Frau mit Messer (eBook)
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2812-6 (ISBN)
Die südkoreanische Autorin Gu Byeong-mo wurde 1976 geboren. 2009 bekam sie den Changbi-Preis für Jugendliteratur. 2015 wurde sie für ihre erste Sammlung literarischer Erzählungen mit dem Today's Writer Award ausgezeichnet.
Die südkoreanische Autorin Gu Byeong-mo wurde 1976 geboren. 2009 bekam sie den Changbi-Preis für Jugendliteratur. 2015 wurde sie für ihre erste Sammlung literarischer Erzählungen mit dem Today's Writer Award ausgezeichnet.
ALS DER MORGEN dämmert, will Hornclaw, mit einer grauen Jogginghose bekleidet, gerade losgehen, da wacht Deadweight auf. Die Hündin kommt schwanzwedelnd auf sie zu, und als Hornclaw ihr den Kopf streichelt, fällt ihr auf, dass sie gestern Abend vergessen hat, ihr frisches Wasser hinzustellen und ihr Futter zu geben, weil sie nach dem Saubermachen zu erschöpft war.
»Warte nur, bis du in mein Alter kommst. Dann wirst du auch vergesslich.«
Das Wasser im Napf ist durch die trockene Luft in ihrer Wohnung fast verdunstet, und die paar Stückchen Trockenfutter sind knochenhart. Hornclaw wirft die Reste weg und stellt den Napf ins Spülbecken, um ihn abzuwaschen. Sie wirft einen Blick auf Deadweight.
»Obwohl, in Hundejahren gerechnet sind wir wahrscheinlich gleich alt.«
Sie erinnert sich, dass der Tierarzt bei ihrem letzten Besuch die Hündin auf zwölf Jahre geschätzt hatte, aber sie kann sich nicht mehr erinnern, wann das war oder aus welchem Grund sie mit ihr hingegangen war, diese flimmernden Details trüben ihr den Geist und lösen sich dann auf. Sie weiß auch nicht mehr genau, vor wie vielen Jahren sie sie zu sich geholt oder wo oder warum, ob sie sie mit traurigen, feuchten Augen aus einem Pappkarton auf der Straße angeschaut hatte. Vielleicht hatte sie auf dem Heimweg von einem Auftrag – sie hatte sich zwar an die Gleichförmigkeit ihrer Arbeit gewöhnt, aber immerhin hatte sie gerade ein Leben ausgelöscht – die fixe Idee gehabt, dass sie sich eine Pechsträhne einhandelte, wenn sie diese Hündin nicht mit nach Hause nahm. Was sie mit Sicherheit weiß, ist, dass sie sie niemals als Welpen gekauft hätte. Auf jeden Fall taufte sie sie damals Deadweight, weil es ihr irgendwie peinlich war, ein lebendes Wesen mit nach Hause genommen zu haben.
»Magst du mitkommen?«, fragt sie jetzt, obwohl sie die Antwort kennt. Schon vor Jahren hatte Deadweight es aufgegeben, sie bei ihrem morgendlichen Sportprogramm zu begleiten, sie blieb lieber zu Hause, um ein Nickerchen zu machen und zu faulenzen.
Hornclaw schließt die Tür und geht; als sie einen Block entfernt ist, ertappt sie sich dabei, wie sie überlegt, ob sie die sauberen Näpfe mit Wasser und Futter gefüllt hat, und vielleicht hat sie den Futternapf tatsächlich gefüllt und dann gedankenlos in den Kühlschrank gestellt, aber sie ist jetzt schon zu weit von zu Hause weg, um noch einmal umzukehren. Wenn sie sich einbildet, dass sie das Bügeleisen eingesteckt gelassen oder den Herd nicht ausgeschaltet oder den Wasserhahn an der Badewanne nicht abgedreht hat, geht sie immer noch einmal zurück, um das zu kontrollieren. Aber jedes Mal, wenn ihr ein Gedanke wie dieser kommt und sie nach Hause eilt, war nichts dergleichen. Selbst wenn sie vergessen haben sollte, den Futternapf zu füllen, wäre es ja nicht so schlimm. Es ist ja nur Hundefutter, und sie ist ja nur für ein paar Stunden Sport weg, nicht tagelang für einen Auftrag.
