Wenn Widerstand weiblich ist (eBook)

Die Revolution der Frauen in den postsowjetischen Staaten

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
192 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-28982-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wenn Widerstand weiblich ist -  Jo Angerer
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Die Bilder demonstrierender Frauen in Belarus gingen um die Welt, sie haben die Oppositionsbewegung gegen Alexander Lukaschenko, den »letzten Diktator Europas«, erst stark gemacht. In Russland protestieren sie für Alexeij Nawalny. Und auch in vielen anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion gärt es. Weg sollen die alten verkrusteten Strukturen aus Politik und Alltag. Und immer sind es die Frauen, die den Protest entscheidend voranbringen: Die osteuropäische Revolution ist vorwiegend weiblich. Der Journalist und Moskauer Auslandskorrespondent Jo Angerer erzählt von den dortigen Aufständen, erläutert die prekäre soziale Situation der Frauen anhand persönlicher Geschichten und setzt ihre Lebensrealität in Verhältnis zur Geschichte und Stellung der Frau in der Sowjetunion, deren Staaten die patriarchale Geschlechterstruktur lediglich restaurierten und weibliche Personen bis heute extrem benachteiligen. Nicht zuletzt schildert er, wie der Russland-Ukraine-Krieg diese Bewegungen nachhaltig beeinflusst. Von Belarus über Russland, die Ukraine bis hin nach Kirgisistan und Aserbaidschan, wo die Zeit in gewisser Weise stehengeblieben zu sein scheint, erzählt Angerer über den Widerstand der Frauen und lässt bewegende, manchmal auch schockierende Berichte und viele kleine Beobachtungen einfließen, die sonst nicht Eingang in Fernsehsendungen wie die Tagesthemen finden. Ein erhellender Einblick in das aktuelle politische Geschehen Osteuropas und seiner Protagonistinnen.

Jo Angerer, geboren 1956, begann seine journalistische Karriere beim Bayerischen Rundfunk in München. Später arbeitete er für das ARD-Magazin MONITOR, war Autor und Redakteur vieler Dokumentationen in der ARD und im WDR-Fernsehen. Investigative Recherche, Friedens- und Sicherheitspolitik sind sein Spezialgebiet. Seit 2019 lebt und arbeitet er als Korrespondent in Moskau. Zunächst für die ARD und heute für die Zeitung DER STANDARD. Dass Widerstand oftmals weiblich ist, konnte Jo Angerer in vielen Ländern der ehemaligen Sowjetunion beobachten, wo gerade die Frauen um grundlegende Menschenrechte kämpfen.

Einleitung


Der 24. Februar 2022 hat alles verändert: die Welt, das Ost-West-Verhältnis, die Ukraine und auch Russland natürlich, mich persönlich, meine Lebensumstände – und dieses Buch: Krieg. Noch kurz zuvor hatte ich als Fernsehkorrespondent in Moskau in einer ARD-Liveschalte nach Deutschland verkündet: Der russische Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze sei eine Drohkulisse, Putin wolle testen, wie weit er bei den neuen Regierungen in den USA und Deutschland gehen kann. Aber Krieg? Niemals. Wie habe ich mich getäuscht, wie haben wir uns fast alle getäuscht.

Mit meiner Frau Erika Haas, einer ausgewiesenen feministischen Wissenschaftlerin, promovierten Ungleichheitsforscherin, Beraterin, Autorin und Journalistin, lebe ich in einer Ausländer-Wohnanlage im Zentrum Moskaus. Nur noch wenige Europäer leben hier; seit Kriegsbeginn haben sich viele westliche Konzerne aus Russland zurückgezogen, die Manager verlassen das Land. Quer über den Hof ist das ARD-Studio, in dem ich bis Ende Januar 2022 als fest angestellter Korrespondent gearbeitet habe. Seitdem bin ich für die ARD freiberuflich tätig und arbeite als Korrespondent für die österreichische Zeitung DER STANDARD.

Ich komme oft an der örtlichen Filiale der Fast-Food-Kette »Lecker und Punkt« vorbei. Bis vor Kurzem war es die Filiale von McDonald’s. Auch dieser Konzern hat Russland verlassen. Ein russischer Investor hat landesweit 850 Filialen übernommen und bietet nun unter neuem Namen die gleiche Speisekarte an. Es sind dieselben Restaurants, dieselben Lieferanten, dasselbe Personal und dieselben Fritteusen. Nur verdient jetzt nicht mehr ein US-Konzern, sondern ein russischer Unternehmer.

»Lecker und Punkt« ist ein Sinnbild dafür, wie wenig sinnvoll die Sanktionspakete des Westens nach Kriegsbeginn in der Ukraine waren und sind. Russland hat Öl und Gas im Überfluss, Rohstoffe, landwirtschaftliche Produkte und gute Kontakte nach China. Wen sollen Sanktionen also schrecken? Produkte aus dem Westen sind sehr teuer geworden, ansonsten aber gibt es in den Supermärkten alles, auch wenn die Preise gestiegen sind. Gas und Strom dagegen sind weiterhin billig. So zahlt eine Kollegin für ihre sechsköpfige Familie in Moskau für Heizung, Strom, Gas, Wasser und die Müllabfuhr nur rund 150 Euro im Monat an Nebenkosten.

