Nichtmuttersein (eBook)

Von der Entscheidung, ohne Kinder zu leben

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
240 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60214-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nichtmuttersein -  Nadine Pungs
Systemvoraussetzungen
17,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Umstandslos glücklich Nadine Pungs möchte keine Mutter sein. In den Augen der Gesellschaft gilt sie deshalb als egoistisches Mängelwesen und muss sich immer wieder für ihre Entscheidung rechtfertigen. Mit ihrem Buch legt sie den Finger in die Wunde und argumentiert für weibliche Körperherrschaft, die sie selbst erst ganz zum Schluss radikal lebt. Sie spricht mit Müttern und Nichtmüttern über Ängste und Hoffnungen, plädiert für das Kinderwunschlosglück und zeigt, was körperliche Selbstermächtigung in letzter Konsequenz bedeutet. Mal zart, mal zornig macht Pungs klar, wie politisch für Frauen selbst das Intimste ist.

Nadine Pungs, 1981 im Rheinland geboren, studierte Literaturwissenschaft und Geschichte. Als Kleinkünstlerin spielte sie am Theater und organisierte Comedyshows, heute arbeitet sie als freie Autorin. Auf der Suche nach Intensität und Schönheit zieht es sie immer wieder in die Welt, häufig in den Nahen Osten. Zuletzt bereiste sie monatelang Saudi-Arabien. Von ihren Begegnungen und Beobachtungen erzählt sie in Büchern und in Vorträgen. Bei Malik erschienen von ihr »Das verlorene Kopftuch. Wie der Iran mein Herz berührte« und »Meine Reise ins Übermorgenland. Allein unterwegs von Jordanien bis Oman«.

Nadine Pungs, 1981 im Rheinland geboren, studierte Literaturwissenschaft und Geschichte. Als Kleinkünstlerin spielte sie am Theater und organisierte Comedyshows, heute arbeitet sie als freie Autorin. Bei Malik erschien zuletzt »Meine Reise ins Übermorgenland. Allein unterwegs von Jordanien bis Oman«.

2


Die Mutter aller Fragen lautet: Warum haben Sie keine Kinder?[1] Diese vermeintlich harmlose Erkundigung ist intim, denn sie impliziert, dass naturgemäß ein allgemeines Interesse an meinem Sexualleben und meiner Reproduktion existiert, obwohl das niemanden zu interessieren hat. Mein Körper wird zum öffentlichen Raum erklärt. Ich soll Männer reinlassen und Babys rauslassen.[2] Das Land liegt mit im Bett. Da die Mehrheit der Frauen im Laufe ihres Lebens Kinder bekommt, scheint die Frage nach meiner unwilligen Gebärmutter berechtigt. Eine Frau ist eine Frau ist eine Mutter. Weiblichkeit und Mütterlichkeit gehören zusammen wie Kastor und Pollux. Immer noch.

Tatsächlich kapiere ich diese inquisitorische Frage nach meiner Kinderlosigkeit nicht. Denn ich brauche keine Gründe, Mutterschaft zu verweigern. Es ist meine Sache. Vielmehr braucht es Gründe, um Kinder überhaupt in die Welt zu setzen.[3] Dass mir diese Frage im 21. Jahrhundert überhaupt noch so nonchalant gestellt wird, ist erstaunlich. Aber auch ich erwische mich manchmal dabei, normativ zu denken. »Warum hat die eigentlich keine Kinder?«, überlege ich verstohlen, wenn mir eine kinderlose Frau über vierzig begegnet. Reflexhaft stelle ich mir vor, sie könne bekümmert sein oder einsam. Weshalb kommt mir diese Mutmaßung in den Sinn? Vielleicht ist sie weder bekümmert noch einsam unterwegs, sondern umstandslos glücklich. Ich denke solche Gedanken, weil ich es so gelernt habe. Wie die allermeisten kleinen Mädchen, denen Muttersein als Mutterglück versprochen wurde, habe auch ich derartige Vorstellungen verinnerlicht. Obwohl es sich falsch anfühlte, glaubte auch ich, Mutter werden zu wollen. Weil doch alle wollen. Oder nicht? Maternität wird uns schon früh als Lebenssinn eingepflanzt, bis wir sie schließlich als Essenz unserer Weiblichkeit begreifen. Es gilt: »Frauen muttern!«[4] Liebe, Wärme, Mutterglück. All das erwartet uns scheinbar, wenn wir nur unserer wahren Bestimmung folgen. Der Duden definiert Mutterglück als das Glücksgefühl, Mutter zu sein. Aber wer hat uns dieses Mutterglück angelobt? Die eigene Mutter? Die Lehrerin? Die Politik? Der Pastor? Die Wirtschaft? Die Gesellschaft? Wir selbst? Und kann es auch das Nichtmutterglück geben? Das Glücksgefühl, keine Mutter zu sein?

