Sicher sind wir nicht geblieben (eBook)

Jüdischsein in Deutschland

Laura Cazés (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
192 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491668-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sicher sind wir nicht geblieben -
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Was bedeutet es, heute in Deutschland jüdisch zu sein? Laura Cazés hat zwölf jüdische Autorinnen und Autoren gebeten, ihre Sicht auf das Leben in diesem Land, aber auch auf das »Jüdischsein« zu beschreiben. Entstanden sind sehr persönliche, vielschichtige Essays, nicht ohne Wut, aber auch nicht ohne Hoffnung, unter anderem von Mirna Funk, Daniel Donskoy, Richard C. Schneider, Erica Zingher und Shahrzad Eden Osterer.  Wenn über jüdisches Leben in Deutschland gesprochen wird, dann vor allem bezogen auf die Shoah und Antisemitismus. Damit aber werden Jüdinnen und Juden zu Objekten von Themen, die zwar untrennbar verbunden sind mit dem Land, in dem sie leben. Ihr eigenes Leben mit all seinen Realitäten aber taucht in gesellschaftlichen Diskursen kaum auf.  Die Autor:innen nehmen einen radikalen Perspektivwechsel vor, indem sie die Vielfalt jüdischer Positionen aufzeigen und sich als Jüd:innen selbst zu Wort melden. Sie schreiben über Rollen, die ihnen zugewiesen werden, über das Unbehagen, das die Präsenz lebender Jüdinnen und Juden manchmal auslöst, über den Schmerz und die Leerstellen, die sie empfinden, aber auch über Chancen und Perspektiven.  Mit Beiträgen von Debora Antmann, Rebecca Blady, Marina Chernivsky, Daniel Donskoy, Mirna Funk, Ruben Gerczikow, Shahrzad Eden Osterer, Hannah Peaceman, Dekel & Nina Peretz, Richard C. Schneider, Erica Zingher

Laura Cazés, geboren 1990 in München, beobachtet jüdische Gegenwart in Deutschland, schreibt und spricht darüber und ist auch selbst ein Teil davon. Ihr Kernthema ist die Diversität jüdischer Lebenswelten in Deutschland und deren Wahrnehmung und Einbezug in gesellschaftliche Diskursräume. Sie studierte Psychologie und Sozialmanagement in Göttingen und Berlin und arbeitet für die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Seit 2020 leitet sie dort den Bereich für Kommunikation und Digitalisierung. Laura Cazés lebt in Frankfurt am Main.

Laura Cazés, geboren 1990 in München, beobachtet jüdische Gegenwart in Deutschland, schreibt und spricht darüber und ist auch selbst ein Teil davon. Ihr Kernthema ist die Diversität jüdischer Lebenswelten in Deutschland und deren Wahrnehmung und Einbezug in gesellschaftliche Diskursräume. Sie studierte Psychologie und Sozialmanagement in Göttingen und Berlin und arbeitet für die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Seit 2020 leitet sie dort den Bereich für Kommunikation und Digitalisierung. Laura Cazés lebt in Frankfurt am Main.

Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag für viele Diskussionen, die in Deutschland nicht geführt werden, aber überfällig sind.

Zwischenräume


Sicher sind wir nicht geblieben


Laura Cazés

Leere zeigen.


»Bis zur Vergasung (…)«

Ich sitze in einem Traditionsitaliener im Frankfurter Nordend. Wir wollten nur schnell eine Pasta essen. Ich spüre die Gläser Wein schon in meinem Kopf und dass ich sie schnell getrunken hatte, um die vergangene Woche zu vergessen. Wir setzen uns, am Nebentisch vier Männer, die in meinem vernebelten Blick aus dem Augenwinkel heraus erstaunlich gleich aussehen. Karierte Hemden, eckige Brillen, wenig Haare, dafür den Raum beschallende Stimmen. Um große Themen scheint es zu gehen an dem Tisch, zu dem ich recht dicht, den Rücken zugewandt, sitze. Geopolitik, Wirtschaft, eigentlich will ich nur meine Pasta haben, aber die Tischnachbarn wollen, dass das ganze Restaurant ihrer Expertise lauscht, nach der niemand gefragt hat. Ich merke, dass ich zum ersten Mal seit Tagen wieder langsamer bin im Kopf, und genieße es eigentlich. Die Pasta kommt und hilft, das belanglose Grundrauschen am Nebentisch geht weiter.

»Wir haben das doch … alles … bis zur Vergasung (…)«

Beim ersten Mal denke ich noch, ich hätte mich verhört.

»Ich weiß nicht, ob … bis zur Vergasung (…)«

Beim zweiten Mal denke ich: Ah, hat mich meine abgefuckte Assoziationskette im Gehirn mal wieder nicht verarscht. Schade.

»Das geht noch weiter … bis zur Vergasung (…)«

Beim dritten Mal wird der Parmesan in meinem Mund bitter.