Die Russinnen und Russen leiden nur wenig unter den Sanktionen. Die Vorstellungen vieler von einer Versorgungskrise, Volksaufständen, der Vertreibung Putins aus dem Amt dank der Sanktionen – absurd. Für uns Ausländer allerdings ist das Leben komplizierter geworden. Das betrifft nicht nur den Kampf um die Akkreditierung, die Arbeitsgenehmigung für Russland als Korrespondent. Unsere Kreditkarten funktionieren nicht mehr. Von unseren Reisen ins Ausland bringen wir Euro in bar mit, die wir dann in dunklen Wechselstuben umtauschen. Ich hätte nicht gedacht, dass mir dergleichen passieren würde, wo ich doch für die Abschaffung von Bargeld war.

Vor dem Krieg war es einfacher. Im August 2020 sollte ich für die ARD nach Belarus fahren. Die von Amtsinhaber Alexander Lukaschenko absurd manipulierte Präsidentenwahl und die Proteste dagegen waren natürlich ein wichtiges Thema für Tagesschau, Tagesthemen, Weltspiegel und Europamagazin. Warum gerade ich und keine andere Korrespondentin, kein anderer Korrespondent aus dem ARD-Studio? Die Antwort ist banal: Weil ich der Einzige war, der damals eine Akkreditierung für Belarus besaß.

Aus dem für zwei Wochen geplanten Aufenthalt in Minsk wurden fast drei Monate. Ich habe schnell begriffen, dass der Widerstand, der Protest gegen ein altes, verkrustetes System ganz entscheidend von Frauen getragen und gestaltet wurde. Sie setzten fantasievolle Aktionen dagegen. Immer neue Bevölkerungsgruppen schlossen sich an, schließlich marschierten Hundertausende über die Straßen von Minsk.

Die Demonstrantinnen verstanden sich als Patriotinnen. Voller Heimatliebe, voller Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit und Demokratie. Die rot-weiß-rote Fahne auf ihren Demonstrationen in Minsk ist eigentlich ein nationalistisches Symbol. Doch die Frauen in Belarus haben damit kein Problem.

Um das zu verstehen, hilft ein Blick in die Geschichte. Die Sowjetunion hätte eigentlich ein Paradies für Frauen sein müssen. Auf dem Papier herrschte vollständige Gleichberechtigung, Frauen hatten Zugang zu Bildung, es gab kaum Einschränkungen in der Berufswahl, die Kinderbetreuung war staatlich organisiert.

Die Wirklichkeit sah indes anders aus. Natürlich konnten Frauen arbeiten, sie mussten sogar. Das bedeutete allerdings nicht, dass ihnen die Kinder und die Familie vollständig abgenommen worden wären. Die Arbeit im Haushalt blieb trotzdem an ihnen hängen. Für ein Engagement in den verschiedenen Parteigliederungen blieb keine Zeit und damit auch nicht für politische Teilhabe. Das galt insbesondere in der Stalinzeit, die das Ideal der Frau als Mutter pries. Arbeiten mussten die Frauen aber trotzdem – eine Doppelbelastung, über die stillschweigend hinweggesehen wurde. Einigen Frauen in der Sowjetunion gelangen zumindest mittelprächtige Karrieren, doch ins Politbüro, das Gremium, das über alles entschied, schaffte es in all den Jahrzehnten nicht eine einzige Frau.

Dann zerfiel die Sowjetunion. Sie zerbrach unter der Last gigantischer Rüstungsausgaben und einem Wirtschaftssystem, dessen mangelnde Produktivität in den chronisch leeren Regalen der Geschäfte für jeden sichtbar war. Die greisen grauen Männer im Politbüro hatten dem nichts entgegenzusetzen, im Gegenteil, sie beschleunigten den Niedergang durch katastrophale Fehlentscheidungen. Der Einmarsch in Afghanistan 1979 geriet zu einem Fiasko, das sich bis 1989 hinzog. Der Super-GAU im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 ließ sich nicht wie gewohnt vertuschen. Er wurde zum Symbol für alles, was schieflief in diesem Riesenreich, für verkrustetes Obrigkeitsdenken, Verantwortungslosigkeit und schließlich für das Versagen des gesamten kommunistischen Systems. Als im Dezember 1991 Michael Gorbatschow zurücktrat, war die Sowjetunion Geschichte.