Mittlerweile geht sie nur noch zu den Mineralquellen in einem nahe gelegenen Wald. Die Auswahl an Sportarten, die sie noch machen kann, ist im Laufe der Jahre auf eine einzige zusammengeschrumpft, nämlich Joggen. Schlichte Sportgeräte wie Stangen oder Stepper oder Crosstrainer, die zum öffentlichen Gebrauch an der Laufstrecke installiert sind, helfen immerhin, die Grundfitness zu erhalten, aber sie kann sich schon gar nicht mehr entsinnen, wann sie zum letzten Mal eine Bankpresse oder einen Butterfly-Trainer benutzt hat.
Natürlich könnte sie auch für drei Monate Mitglied in einem Fitnessstudio werden, wenn sie wollte. Ihre Knochen und Muskeln sind immer noch stark, und es würde ihr nicht allzu schwerfallen, diese Geräte zu benutzen. Man sieht in allen möglichen Fitnessstudios Senioren schwitzen und trainieren, und direkt in ihrer Nähe gibt es zwei Studios mit ein paar in die Jahre gekommenen Geräten. Aber da sie für beide Geschlechter sind, befinden sich an den Geräten, die sie braucht, immer Männer, sodass sie keine Chance hat, sie zu benutzen. Außerdem sind diese Fitnessstudios weniger fürs Training gedacht, sondern sie sind vielmehr ein Treffpunkt für die Nachbarschaft. Sie könnte weiter Richtung Gangnam fahren und sich in einem besseren Viertel ein exklusives Fitnessstudio in einer Seniorenresidenz suchen, aber das will sie nicht, es sei denn, es wäre wirklich dringend und sie würde andernfalls körperlich total abbauen. Sie hat schon einmal in einem solchen Studio vorbeigeschaut und war etwas verstimmt, als die Angestellte am Empfangsschalter sie fragte: »Welche Hausnummer haben Sie?« Als ob das Studio nur für die Bewohner der Residenz wäre. Als Hornclaw sagte, dass sie gar nicht aus dem Viertel stammte, und die Angestellte überrascht fragte: »Wie haben Sie dann von uns erfahren, Madam?«, war Hornclaw endgültig bedient. Vielleicht wollte sie damit nur freundlich erfragen, ob Hornclaw von diesem Studio im Internet oder per Mundpropaganda erfahren hatte, aber Hornclaw interpretierte es als Das ist hier kein Ort für jemand wie Sie. Dann ging die Angestellte mit ihr die verschiedenen Möglichkeiten durch, wie man die Muskulatur im Alter erhalten und stärken kann, und meinte: »Ich bin froh, dass Sie hier sind, denn wir haben einen besonderen Kurs, den Sie nirgendwo anders finden werden – der ist wie maßgeschneidert für Sie.« Doch Hornclaw hatte sich schon abgewandt und ihr noch wütend »Nennen Sie mich nicht Ma’am!« zugerufen.
In Wirklichkeit sind das alles nur vorgeschobene Argumente, es gibt einen anderen Grund, warum Hornclaw nicht ins Fitnessstudio geht. Meistens passiert Folgendes: Ein männlicher Trainer, der ihr nicht mal zugeteilt worden ist, kommt zu ihr, während sie auf dem Rücken liegt und Hanteln stemmt, und sagt völlig überrascht über ihre trainierten Muskeln:
Ma’am, ich kann gar nicht glauben, dass Sie über sechzig sind. Ich kenne wenige Männer in Ihrem Alter, die das hinkriegen, geschweige denn Frauen. Die meisten denken sich, warum soll ich mir in diesem Alter noch die Mühe machen und trainieren, wenn ich vom Mitgliedsbeitrag – so hoch ist der ja nun auch wieder nicht – Süßigkeiten für meine Enkel kaufen kann. Wie sieht eigentlich Ihr Work-out aus?
