Wer rettet Amerika? (eBook)
352 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01327-8 (ISBN)
Claudia Buckenmaier, zuvor im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin tätig, begann ihre Auslandslaufbahn als Vertretung der ARD-Korrespondentin in London, war dann von 2007 bis 2012 Leiterin des Studios Stockholm und berichtete für die ARD aus Skandinavien und dem Baltikum. 2012 übernahm sie die Leitung der Auslandsredaktion des NDR in Hamburg, 2017 wurde sie ARD-Korrespondentin in Washington. Bis Juni 2022 leitete Buckenmaier das Studio in Washington. Seither arbeitet sie wieder als Korrespondentin im ARD-Hauptstadtstudio.
Claudia Buckenmaier, zuvor im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin tätig, begann ihre Auslandslaufbahn als Vertretung der ARD-Korrespondentin in London, war dann von 2007 bis 2012 Leiterin des Studios Stockholm und berichtete für die ARD aus Skandinavien und dem Baltikum. 2012 übernahm sie die Leitung der Auslandsredaktion des NDR in Hamburg, 2017 wurde sie ARD-Korrespondentin in Washington. Bis Juni 2022 leitete Buckenmaier das Studio in Washington. Seither arbeitet sie wieder als Korrespondentin im ARD-Hauptstadtstudio.
Ein verwundetes Land – zwei Momentaufnahmen
Wie die Pandemie eine Familie spaltet
«Die Leute haben noch immer im Kopf, wie Trump sagte: Corona ist ein Schwindel, die Impfung bringt euch um. Das hat sich festgesetzt.»
Stephanie Rimel aus Pennsylvania
Als Joe Biden am Tag seiner Vereidigung zum Präsidenten ankündigt, die Menschen von der Pandemie zu befreien, richtet er sich an ein zutiefst verwundetes und verunsichertes Land. Er setzt auf Vernunft, Einsicht, darauf, dass es ihm gelingen wird, die Menschen davon zu überzeugen, das Virus als das zu sehen, was es ist, als einen Angriff auf die Gesundheit aller, egal welcher Partei sie sich zugehörig fühlen. Eine medizinische Krise eignet sich nicht für politische Machtspiele, davon ist Biden überzeugt. Nicht nur seine Wählerinnen und Wähler, sondern alle Menschen im Land werden ihren neuen Präsidenten an diesem Versprechen messen. Biden will schnell handeln, das Problem sei dringend. Selten in der Geschichte der USA sei eine Zeit so schwierig gewesen. Biden muss in dem Moment bewusst sein, was für ihn auf dem Spiel steht. Die Empathie, das Mitgefühl für all jene, die jemanden an das Virus verloren haben, das nehmen ihm die Menschen ab. Aber die beschwörenden Worte, dass das Virus die Menschen zusammenbringe, es die Nation eine, so wie es früher Kriege getan hätten, wie es ein gemeinsamer Feind vermocht habe, gegen den man nur geschlossen siegreich sein könne – diese Worte verhallen bei vielen ungehört. Genauso wie Bidens Bitte an die Amerikaner, sich ihm anzuschließen.
An diesem 20. Januar 2021 ruft er die Bevölkerung zu einem Moment des stillen Gebets auf, um all der Opfer der Pandemie zu gedenken. Bereits mehr als 400000 Tote sind es zu diesem Zeitpunkt. «Wir werden sie ehren, indem wir das Volk und die Nation werden, von der wir wissen, dass wir sie sein können und sein sollten.»
Gut vier Autostunden von Washington entfernt, in einem Hotelzimmer in Pennsylvania, schalten Cindy Catalano und ihr geschiedener Ehemann Alfred Dixon den Fernseher ein. Verzweifelt, betäubt von großem Leid. Die beiden haben an diesem Tag ihren einzigen Sohn an das Virus verloren, er war siebenundzwanzig Jahre alt, gestorben in einem Krankenhaus, das nicht in der Nähe der Wohnungen seiner Eltern lag. «Ich weiß nicht, warum mir das so wichtig war, aber ich wollte wissen, der wievielte Coronatote Kyle war», sagt Cindy. Der Nachrichtensender CNN blendet in dieser Phase der Pandemie immer eine kleine Tafel im laufenden Programm ein, auf der die aktuellen Opferzahlen zu sehen sind. Cindys Sohn muss unter denen sein, die die Zahl auf 410000 bringen. Dass an diesem Tag Joe Biden als Präsident vereidigt wird, das nehmen Cindy und ihr Mann Alfred kaum wahr.