Unsere gute Freundin Natalia Myurisep hat die letzten Jahre der Sowjetunion miterlebt. Wir haben darüber viel diskutiert, ihre Geschichte findet sich in diesem Buch. Sie stammt aus einer Diplomatenfamilie, also aus der Elite, studierte in Moskau und wollte selbst Diplomatin werden. Geschafft hat sie es nicht, wohl auch deshalb, weil sie eine Frau ist. Natalia Myurisep hat den gescheiterten Augustputsch am 19. August 1991 gegen Gorbatschow miterlebt, sie sah die Panzerkolonnen auf die Moskauer Innenstadt zurollen. Am 31. Dezember 1999 hörte sie auf einer Silvesterparty im Fernsehen die Rücktrittsrede des müden, trunksüchtigen russischen Präsidenten Boris Jelzin. Alle tanzten, alle lachten, waren froh, dass Jelzin weg war. Seinen Nachfolger kannte niemand in der Runde. Es war ein junger Mann mit Namen Wladimir Putin.

Die Neunzigerjahre waren ein Jahrzehnt des Turbokapitalismus in Russland, auch »Raubtierkapitalismus« genannt. Die sowjetischen Normen waren über Nacht zusammengebrochen. Aus Funktionären wurden Unternehmer, aus Unternehmern Oligarchen. Unermesslicher Reichtum traf auf unermessliche Armut. Frauen ernährten ihre Familien mit Gemüse von der Datscha. Männer verdienten Geld, das nichts wert war. Es gab Schießereien auf den Straßen und Bombenattentate. Allein 1994 wurden mehr als 600 Unternehmer, Politiker und Journalisten ermordet. Allerdings waren die Neunziger auch eine Zeit des Aufbruchs mit Gedankenfreiheit, einer echten Opposition und kulturellen Experimenten. In den Metropolen entwickelte sich eine urbane Kultur, es gab Cafés, Klubs, Kunstaktionen.

Das Geschlechterbild aus Sowjetzeiten aber blieb: Ein Mann ist ein ganzer Mann, wenn er reich und mächtig ist. Und eine Frau ist eine echte Frau, wenn sie einen reichen und mächtigen Mann heiratet. Entsprechende Frauenratgeber nach dem Motto »Wie mache ich mehr aus meinem Typ?« füllten ganze Regale in den Buchhandlungen.

Zugleich jedoch wächst der Widerstand der Frauen gegen dieses überkommene Rollenverständnis im heutigen Russland. Pussy Riot, die schrille, feministische Punkband, ist ein gutes Beispiel dafür. Sie macht Politik durch Provokation. Der Machtapparat hat sie ins Ausland vertrieben, doch die Frauen von Pussy Riot schreien weiterhin gegen Ungerechtigkeit in Russland an. Und sehnen sich nach einer Rückkehr in die Heimat.

Auch in der Oppositionsbewegung rund um den Kreml-Kritiker Alexej Nawalny spielten Frauen eine Rolle, wenngleich keine herausragende. Deutlich sichtbarer sind sie im Widerstand gegen den Krieg in der Ukraine. Ihre Aktionen sind gewagt und erfordern viel Mut. Im Netz gibt es ein Manifest: »Die feministische Bewegung in Russland kämpft für benachteiligte Gruppen und die Entwicklung einer gerechten, gleichberechtigten Gesellschaft, in der Gewalt und militärische Konflikte keinen Platz haben dürfen.« Und in der Provinz, etwa in Dagestan am Rande der Russischen Föderation, machen Frauen das Schicksal ihrer Söhne und Freunde öffentlich. Sie beklagen die jungen Männer, die als Soldaten im Krieg in der Ukraine sterben, ohne dass ihnen jemand gesagt hätte, für wen und für was sie überhaupt in diesen Krieg gezogen sind.

In der Ukraine haben viele Frauen auf dem Kiewer Maidan-Platz für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie gestritten. Die »Revolution der Würde« brachte auch die Sache der Frauen voran. Einige der damals geforderten Reformen sind gelungen. Dazu zählt die Streichung von Berufsverboten für Frauen aus der Arbeitsgesetzgebung. Andere Hoffnungen haben sich bislang nicht erfüllt, etwa die...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2022
Co-Autor Carmen Scheide
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2022 • Alexander Lukaschenko • Alice Bota • Aufstand • Baltische Staaten • Belarus • Die Frauen von Belarus • Die letzte Diktatur Europas • Die Revolution hat ein weibliches Gesicht • Die weißen Tage von Minsk • Diktatur • eBooks • Frauenbild • Geschichte • Gesellschaftskritik • kirgisistan • Lebensgeschichten • Maria Kolesnikowa • Misogynie • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2022 • Olga Shparaga • Osteuropa • Politische Verfolgung • Postsowjetisch • Pussy Riot • Rebellion • Russland • Sowjetunion • Swetlana Tichanowskaja • Ukraine • Ukraine-Russland-Krieg • Veränderung • Veronika Zepkalo • Vorderasien • Wladimir Putin
ISBN-10 3-641-28982-3 / 3641289823
ISBN-13 978-3-641-28982-9 / 9783641289829
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