Doch auch wenn diese erste Nacht zu den schlimmsten gehört, die ich je in einem Zelt verbracht habe, bewirkte der Regen wahre Wunder. Um mich herum erwachten durstige Samenkörner und Stauden zum Leben, und als die Wolkendecke in den darauffolgenden Tagen aufriss, fand ich mich in einer der wunderbarsten Landschaften überhaupt wieder: einer blühenden Wüste. Meinen Feldnotizen zeichnen ein Bild der Überfülle goldener, blauer und violetter Blüten, wie mit dem Pinsel auf die rote Erde und den Granit getupft. Ich notierte über zwei Dutzend Arten, von fröhlichen Gänseblümchen über Glockenblumen bis hin zu selteneren Exemplaren mit eigenwilligen Namen wie Bienenfreund, Zweizahn und Wislizenia refracta. Am meisten jedoch schrieb ich über ein Gewächs, das keine Blüten, sondern eine ganz eigene Art von Schmuck trug.
Ich entdeckte es an einem schmalen Bergpass: eine Josua-Palmlilie, deren Äste nach oben ragten wie die Zinken einer Harke. Schon aus der Entfernung hatte ich gesehen, wie eigenartig sie in der leichten Brise glitzerte, und als ich näher kam, verstand ich auch, warum. Der von den Felsen und der Steigung kanalisierte Wind hatte den Baum üppig mit Müll dekoriert: Plastiktüten, Lebensmittelverpackungen, zerfetzte Schnüre und Bänder sowie nicht weniger als drei Luftballons in unterschiedlichen Stadien der Erschlaffung. »Happy Birthday« konnte man auf einem noch entziffern, der an seiner verhedderten Schnur sachte vor sich hin zitterte. Damals dachte ich bei dem Müll an Früchte – eine eigenartige Ernte mitten in der Wildnis, etwa achtzig Kilometer von der nächsten größeren Stadt entfernt. Jahrzehnte später habe ich das Bild noch immer vor Augen, als eindringliches Symbol unserer folgenreichen Eingriffe in die Natur. Inzwischen weiß ich, dass das Problem weniger darin besteht, was der Luftstrom dort hinträgt – das Problem liegt vielmehr in der Luft selbst.
Die Josua-Palmlilie ist die weltweit größte Art ihrer Gattung (Yucca). Sie kommt ausschließlich in der Mojave-Wüste vor, die sich durch die Klimaerwärmung rasch verändert. (National Park Service/Robb Hannawacker)
Zwei Monate nach diesem Ausflug machte ich meinen Bachelorabschluss und spezialisierte mich danach auf Naturschutzbiologie. Meine Abschlussprüfung fiel zufällig auf den Tag, an dem im Juni 1992 in Rio de Janeiro die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung begann, bei der das erste internationale Abkommen zum Klimawandel vorgestellt und unterzeichnet wurde. Etwas Neues war das nicht – schon im 19.Jahrhundert hatte die Wissenschaft den Einfluss von Kohlendioxid-Emissionen vorausgesehen, und die Formulierung »Erderwärmung« war im Bereich des Umweltschutzes seit Jahren geläufig. Diese Konferenz markierte allerdings insofern einen Wendepunkt, als sie den Klimawandel von einem rein wissenschaftlichen Thema zu einem öffentlichen und globalen Problem machte. In den Folgejahren gerieten die immer eindeutigeren Beweise und die Aufrufe zum Handeln häufig in Konflikt mit der Politik, insbesondere in den Vereinigten Staaten. Es gab Proteste, Kampagnen, Debatten und – als ultimatives Symptom der wachsenden kollektiven Angst – eine ganze Reihe von Hollywood-Katastrophenfilmen.
Als Wissenschaftler zweifelte ich kein bisschen an der Dringlichkeit des Problems, haderte aber wie der Rest der Welt mit einer sinnvollen Reaktion. Die Widersprüchlichkeit meines Handelns entging mir nicht: Der CO2-Ausstoß meiner Langstreckenflüge zur Feldforschung in Afrika oder Alaska ließ sich nicht durch Fahrgemeinschaften zum Flughafen kompensieren. Doch abgesehen von eher vagen Skrupeln schien mir die Klimaproblematik anfangs noch sehr weit entfernt, irgendwie alarmierend, aber nicht greifbar, wie eine Krankheit ohne Symptome.
Mein Verhalten war ganz typisch: In Sachen Klimawandel ist die Kluft zwischen unserem Wissen und unserer Bereitschaft und Fähigkeit zu handeln eklatant – was der langjährige Klimaaktivist George Marshall in seinem Buch Don’t Even Think About It auf den Punkt brachte, in dessen Titelformulierung sowohl die Verdrängung des Problems als auch die Weigerung, über echte Veränderungen nachzudenken, mitschwingt. Er zeigt, dass das menschliche Gehirn hervorragend darin ist, abstrakte Bedrohungen zu begreifen und zugleich zu ignorieren. Wenn Konsequenzen nur graduell oder in der Zukunft spürbar werden, legt unsere Ratio sie »zur Wiedervorlage« ab, statt eine eher emotionale, instinktgesteuerte Schnellreaktion einzuleiten. (Wir sind viel besser darin, auf die direkte Bedrohung von Leib und Leben zu reagieren, auf fliegende Speere oder angreifende Löwen, also die Sorte von Problemen, mit denen unsere Vorfahren konfrontiert waren.) Marshalls Buch endet mit einer ganzen Reihe von Strategien zur Überbrückung dieser mentalen Blockade, die zu einem großen Teil auf einer weiteren Fähigkeit beruhen, die das menschliche Hirn gut beherrscht: Geschichten erzählen.