Wir lernen Cindy, ihren Mann und ihre Tochter Stephanie Rimel knapp ein Jahr später kennen. Die heute einunddreißigjährige Stephanie ist das älteste der vier Kinder. Alfred ist ihr Stiefvater. Die zwei anderen Töchter sind gleich nach dem Familienfest an Thanksgiving wieder nach Hause nach Pittsburgh gefahren. Noch immer ist die Trauer um den verlorenen Sohn und Bruder groß. Und über allem schwebt die Frage nach dem Warum. Würde Kyle noch leben, wenn er die Gefahr, die von Corona ausgeht, ernster genommen hätte, wenn er nicht, ganz im Vertrauen auf den früheren Präsidenten Donald Trump, gedacht hätte, ihm könne die Krankheit nichts anhaben, er sei doch jung, stark, gesund? Quälende Fragen, die den Schmerz immer neu aufwühlen.
Wir sitzen zusammen am Esstisch in dem Haus, in dem Kyle bis zuletzt mit seinem Vater gelebt hat. Die Eltern sind seit Jahren getrennt, doch die Krankheit und der Tod ihres Sohnes haben sie einander wieder nähergebracht. «Wir funktionieren als Einheit», sagt Cindy und fragt mich: «Ergibt das Sinn?» Obwohl sie doch schon so lange getrennt leben, meint sie damit. Seit Kyles Tod wechselt sie sich mit den drei Töchtern ab, um Alfred Gesellschaft zu leisten, der jetzt allein in dem Haus lebt.
Stephanie zieht ein paar Fotos aus einem Karton, in dem sie viele frische Abzüge aufbewahrt. Sie sind schwer zu ertragen. Aufnahmen von Händen, die die große Hand ihres Bruders Kyle halten. Sie hat die Fotos kurz vor seinem Tod gemacht. Stephanie will diesen Moment mit uns teilen. Ihr war es wichtig, diese Erinnerung zu dokumentieren, die letzte Begegnung mit ihrem geliebten Bruder. «Das ist meine Hand», beschreibt sie das erste Bild. «Dieses Foto zeigt die Hand unserer Mutter. Da sieht man die Hände meiner Schwestern. Nur Alfred, unser Vater, wollte so ein Foto nicht.»
Sie erinnern sich an den 20. Januar 2021. Trotz Corona darf die ganze Familie zu Kyle Dixon. Der junge Mann liegt im Sterben. Die Hauptstadt, in der zeitgleich ein neuer Präsident vereidigt wird, ist weit weg. Stephanie kommen sofort die Tränen, als sie an Kyles letzte Stunden denkt. «Ich hielt seine Hand. Meine beiden Schwestern standen am Fußende von Kyles Bett. Unsere Mutter stand auf der anderen Seite, unser Vater etwas weiter weg, an der Wand. Wir hielten Kyle fest, bis zum Ende. Er krümmte sich vor Schmerzen. Wenn die Menschen gesehen hätten, wie mein Bruder starb, vielleicht hätten sie dann etwas mehr Mitgefühl, wenn es ums Impfen geht. Niemand sollte seinen siebenundzwanzigjährigen, gesunden Bruder so sterben sehen. Er ist erstickt. Es war schrecklich.»
Verzweifelt über den frühen Tod von Kyle, hat die Familie eine für die USA äußerst ungewöhnliche Grabinschrift gewählt. Auf dem Grabstein für den jungen Mann steht unter Geburts- und Sterbedatum: «Fuck Covid-19». Das ist so ungewohnt drastisch und direkt, dass Zeitungen und Radiosender darüber berichtet haben. Für die Familie aus Pennsylvania ist es ein Aufschrei gegen eine Krankheit, die – davon sind Kyles Eltern und Geschwister überzeugt – nicht tödlich hätte sein müssen, wäre sie von Anfang an ernst genommen worden. Sie machen Trump für Kyles Tod verantwortlich. Das hat einen Keil in die weitverzweigte Familie getrieben, denn es gibt Tanten und Onkel, die das ganz anders sehen. Sie halten bis heute zum früheren Präsidenten, und das bedeutet auch, dass sie die Pandemie in einem anderen Licht sehen. Alles sei nur aufgebauscht, von den Demokraten; Corona diene als Mittel, um Menschen zu drangsalieren, ihnen ihre Freiheit zu nehmen. Das Schicksal des Neffen wird ausgeblendet. Ob man Corona ernst nimmt, sagt in den USA heute viel darüber aus, wo man politisch steht.