»Ich sag’s dir, einfach … bis zur Vergasung (…)«

Beim vierten Mal zähle ich runter.

3 – Schlucke. 2 – Atme ein. 1 – Drehe mich um.

Ich: »Sag mal, wie oft noch?«

Kariertes Hemd mit eckiger Brille: »Was?«

Ich: »Wie oft wollt ihr’s noch wiederholen?«

Kariertes Hemd mit eckiger Brille: »Man mischt sich nicht in fremde Gespräche ein.«

Ich: »Doch.«

Kariertes Hemd mit eckiger Brille: »Ne.«

Ich: »Okay, dann sagt’s ruhig noch mal, kein Problem. Haben noch nicht alle hier gehört.«

Ich drehe mich wieder um. Betroffenes Schweigen, auch an meinem Tisch.

»Ich bin ein guter Deutscher.« Kommt noch vom Nebentisch hinterher. Das höre ich schon gar nicht mehr.

Ich schäme mich. Weil ich meinen Mund aufgemacht und trotzdem nichts gesagt habe.

Ich trinke den letzten Schluck Wasser.

Unbehagen. Ich entschuldige mich bei meiner Begleitung, dass ich das gemeinsame Essen gesprengt habe. Ich soll mich nicht entschuldigen, wird mir gesagt.

Warum habe ich diesen Moment der Ruhe zugelassen? Warum werde ich in einem Moment der Ruhe nicht in Ruhe gelassen? Warum kann ich mir selbst keinen Moment der Ruhe lassen?

Augen auf, Augen zu, einen Schritt zurück.

*

In mir ist manchmal Leere. So eine Leere, dass ich mich frage, ob es dafür eigentlich ein anderes Wort bräuchte. Sie fühlt sich unendlich an und mehrdimensional zugleich. Manchmal beschreibe ich das so, dass diese mehrdimensionale Leere die Form eines Abgrundes annimmt. Sie taucht einfach auf. Ich weiß nicht mehr, wann mir klarwurde, dass diese Leere mich mein ganzes Leben lang begleiten wird. Ich weiß nur, dass mich mit dieser Erkenntnis die Phantasie verlassen hat. Ich habe als Kind häufig verträumt aus dem Fenster geschaut, die Zeit vergessen. Das mache ich immer noch manchmal. Aber wenn ich das tue, dann ist da einfach nichts.

Vor einigen Jahren war ich auf einer Konferenz, auf der es um gesellschaftliche Verantwortung und Erinnerungskultur ging. Eine Panelistin sprach davon, dass Auschwitz nicht für die Kinderseele sei. Sie versuchte, mit diesem Satz die Schwierigkeit einzuordnen, wie sie mit ihren eigenen Kindern über das Grauen der Vernichtung sprechen solle. Selbstverständlich leuchtete mir das ein, und dennoch befremdete es mich innerlich. Dass Auschwitz nicht für die Kinderseele sei. Es hatte in meinem Leben dieses Konzept nie gegeben, dass man als Kind auch nur in irgendeiner Form hätte davon verschont oder davor geschützt werden können, was Auschwitz war. Ich weiß nicht mehr, wann ich das Wort Auschwitz zum ersten Mal gehört habe. Es spielt auch keine Rolle. Denn es gab nie einen Moment in meinem bewussten Leben, in dem diese Leere, die in Wahrheit ein Abgrund ist, nicht bei mir war, in dem ich nicht wusste, was Auschwitz ist.

Die Leere in mir korrespondiert mit den Leerstellen, auf denen wir alle tagtäglich laufen, durch die das Ich zum Wir wird. Mit dem Wir meine ich an dieser Stelle die Gesamtheit unserer Gesellschaft. Stolpersteine sind auf unseren Wegen vorhanden, aber sie füllen nicht unsere kollektiven Gedächtnislücken. Die Idee vom Hass gegen Juden ist verpönt, aber wie er funktioniert, warum die Gesellschaft ihn in immer neuen Erscheinungsformen braucht, haben wir bis heute nicht verstanden. Wir wollen Deutsche sein, aber wissen nicht mehr, was vor uns war, wer wir einmal waren. Der Graben zwischen meiner inneren Leere und den Leerstellen aller weitet sich in solchen Momenten. In diesen Momenten, in denen der Parmesan in meinem Mund bitter wird und mir schwarz vor Augen, weil das, was eigentlich nicht aushaltbar ist, zu einer leblosen Analogie in einem irrelevanten Gespräch wird, zu einem von jeglicher Emotion losgelösten Superlativ. Diese Referenz hat sich als Praxis eingebürgert, sie ist zu einer Strategie geworden, um den Umgang mit den unaushaltbaren Sichtbarkeiten und Leerstellen zu normalisieren. In diesem Umgang werde ich zur Irritation, sobald ich mich umdrehe und frage: Wie oft noch? Weil ich beim Pasta-Essen nicht für den bitteren Beigeschmack meiner inneren Leere bezahlen will, habe ich mich zu schämen. Man mischt sich nicht in fremde Gespräche ein. Sie könnten sonst auch etwas fühlen.

