ungeschönt (eBook)

Sprechen über gesellschaftliche Tabus, Bodyshaming und psychische Gesundheit
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
176 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60220-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

ungeschönt -  Jaqueline Scheiber
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»Sie ist da ehrlich, wo sich alle verstellen« ZEIT Einen Tag, nachdem ihr Partner plötzlich verstirbt, verfasst Jaqueline Scheiber einen Instagram-Post darüber. Sie präsentiert ihren von Dehnungsstreifen übersäten Bauch 40.000 Menschen. Sie macht ihre psychische Erkrankung öffentlich, auch auf die Gefahr hin, stigmatisiert zu werden. Als minusgold berührt sie auf Instagram mit sehr persönlichen, leuchtenden, manchmal unbequemen Posts. Doch was für die einen mutig ist, stößt bei anderen auf Ablehnung. Jaqueline Scheiber reflektiert präzise, warum sie es für heilsam hält, die eigene Stimme zu erheben und sich Gehör zu verschaffen. Die umfassend überarbeitete und erweiterte Fassung von »Offenheit« (Kremayr und Scheriau 2020)

Jaqueline Scheiber, Jahrgang 1993, aufgewachsen im österreichischen Burgenland, seit 2012 Wahlwienerin, ist Sozialarbeiterin, Mitbegründerin des Young Widow_ers Dinnerclub Wien, Kolumnistin, Autorin und eigens ernannte Selbstdarstellerin. Von 2010 bis 2017 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Minusgold Lyrik und Prosa auf ihrem Blog. Auf dem gleichnamigen Instagram-Account bespricht sie gesellschaftskritische Themen, teilt Teilrealitäten ihres Alltags und verarbeitet Eindrücke in kurzen literarischen Erzählungen.

Jaqueline Scheiber, Jahrgang 1993, aufgewachsen im österreichischen Burgenland, seit 2012 Wahlwienerin, ist Sozialarbeiterin, Mitbegründerin des Young Widow_ers Dinnerclub Wien, Kolumnistin, Autorin und eigens ernannte Selbstdarstellerin. Von 2010 bis 2017 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Minusgold Lyrik und Prosa auf ihrem Blog. Auf dem gleichnamigen Instagram-Account bespricht sie gesellschaftskritische Themen, teilt Teilrealitäten ihres Alltags und verarbeitet Eindrücke in kurzen literarischen Erzählungen.

uneben


Es gibt unzählige Menschen, die aufgrund äußerlicher Merkmale, aufgrund ihrer Namensgebung und ihrer Migrationsgeschichte schärfere Formen der Diskriminierung erleben, als ich das getan habe. Ich habe mich mit den Ereignissen, die mir widerfahren sind, ausgesöhnt, und der einzige Grund, warum ich sie heute ausweise und formuliere, ist dass ich eine Fläche für den Diskurs bieten möchte. Denn neben den Gelegenheiten und Chancen, die mir zuteilwurden, hatte ich auch das Glück, die Sprache und ein Publikum zu finden, das sich für meine Erzählungen interessiert. Und eines bin ich der Jaqueline, die sich für so falsch und unerwünscht in dieser Welt hielt, schuldig – meine Fähigkeit zu nutzen, um das Brennglas auf die Dynamiken und Probleme zu legen, die wir Menschen in unserer Gesellschaft mittragen und reproduzieren. Auch ich. Als Autorin weiß ich, dass das durch persönliche Geschichten am besten funktioniert. Es geht mir dabei nicht darum, das Klagelied eines Arbeiter*innenkindes zu singen, um so die Empathie der Menschen zu wecken. Was am Ende bleiben soll, ist die Wut. Die Wut darüber, dass unser Bewusstsein nach wie vor nicht ausreichend geschärft ist, um Chancengleichheit herzustellen. Ich möchte ins Gespräch kommen, ins Licht der Aufmerksamkeit. Ich sehe meine Existenz als Einleitung für einen Austausch, nicht als Zentrum des Diskurses.

