Kapitalismus und Kapitalismuskritik (eBook)
416 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45120-6 (ISBN)
Mirela Ivanova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Soziologie der Universität Basel. Helene Thaa ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Soziologie der Universität Basel. Oliver Nachtwey ist Professor für Sozialstrukturanalyse am Fachbereich Soziologie der Universität Basel.
Mirela Ivanova ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Soziologie der Universität Basel. Helene Thaa ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Soziologie der Universität Basel. Oliver Nachtwey ist Professor für Sozialstrukturanalyse am Fachbereich Soziologie der Universität Basel.
Der Kapitalismus – und kein Ende?
Alex Demirović
Wie begreifen wir uns und unsere Art zu leben? Welche Begriffe benötigen wir? Reicht es aus, von Individuen oder Familie zu sprechen, wie vom Neoliberalismus behauptet, der bestreitet, dass es Gesellschaft gibt? Benötigen wir umfassendere Begriffe, die es erlauben, Gesamtheiten zu verstehen? Sollen wir von Staaten sprechen? Leben wir in der Moderne oder der Postmoderne? Handelt es sich um Gesellschaft? Und in was für einer Gesellschaft leben wir: einer Arbeits-, postindustriellen, Risiko-, Wissens-, einer funktional differenzierten oder bereits in einer nächsten Gesellschaft? Ich schlage vor, von Kapitalismus zu sprechen, davon, dass die heutige Gesellschaft trotz aller inneren Veränderungen wie die Gesellschaft des 19. oder 20. Jahrhunderts als von kapitalistischen Gesetzmäßigkeiten geprägt begriffen werden kann. Dies ist missverständlich, weil bei Kapitalismus allein an Ökonomie gedacht wird. Deswegen will ich im ersten Abschnitt zeigen, dass die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise darin besteht, die Gesellschaft auf eine bestimmte Weise zu formieren. Kapitalismus soll als eine gegliederte Gesamtheit von Verhältnissen begriffen werden, nicht allein als Wirtschaft oder als (ökonomisches) System. Im zweiten Abschnitt soll es um das Spezifische des Kapitalismus, also um das Kapital gehen. Es soll deutlich gemacht werden, dass es sich dabei nicht allein um eine Rationalität, ein Nutzenkalkül handelt, sondern dass das Kapital ein komplexes gesellschaftliches Verhältnis ist. Im dritten Abschnitt soll gezeigt werden, dass die strukturierte Ganzheit der kapitalistischen Formation durch eine spezifische Zeitlichkeit bestimmt ist: Das Kapital entsteht, entwickelt sich, ist durch Höhepunkte und Niedergänge gekennzeichnet; es reproduziert sich durch Krisen hindurch. Verschiedene Krisenkonzepte werden vorgestellt und diskutiert, um zeitdiagnostisch zu zeigen, dass die kapitalistische Formation aufgrund innerer Entwicklung aktuell in eine katastrophische Krise geraten ist. Ob der Kapitalismus sie übersteht, ist zweifelhaft.
Das Ganze begreifen
Kapitalistische Gesellschaften sind komplex. Das ist eine Allerweltweisheit. Nicht Komplexität an sich unterscheidet sie von feudalen Verhältnissen, die mit ihren sich vielfach überlappenden Mächten vielleicht sogar komplexer waren. Lange vor der Systemtheorie hat Marx die kapitalistische Produktionsweise und die von ihr bestimmte Form Gesellschaft als komplex charakterisiert. Das heißt, sie wird weder von einem Ersten – etwa der Ökonomie – noch von einem Zentrum – etwa dem Staat oder einer mächtigen Gruppe – bestimmt oder gelenkt. Auch wenn wir die kapitalistische Gesellschaft in Staaten untergliedern, sind diese gesellschaftliche Verhältnisse. Es ist falsch, sich Gesellschaft als einen nationalen Container vorzustellen – umgekehrt müssen nationalstaatliche Grenzziehungen und die damit verbundenen Dispositive (wie Statistik, Verwaltung, Währung, Zoll, Schule, Nationalfahnen) aus dem Gesamtprozess der gesellschaftlichen Verhältnisse heraus erklärt werden: also der Tatsache, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Nationalstaaten gebildet haben und Individuen nicht die Wahl haben, staatsfrei zu leben, vielmehr Staatenlosigkeit dazu führt, das Recht auf Rechte zu verlieren. Gesellschaften lassen sich auch nicht von Gott her denken – wie es etwa die Präambel des deutschen Grundgesetzes versucht: »In der Verantwortung vor Gott gibt sich das deutsche Volk diese Verfassung.« So werden Staat, Gesellschaft und Volk gleichgesetzt. Gerade kapitalistische Gesellschaften bzw. Staaten lassen sich jedoch nicht als primordiales Volk, als Nation, als Ethnos, als Rasse, als einheitliche Kultur begreifen. Für das Selbstverständnis der kapitalistischen Gesellschaftsformation sind solche ideologischen Kategorien dennoch bedeutsam geworden: Sie dienen ebenso als Erklärung wie als politisches Projekt und Ziel. Sie lassen sich also nicht ideologiekritisch zur Seite schieben, sondern sind Merkmale der Komplexität der kapitalistischen Gesellschaft. Anders als oftmals angenommen, sind solche Kategorien auch keine vormodernen Überbleibsel, die mit zunehmender Rationalisierung der Lebensverhältnisse verschwinden werden, vielmehr sind sie Momente der Ungleichzeitigkeit und erweisen sich als fähig, sich immer wieder zu erneuern.