Ein Narrativ macht komplexe Ideen viel leichter nachvollziehbar. Nicht ohne Grund bettete Platon viele seiner philosophischen Dialoge in das Drama um Sokrates’ Verurteilung ein oder unterrichtete Carl Sagan Astrophysik an Bord eines imaginären Raumschiffs voll blinkender Lichter. Geschichten besetzen Regionen unseres Gehirns, die von bloßen Fakten nicht erreicht werden, und sie setzen Botenstoffe frei, die unser Denken, Fühlen und Erinnern nachweislich verändern.2Auch beim Klimawandel hängt unser Verständnis und Handeln zu einem großen Teil davon ab, wie einerseits wir von ihm erzählen und was andererseits er uns erzählen kann. Meine eigene Sichtweise hat sich im Lauf meiner Berufstätigkeit von großer Distanz zu äußerster Faszination gewandelt – durch Geschichten. Nicht die, die in den Medien oder in politischen Debatten vorkommen, sondern solche, die auf einer fundamentalen Ebene passieren: im Leben der Pflanzen und Tiere, mit denen ich mich beschäftige.
Wie Biologinnen und Biologen auf der ganzen Welt kann auch ich beobachten, wie der Klimawandel mit jedem Projekt stärker in den Fokus rückt – denn während die Menschheit seit dreißig Jahren um einen vernünftigen Umgang damit ringt, muss jede andere Spezies auf diesem Planeten längst damit fertigwerden – was uns daran erinnert, dass die Auswirkungen jedes zukünftigen Szenarios, so komplex oder umstritten es sein mag, letztlich davon abhängen, wie die einzelnen Tiere und Pflanzen darauf reagieren. Wenn die Lebewesen auf der Erde in allen Situationen gleich gut klarkämen, wäre es völlig unerheblich, dass wir am Wetter herumdoktern. Nur sind Lebensbedingungen leider nicht universell. Biodiversität beruht auf Spezialisierung, das heißt, Millionen von Arten sind ganz exakt an die in ihrer Nische herrschenden Gegebenheiten angepasst. Veränderungen erzwingen Reaktionen, und wenn sie sehr schnell kommen, werden möglicherweise ganze Ökosysteme auf den Kopf gestellt. Vor allem das Tempo des Klimawandels macht ihn zu einer Klimakrise. Zugleich stellt er für die Wissenschaft und Landwirtschaft, für Vogelbeobachterinnen und Gärtner, für Hobbynaturforscherinnen und überhaupt alle, die sich für die Natur interessieren, eine Chance dar. Nie zuvor konnten wir ein so einschneidendes biologisches Ereignis so hautnah mitverfolgen, und wenn die ersten Auswirkungen richtungsweisend sind, können wir aus ihnen bereits eine Menge ableiten. Denn nicht nur der Planet verändert sich schneller, als wir erwartet haben, sondern auch die Tiere und Pflanzen, die auf ihm zu Hause sind.
Mit meinem Buch erkunde ich diese neue Welt, in der Tiere vom Käfer bis zum Rankenfußkrebs (und auch die Josua-Palmlilie) sich durch Anpassung und hin und wieder sogar messbare Weiterentwicklung der Herausforderung eines rapiden Wandels stellen müssen – und zwar genau jetzt. Abgesehen von einer kurzen Einführung in die Kohlendioxid-Problematik werde ich nicht detailliert erklären, warum und wie die Erwärmung sich vollzieht, und ich gehe auch nicht auf die vielen Kontroversen ein, die wirksame politische Maßnahmen nach wie vor erschweren. All das sind wichtige Themen, sie wurden jedoch in den Medien und anderswo bereits ausführlich behandelt. (Eine ganz ausgezeichnete...
Erscheint lt. Verlag | 1.10.2022 |
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Übersetzer | Andrea Kunstmann |
Zusatzinfo | Mit zahlreichen Abbildungen und Fotos |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Hurricane Lizards and Plastic Squid |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2022 • Allgemeinwissen • Artensterben • Biodiversität • CO2 • Dirk Steffens • eBooks • Evolution • Fridays For Future • Globale Erwärmung • Infotainment • Klima • Klimawandel • Nachhaltigkeit • Natur • Natur Sachbuch • Naturschutz • Neuerscheinung • Ökosystem • Peter Wohlleben • Pop-Science • Ratgeber • Sachbuch • Shortlist Bestes Wissenschaftsbuch des Jahres 2023 • Umweltschutz • Waldsterben |
ISBN-10 | 3-641-29313-8 / 3641293138 |
ISBN-13 | 978-3-641-29313-0 / 9783641293130 |
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