 

Eines der ersten und wichtigsten Themen, mit dem ich das Gefühl hatte, mich auseinandersetzen zu müssen, war der Feminismus. Aus heutiger Sicht kann ich nicht mehr genau festmachen, wann ich das erste Mal mit dem Begriff in Berührung kam. Was ich allerdings weiß, ist, dass er sich für mich lange nicht konkretisieren ließ. Er schwebte zwischen den Liegestühlen im Hof des Universitätsgeländes, wurde an den Tischen der hippen Bars in die Runde geworfen. Ich wusste nicht recht, was er bedeutet oder welche Abstufungen innerhalb der Definition möglich sind. Wie viele von uns habe auch ich mich damals nicht getraut zu fragen. So waren es vor allem die Sozialen Medien, die mir Erklärungsversuche und Hintergründe boten. Und erst in der Etablierung meiner sogenannten Bubble in der digitalen Welt, einem wachsenden Netzwerk an Menschen, die ähnliche Beobachtungen mit ähnlichen Schlüssen daraus zogen und diese, im Gegensatz zu mir damals, formulieren und adressieren konnten, fand ich zu einem Verständnis und einer Auseinandersetzung von diesem Begriff. Innerhalb dieses Raums wurde mir nach und nach bewusst, dass Feminismus nicht nur eine Strömung, eine politische Einstellung ist, sondern vor allem eine Haltung, die ich bis zum heutigen Tag als Grundlage meines Menschenbildes erachte. Ich bin nicht mit klassischen Rollenbildern aufgewachsen, in meiner Familiengeschichte lag jede Anstrengung in den Händen starker Frauen, jeder Halt rührte von ihnen her. Das erleichterte mir den Anschluss an die Diskussion, denn die Frage, was Frauen können oder nicht, stellte ich mir nicht. Meine Eltern würden sich nicht als Feminist*innen bezeichnen. Diese Haltung passt weder in ihre Lebensrealität noch in ihren Wortschatz. Das hat mich oft gestört, bis heute begebe ich mich deswegen in teilweise ausladende verbale Kämpfe und versuche, Verknüpfungen und Konsens herzustellen. Oft vergebens. Und das, obwohl ihre Auffassung und ihre Art zu leben in vielen Punkten ihrer Zeit voraus, ja fast revolutionär waren, ohne ein Label dafür zu benötigen. Schließlich haben sie mich groß- und zu einem kritisch denkenden Menschen erzogen.

Während meines Studiums der Sozialen Arbeit verstand ich, dass die gesellschaftlichen Machtverhältnisse nicht nur durch Gender, sondern zu einem großen Anteil auch durch Race definiert werden, dass neben Frauen also auch BIPoC – Black, Indigenous, and people of color –, Menschen mit Migrationshintergrund beziehungsweise Menschen, die als Migrant*innen gelesen werden, benachteiligt und marginalisiert werden. Ich verspürte zum ersten Mal Wut und Unbehagen über die ungleiche Verteilung von Privilegien, die auch mir selbst zuteilgeworden war. Ich verstand, wieso meine Mutter gewollt hatte, dass ich einen österreichisch klingenden Nachnamen trage und trotz meiner Mehrsprachigkeit akzentfreies Deutsch spreche. Doch trotz all dem und obwohl ich in den akademischen Räumen lernte, was Feminismus sein kann, was er braucht und wodurch er vorangetrieben wird, mussten noch mal einige Jahre vergehen, bis ich selbst meine so reflektiert und inklusiv gedachten Auffassungen des Begriffs hinterfragte und zu der Erkenntnis kam, dass mein Feminismus große Lücken aufwies. Denn bis dato war mein Feminismus ein weiß geprägter. Er bemühte sich um gleiche Gehälter und Frauen in Führungspositionen, er beschäftigte sich mit Reproduktionsrechten und selbstbestimmter Sexualität. Und obwohl all diese Anliegen wichtig sind, sind sie ebenso verkürzt gedacht und rassistisch. Mein Feminismus war zu eng, um die Lebensrealität von BIPoC miteinzubeziehen, ihre Kämpfe und Grundrechte, die bis zum heutigen Tag in keinem Verhältnis zu denen einer weißen Person stehen. Er stieß sich an Kopftuchdebatten und Glaubensbekenntnissen. Heute weiß ich, wie problematisch das war.