*

Ich werde mich schämen. Für diesen Text und mit all jenen, denen beigebracht wurde, still zu bleiben, sich anzupassen, nicht aufzufallen. Ich werde mich schämen, weil ich gelernt habe, keine schlafenden Hunde zu wecken, zu gehorchen. Ich werde mich schämen, weil ich diese Welt vielleicht unsicherer gemacht habe für manche von uns.

Fühlen lernen.


»Arbeit macht frei – EY SCHERZ

Ich sitze in einem Fortbildungsseminar zu Digitaler Transformation und New Work. Der junge Dozent, etwas hyperaktiv, möchte zum Abschluss seines Blockseminars agile Arbeitsprozesse mit uns simulieren. Die Fortbildung fällt in die Woche des ersten Festival of Resilience, das die Überlebenden des Anschlages auf die Synagoge in Halle organisiert haben. Ich halte mich in dieser Woche in zwei Parallelwelten auf, wie so häufig, eigentlich immer, aber diesmal besonders. Vormittags sitze ich im geschlossenen Seminarraum, es wird über Innovation gesprochen. Nachmittags bis abends bin ich in der Sukka, es wird über Kontinuitäten gesprochen. Die Tekin-Brüder, deren Kiez-Döner zum zweiten Ziel des Terroristen von Halle 2019 geworden war, sind angereist, Familie Arslan, die Hinterbliebenen des Brandanschlages auf das Wohnhaus in Mölln 1992, und die Angehörigen der Opfer von Hanau. Diese Menschen, die zu Momenten in den Medien geworden waren, sinnbildlich für die Opfer des Terrors, stehen hier nun sehr echt, wenngleich etwas orientierungslos in diesem jüdischen Raum ohne festes Dach. Resilienz bedeutet für die Veranstalter:innen mehr, als das Überleben zu manifestieren, es bedeutet Selbstbestimmung, Solidarität, und als Zeitpunkt spielt neben dem Framing durch den ersten Jahrestag des Anschlages auch der jüdische Feiertag Sukkot eine Rolle, dem der Gedanke der Willkür der Sicherheit zugrunde liegt.

Jeden Morgen, jeden Abend verbringe ich für eine Woche in diesen zwei unterschiedlichen Welten. Gewissermaßen steht diese Woche wie ein Schnelldurchlauf für einen immerwährenden Spagat, einen Spagat, den wir hier in Deutschland machen.

Mollie Sharfman, die ich drei Jahre zuvor auf der Muslim Jewish Conference in Sarajevo kennengelernt hatte und die selbst nicht zum Festival of Resilience anreisen konnte, hatte mich gebeten, ihr Testimonial am letzten Abend des Festivals vorzulesen:

»Ich habe gehört, dass der Attentäter Holocaustleugner ist. Er glaubt nicht, dass 6 Millionen Jüd*innen von den Nazis geschlachtet wurden. Mein Großvater hat den Holocaust überlebt. Er war der einzige Überlebende in seiner Familie – seine Mutter, sein Vater, seine drei jungen Brüder, Großmutter, Tanten, Onkel, Cousins – alle wurden vernichtet. Über 100 seiner Verwandten wurden im Holocaust ermordet. Sehr lange Zeit war mein Großvater der einzige Überlebende in unserer Familie. Am 9. Oktober 2019 bin ich ebenfalls eine geworden. Ich stehe neben ihm. Die Stärke, die ich heute zeige, beruht auf dem Glauben und der Widerstandsfähigkeit meiner Familie. Ich vertrete heute nicht nur mich. Ich vertrete die Generationen des jüdischen Volkes, die vor mir kamen, und alle, die nach mir kommen werden. Ich trage zum Zeugenstand ein Bild von meinem Großvater und mir. Ich war sein erstes Enkelkind, das neue Glied in der Kette, die fast abgebrochen wurde. Ich war das Zeichen der Hoffnung für unsere Familie. Von dem Moment an, als ich geboren wurde, wurde ich zu seiner...

Erscheint lt. Verlag 31.8.2022
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Antisemitismus • Auschwitz • Daniel Donskoy • Diversität • Dritte Generation • Erinnerungskultur • Erinnerungspolitik • Halle Attentat • Hass • Holocaust-Gedenktag • Holocaust-Überlebende • Identität • Israel • Jüdische gegenwart • Jüdisches Leben • Kontingentflüchtlinge • Migration • Mirna Funk • Religion • Shoah • Synagoge • Trauma • Zweite Generation
ISBN-10 3-10-491668-3 / 3104916683
ISBN-13 978-3-10-491668-2 / 9783104916682
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