 

Tante Fine hatte drei Söhne großgezogen, und ihr Körper erzählte unergründliche Geschichten von Vereinigung und Schwangerschaft. In meiner Erinnerung besteht sie hauptsächlich aus Brust, Bauch und Hüfte, ähnlich den Venusfigurinen, die in archäologischen Siedlungen gefunden wurden. Sie roch immer nach Flieder und Heißmangel, und wenn sie lachte, zog sich ein Netz aus Falten über ihr Gesicht. Zu meinem dritten Geburtstag schenkte sie mir eine Babypuppe. Sie drückte mir den Plastiksäugling in den Arm und feixte: »Dat is nu dien Blach.« Ihre Dauerwellenlöckchen wippten zustimmend. Die Babypuppe hatte keine Haare, dafür Speckröllchen aus Vinyl, und sie trug einen rosa Strampler. Sowie man sie auf den Kopf stellte, weinte sie, der Schnuller purzelte ihr aus dem Mund, und sie starrte mich aus ihren großen Glasaugen vorwurfsvoll an. Ich fand sie hässlich, geradezu unverschämt in ihrer Forderung, mich um sie kümmern zu müssen, obwohl ich das nicht wollte. Meine Mutter steckte derweil Trauben auf Käsespieße und bemerkte meine Enttäuschung über das Geschenk genauso wenig wie Tante Fine, die bereits ins Wohnzimmer gestiefelt war.

Ich bin ein Wunschkind. Ich habe die Wangenknochen meiner Mutter und die Lippen meines Vaters. Meine Eltern kannten sich sechs Monate, als sie beschlossen, eine Familie zu gründen. Sie hatten sich in einer Disco kennengelernt, irgendwo in einer niederrheinischen Provinzstadt morgens um halb drei. Meine Mutter verliebte sich in die traurigen Augen meines Vaters, und er mochte ihr blondes Haar.

Vater servierte Asti Spumante, sobald sich Tante Fine auf das Sofa plumpsen ließ. Ich kletterte zu ihr hinauf, presste mich an ihren schweren Busen, um mein schlechtes Gewissen ob meines Unmuts zu beruhigen, und sog ihren Fliederheißmangelgeruch ein. Die Babypuppe blieb auf dem Boden sitzen und schaute anklagend in die Runde. »Isch habbet Reißen inne Glieder, isch glaub, et jibt ander Wetter«, behauptete Tante Fine, trank ihr Sektglas zur Hälfte und zwinkerte mir zu. Vater verstand die versteckte Botschaft und holte unverzüglich den Fernet-Branca aus dem Einbauschrank. Als Tante Fine zwei Stunden, vier Likörchen und sieben Käsespieße später ging, legte ich das Baby in meine Spielzeugkiste und schloss den Deckel.

 

»Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.« Diesen tausendfach zitierten Satz schrieb die Philosophin Simone de Beauvoir in ihrem berühmten Buch Le Deuxième Sexe. 1949 erschien ihr Manifest, das bis heute den Feminismus maßgeblich beeinflusst. Mit kühler Beobachtung dekonstruiert Beauvoir darin vermeintliche weibliche Eigenschaften und führt sie stattdessen auf soziale und kulturhistorische Prägungen zurück. Die Biologie der Frau werde dazu benutzt, sie auf die vorgeblich natürliche Mutterrolle festzulegen. Beauvoirs Buch löste einen Skandal aus, wurde von Kritikern verrissen und vom Vatikan auf den Index gesetzt. All das ist über siebzig Jahre her. Die Welt hat sich seitdem verändert. Wir klonen Schafe, haben das Internet erfunden, die Desoxyribonukleinsäure entschlüsselt und handeln mit Kohlenstoffdioxid-Zertifikaten, es gibt Eiscreme mit Aalgeschmack und Katzenvideos. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Und wir gehören zu jener Generation, die den höchsten Freiheits- und Lebensstandard der Menschheitsgeschichte erleben darf. Viele Türen, die jahrhundertelang verschlossen waren, stehen nun sperrangelweit offen. Doch eben weil sich die Gesellschaft so rasant verändert und klassische Rollenmuster hinterfragt werden, flackert ein fast überwunden geglaubtes Bedürfnis nach eindeutigen Geschlechterverhältnissen wieder auf. Etliche Menschen fühlen sich überfordert von Globalisierung, Digitalisierung, Feminismus und Klimaaktivismus. Manche suchen eine Lösung im Konservatismus. Oder im Nationalismus. Oder im Faschismus. Vielleicht sind das die üblichen Rückzugsgefechte, die mit Wachstumsschmerzen einhergehen. »Die Reizbarkeit des Verlierers nimmt mit jeder Verbesserung zu, die er bei anderen bemerkt«, sagte der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger.[5]