Wer heute Feminismus sagt, muss nicht zwangsläufig Feminismus meinen. Wie viele politische Begriffe wurde auch dieser mit den Jahren verwässert und emotional besetzt. Er ist in Strömungen zerfasert und je nach Milieu entweder zur Modeerscheinung oder zum Schimpfwort geworden. Deswegen ist es mir wichtig, mein Verständnis von Feminismus auszuformulieren. Wenn ich heute von Feminismus spreche, dann meine ich intersektionalen Feminismus. Ich meine einen Feminismus, der die Realität jeder Hautfarbe, jeder Körperform und jeder Schichtherkunft abbildet und mit einschließt. Er stützt sich nicht allein auf die weißen Frauenthemen wie das Wahlrecht oder ein Recht auf Abtreibung, sondern kämpft auch gegen Missstände in der Lebenswirklichkeit von Migrant*innen, BIPoC, Queer und Transmenschen, die in der Mehrheitsgesellschaft wenig Aufmerksamkeit finden. Das erstreckt sich über Arbeitsbedingungen und die Kopftuchdebatte bis hin zu dem Recht auf Schwangerschaftsabbrüche, die für mehrfach marginalisierte Personen eine signifikant größere Tragweite haben als für weiße, privilegierte Menschen. Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, hier noch tiefer zu gehen, so viel sei jedoch gesagt: Nach einer kurzen Recherche findet man kluge Abhandlungen und Essays zu diesen Themen. Es gibt eine Vielzahl an FLINTA[1], die ihr Wissen in diesen Bereichen weitervermitteln, und es liegt an uns, uns dieses Wissen anzueignen und unseren Horizont zu erweitern.[2]

Meine Herkunft hat mich geprägt, hat mir zu denken gegeben und mir bewusst gemacht, dass viele Dinge, die ich für selbstverständlich hielt, für andere in weiter Ferne liegen. Dinge, wie eine selbstbewusste Frau zu sein, die für ihre Ziele einsteht. So zu tun, als wären alle gleich und es bestünde Chancengleichheit, ist naiv und spricht all jenen ihre Lebensrealitäten und Traumata ab, die keinen Tag bewältigen können, ohne aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihres Glaubens Diskriminierung zu erfahren. Das ist ebenso problematisch wie die Aussage »I see no colour«, die im Grunde behauptet, man würde aus eigener Überzeugung selbst keine Unterschiede in der Hautfarbe von Menschen machen. Dabei wird außer Acht gelassen, dass »colour« und »black« eine politische Bezeichnung einer Lebensrealität ist und sich nicht nur rein auf Äußerlichkeiten bezieht.

Es ist unbequem, das eigene Privileg infrage zu stellen, wenn man ohnehin das Gefühl hat, benachteiligt aufgewachsen zu sein. Für mich war es deshalb wichtig zu erkennen: Ich mache mich nicht kleiner, wenn ich anderen Raum zugestehe, den die Gesellschaft für sie nicht vorgesehen hat. So funktionieren Gesellschaften seit vielen Jahrhunderten – entstandene Machtverhältnisse reproduzieren derart viel Mangel und Unterdrückung, dass Menschen nach unten treten, statt Entscheidungsträger*innen zur Verantwortung zu ziehen. Feminismus bedeutet nicht, am lautesten zu schreien; er ist auch eine Form von Zurückhaltung und Wissbegier, der Wunsch, sich die Realitäten von Menschen näherzubringen, die nicht die eigenen sind. Ich kann und möchte nicht für Menschen sprechen, die aufgrund ihrer Hautfarbe Diskriminierung erfahren. Es steht mir nicht zu, aus der Perspektive von mehrfach marginalisierten Personen zu berichten, ich kann nicht ihr Sprachrohr sein. Was ich kann, ist, mich solidarisch zu zeigen und...

Erscheint lt. Verlag 26.1.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Anti-Diskriminierung • Authentizität • Blogger • Body Positivity • Bodyshaming • Bulimie • Daria Daria • Feminismus • influencer • Instagram • Körperbilder • Kremayr & Scheriau • Lyrik • Magersucht • minusgold • No feeling is final • Offenheit • Poesie • Soziale Arbeit • Sterben • Tabubruch • Tabus • Tattoos • Tod • Trauerverarbeitung • Trauma • Traumabewältigung • wie man leben soll
ISBN-10 3-492-60220-7 / 3492602207
ISBN-13 978-3-492-60220-4 / 9783492602204
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