Oder andere Frauen, die im Studio trainieren, kommen zu ihr und teilen ihr zu vertraulich mit, dass ihre Schwiegermutter, die im gleichen Alter ist wie Hornclaw, sich weigert, Sport zu machen. Oder sie laden sie zum Kaffee ein und erzählen ihr, dass die Senioren dieses Studios jede Woche rumtönen, wandern zu gehen, um dann am Ende doch wieder nur zu picknicken und trinken und tanzen und singen und Karten zu spielen. Einmal hielt eine junge Frau auf dem Laufband neben ihrem ihr die Visitenkarte hin und sagte, sie sei Fernsehproduzentin für ein Sechs-Uhr-Abendprogramm, in dem ungewöhnliche Leute vorgestellt würden, und sie bat sie, in ihrer Show darüber zu sprechen, wie es ist, eine ältere Frau mit einem killer body zu sein. Statt ihre Mitgliedskarte – die noch zwanzig Tage gültig war – vor den Augen der Produzentin zu zerreißen, entschied sich Hornclaw einfach dafür, nicht mehr ins Fitnessstudio zu gehen, und änderte ihre Telefonnummer, um den Anrufen ihrer Trainerin zu entgehen.
Vielleicht könnten jüngere, im Fitnessstudio entdeckte Schädlingsbekämpfungsspezialisten im Fernsehen auftreten und ihren Körper präsentieren und Fans und Kritiker um sich scharen und professionell lächeln, während sie inkognito ihre Jobs weitermachten. Es ist zwar nicht genau das Gleiche, aber sie weiß, dass der Ehemann der Geschäftsführerin eines Onlinehandels, die letztes Jahr einen Auftritt in einer Show über erfolgreiche Unternehmer hatte, nebenbei Schädlingsbekämpfungsspezialist war. Vielleicht war er einfach nur schüchtern – er versuchte, nicht länger als ein paar Sekunden am Stück im Bild zu sein –, jedenfalls schaute er nicht in die Kamera und lächelte nicht. Aber am Ende hielt er ihr Produkt hoch und zeigte dazu einen hochgereckten Daumen. Sie bereiteten jeden Morgen mit mütterlicher Hingabe frisch Babynahrung zu und lieferten sie aus. Der Mann, der süßen Kürbis dämpfte und Fleisch hackte und Tofu zerbröselte und Karotten in Scheiben schnitt, mit denselben Händen, die dann seine Aufträge zur Schädlingsbekämpfung erledigten, weckte Gefühle wie Hohn und Mitleid in Hornclaw. Aber dann dachte sie daran, dass ihm seine Erfahrung mit dem ganzen Zerhacken und Zerteilen in diesem Unternehmen zugutekommen musste, und plötzlich war sie ganz großmütig gestimmt – es brauchte schon ein gewisses Geschick, um die Rolle eines passiven, aufopfernden Ehemanns zu spielen, der seiner talentierten Frau hilft, ihr Geschäft auszubauen, und sich dann umzudrehen und plötzlich ein völlig anderer Mensch zu sein. Der Schlüssel lag darin, sich mehrere absolut getrennt voneinander funktionierende Netzwerke zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Für Hornclaw, die das Internet nur nutzte, um E-Mails zu verschicken und Artikel zu lesen, wäre diese Art von Doppelleben zu schwierig und anstrengend und überhaupt ganz unnötig in dieser späten Phase ihres Lebens.
Es konnte nicht wegen dieser Show gewesen sein...
Erscheint lt. Verlag | 19.10.2022 |
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Übersetzer | Wibke Kuhn |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Alte • Altersdiskriminierung • Älterwerden • Asien • Auftragskiller • Auftragsmörderin • Einsamer Wolf • Empathie • Empowerment • Feminismus • Frau • Freundschaft • Gesellschaft • Killer • literarisch • Literatur • Mord • Mörder • Popkultur • Spannung • Südkorea • Tod |
ISBN-10 | 3-8437-2812-7 / 3843728127 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2812-6 / 9783843728126 |
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