Anfangs sieht es so aus, als ob Biden den Umgang der Amerikaner mit der Pandemie tatsächlich in eine andere Richtung lenken könnte. Er profitiert davon, dass Trumps oft unorthodoxe Art, Politik zu machen, dazu geführt hat, dass die USA relativ früh über Impfstoffe verfügen. Bidens Regierung organisiert den Start der Impfkampagne. Die Zahl der Geimpften schnellt in die Höhe; eine Mehrheit scheint der Regierung in dieser Frage zu vertrauen. Am 11. März, wenige Wochen nach Amtsantritt, unterzeichnet Biden ein rund 1,9 Billionen Dollar schweres Hilfspaket. Es gelingt ihm zwar nicht, republikanische Politiker auf seine Seite zu ziehen, obwohl sie ähnlich umfassenden Hilfsprogrammen unter Trump zugestimmt hatten, aber die Demokraten stehen, bis auf einen Abgeordneten im Repräsentantenhaus, geschlossen hinter ihrem Präsidenten. Noch. Bidens Umfragewerte sind gut.
Gleich zu Beginn hat der neue Präsident per Dekret eine Maskenpflicht erlassen, für alle Bundesbereiche und in Transportmitteln, vor allem in Flugzeugen. Das bringt ihm Kritik ein, aber in den ersten Monaten schadet es ihm nicht, weil die Maskenpflicht für Geimpfte an vielen Orten bald wieder fällt. Nach den verheerenden Entwicklungen unter Trump scheint die Pandemie unter Kontrolle. Ein Trugschluss. Bidens Regierung will die Vorzeichen einer neuen Infektionswelle nicht wahrhaben. Obwohl die Gesundheitsbehörde Ende Juni bereits warnt, feiert der Präsident am 4. Juli, dem Nationalfeiertag der USA, im Garten des Weißen Hauses mit großem Pathos eine Art Freiheitsfest mit vielen Menschen, ohne Masken: «Vor 245 Jahren haben wir unsere Unabhängigkeit erklärt. Heute stehen wir kurz davor, unsere Unabhängigkeit von einem tödlichen Virus zu erklären.» Dabei hat Biden das Ziel verfehlt, bis zu diesem Tag 70 Prozent der erwachsenen Bevölkerung mindestens einmal geimpft zu haben. Wenn auch nur knapp, mit 66,8 Prozent.
Schon kurze Zeit später ist klar, dass die auf dem Fest verbreitete Botschaft, die die Hoffnung auf ein Ende der Pandemie geschürt hatte, voreilig war. Die neue Delta-Variante des Coronavirus schlägt mit voller Wucht zu. Die Folge: Vertrauensverlust. Die Rückkehr zur Maskenpflicht, auch für Geimpfte, löst einen wahren Kulturkampf aus. Die Anordnung, Masken zu tragen, wird als Verstoß gegen die Verfassung bezeichnet. Republikanisch geführte Regierungen in einzelnen Bundesstaaten politisieren die Diskussion über eine Maskenpflicht so weit, dass sie selbst in Schulen, die Infektionen mithilfe von Masken verhindern wollen, das Tragen untersagen. Immer mehr Menschen bezweifeln die Wirksamkeit der Impfung, als zunehmend auch Geimpfte an Corona erkranken. Das Argument, dass diese Menschen gerade durch das Vakzin nur einen leichten Krankheitsverlauf haben, dringt zu Impfgegnern nicht durch. Bidens anfänglicher Erfolg hat sich in wenigen Monaten ins Gegenteil verkehrt.
Kyles Familie kann...
Erscheint lt. Verlag | 13.9.2022 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Afghanistan • Amerika • Black lives matter • Corona • Demokraten • Donald Trump • Internationale Beziehungen • Joseph Biden • Kamala Harris • Midterm-Elections • midterms • Mittlerer Westen • New York • Ostküste • Rassismus • Repräsentantenhaus • Republikaner • Senat • Silicon Valley • Soziale Spaltung • transatlantisches Verhältnis • USA • Washington • Zwischenwahlen |
ISBN-10 | 3-644-01327-6 / 3644013276 |
ISBN-13 | 978-3-644-01327-8 / 9783644013278 |
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