Die hier genannten Verständnisse von Gesellschaft sind im doppelten Sinn Vereinfachungen: Sie verfehlen das Moment kapitalistischer Verhältnisse und reduzieren Gesellschaft auf einen scheinbar einfachen, zurechenbaren Sachverhalt. Auch die vielleicht naheliegende Bestimmung der kapitalistischen Gesellschaft lediglich durch die Ökonomie stellt eine Vereinfachung dar. Die Ökonomie träte dann an die Stelle eines Ersten, eines metaphysischen Ursprungs; und alles wäre gesagt, wenn ein Sachverhalt ökonomisch erklärt wäre. Alles andere, Politik oder Kultur, könnte dann daraus abgeleitet werden. Wenn aber umgekehrt der Kapitalismus als die Wirtschaftsweise oder Wirtschaftsethik einer umfassenden Moderne subsumiert wird (vgl. Reckwitz 2021; Rosa 2021), dann trifft auch dies nicht zu. Das hat seinen Grund darin, dass der Kapitalismus nicht allein bestimmbar ist durch unbegrenztes Gewinnstreben und die Vermehrung von Geld durch Geld – in der bekannten Formel G – W – G', mit der Marx die bürgerliche Ideologie auf den Punkt bringt, wonach Geld sich quasi göttlich selbst erzeugt – nach dem Werbetext der Deutschen Bank: »Lassen Sie Ihr Geld arbeiten«. Beim Kapitalismus handelt es sich um komplexe soziale Verhältnisse, die ein entfaltetes Ganzes darstellen, das im Durchschnitt seiner Verhältnisse und seiner Geschichte aus vielen Bestimmungen besteht. Diese Verhältnisse können nur kreislauftheoretisch als Kreislauf von Kreisläufen erfasst werden. In ihrer Geschichte haben die Mitglieder der bürgerlichen Klasse mit vielen Überlegungen, in vielen Experimenten und Kämpfen untereinander und mit anderen Klassen die kapitalistische Form der Erzeugung gesellschaftlichen Reichtums, also die Produktion von Waren, immer umfassender auf eigene Grundlagen gestellt. Dazu haben sie Verhältnisse geschaffen oder sich vorhandene Verhältnisse untergeordnet, die für die Erhaltung ihrer Macht und ihres Reichtums vorteilhaft sind.
Marx wird vorgeworfen, er würde den Kapitalismus einfach durch Ökonomie bestimmen. Auch wenn es hier nicht um Marx-Philologie geht, muss man einen solchen Vorwurf zurückweisen, weil er wichtige Einsichten in die Komplexität der Theorie von Marx verstellt. Sie entfaltet in einem anspruchsvollen Sinn den Begriff der kapitalistischen Produktionsweise als einem gegliederten Ganzen. Sehr früh schon, im Text Zur Judenfrage (Marx 1972 [1843]), stellt er die Überlegung an, dass die moderne Gesellschaft sich durch eine starke Differenzierungslinie auszeichnet: durch die Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Politik bzw. Staat. In späteren Texten spricht er dann von der Gesellschaftsformation, in der die kapitalistische Produktionsweise herrscht. Letztere wird von ihm weiter differenziert in Basis und Überbau. Man kann darüber streiten, ob Basis und Überbau geeignete Begriffe sind und ob solche Abhängigkeiten bestehen wie die, die er betont, wenn er davon spricht, dass das materielle Sein der Menschen ihr Bewusstsein bestimmt. Doch wenn man es nüchtern betrachtet, dann handelt es sich um eine plausible empirische Behauptung. Denn worüber wird in Nachrichten berichtet, worüber wird in Talkshows gesprochen? Über Inflation und Preisentwicklung, über Öl oder Gas, über Arbeitskräftemangel und Kinderarmut auch in einem reichen Land wie Deutschland. Wie bestimmen die Menschen ihre Identität? Über ihr Geschlecht, ihre nationalstaatliche Herkunft, über ihre Berufstätigkeit. Die Organisation und Durchführung von Erwerbs-, Haus-, Sorgearbeit, von Einkauf, Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen bestimmen große Teile des Alltags. Freilich gibt es auch ...
Erscheint lt. Verlag | 23.11.2022 |
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Co-Autor | Gargi Bhattacharyya, Manuela Bojadzijev, Alex Demirovic, Christoph Deutschmann, Richard Gebhardt, Christoph Henning, Ursula Huws, Mirela Ivanova, Nicole Mayer-Ahuja, Jason W. Moore, Oliver Nachtwey, Sabine Pfeiffer, Lutz Raphael, Jakob Tanner, Helene Thaa, Lisa Vollmer, Christa Wichterich |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeine Soziologie |
Schlagworte | Aktuelle Diskussionen • Arbeitswelt • Digitalisierung • Geschlecht • gesellschaftliches System • Herrschaftsverhältnisse • Kapitalismus • Kapitalismuskritik • Kritik • Pandemie |
ISBN-10 | 3-593-45120-4 / 3593451204 |
ISBN-13 | 978-3-593-45120-6 / 9783593451206 |
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