Fürwahr, wir müssen damit leben, dass zu einer offenen Gesellschaft auch Unflätigkeit, Rüpelei und Bösartigkeit gehören.[6] Fest steht aber ebenso: Mit dem Rechtsruck der letzten Jahre gingen altbekannte antifeministische Diskurse und Aktivitäten einher. »Vergesst nicht«, hatte bereits Beauvoir nahezu prophetisch vorausgesagt, »es genügt eine politische, ökonomische oder religiöse Krise – und schon werden die Rechte der Frauen wieder infrage gestellt. Diese Rechte sind niemals gesichert.«

Als die Türkei 2021 aus der Istanbul-Konvention austrat, die Gewalt an Frauen verhindern und bekämpfen soll, gab Staatspräsident Erdoğan als Begründung an: »Die Frau ist vor allem Mutter. Und sie ist für die Kinder da.« In Polen regiert die christlich-fundamentalistische PiS-Partei, die ein striktes Abtreibungsverbot durchgesetzt hat und Personen mit Uterus wie Menschen zweiter Klasse behandelt. In Afghanistan haben die radikal-islamistischen Taliban wieder die Herrschaftsgewalt übernommen, und Frauen dürfen nur noch mit Begleiter zur Arbeit. In Ungarn wurde eine Gebärprämie eingeführt, um der angeblich drohenden Islamisierung zu begegnen. Überall in Europa protestieren Abtreibungsgegner (weibliche wie männliche) mit Plastikföten und Kreuzen vor Arztpraxen und beschimpfen Patientinnen. In den USA steht die konservative Mehrheit des Supreme Court offenbar kurz davor, das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche zu kippen.

In Deutschland macht die AfD antifeministische und rassistische Politik für den weißen Schlichtmichel. Wie die alten Nazis verteidigen auch die neuen Nazis die Heimat an der Gebärfront und verlangen mit völkischer Inbrunst, dass sich die Geburtenrate unter »deutschstämmigen Frauen« erhöhen solle. Vögeln fürs Vaterland! Desgleichen wabert auf den Querdenker-Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen der Antifeminismus durch die Reihen, etwa wenn Menschen aus der Esoterikerszene (darunter viele Heilpraktikerinnen und Schamaninnen, die von »weiblicher Intuition« salbadern) binäre Geschlechterbilder – weiblich oder männlich – vertreten und einer archaischen Fruchtbarkeitsidealisierung ...

Erscheint lt. Verlag 28.7.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Abtreibung • Aufklärung • Biologische Uhr • bücher für frauen • Diversität • Emanzipation • Erzählendes Sachbuch • Feminimus • feministische bücher • Genderdebatte • Geschlechterrollen • Gesellschaftsdruck • Gesellschaftskritik • gewollte kinderlosigkeit • kein Kinderwunsch • kinderfrei • Kinderlosigkeit • Kinderwunsch • Klassismus • Körperbilder • Liebe • Margarete Stokowski • Mutterschaft • Patriachat • Pornographie • Regretting Motherhood • Rollenbilder • Rollenklischees • Schwangerschaft • Schwangerschaftsabbruch • Selbstbestimmtes Leben • Selbstbestimmung • Selbstermächtigung • Selbstoptimierung • Sex • Sexismus • Sexueller Missbrauch • Sterilisation • toxische männlichkeit • Weibliche Identität • weibliche Selbstermächtigung • weibliche Sterilisation
ISBN-10 3-492-60214-2 / 3492602142
ISBN-13 978-3-492-60214-3 / 9783492602143
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 5,9 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

von Carlo Masala

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
12,99
Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

von Carlo Masala

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
12,99
Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles …

von Helen Pluckrose; James Lindsay

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
16,99