Das grüne Jahrzehnt (eBook)
336 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-29320-8 (ISBN)
Unsere Wirtschaft steht vor der größten Transformation seit der industriellen Revolution: Für den Umbau zur Klimaneutralität müssen bis 2030 die Weichen gestellt sein. Viele Unternehmen haben das erkannt und steuern bereits um. Sie investieren Milliarden, um Jobs und ihre Zukunft zu sichern. Horst von Buttlar, Chefredakteur von »Capital«, betrachtet erstmals die Auswirkungen der Klimakrise auf die heimische Wirtschaft: Anhand zahlreicher Beispiele - von Konzernen wie BASF oder Thyssenkrupp bis zu jungen Firmen wie Northvolt oder Climeworks, die an innovativen Technologien forschen - zeigt er, welche Strategien Unternehmen verfolgen, welche Risiken und Herausforderungen es gibt. Klar ist: Wer keine Nachhaltigkeitsstrategie hat, hat keine Zukunft. Aber wir sind nicht ohnmächtig, und auf Firmen, die umdenken, warten große Chancen.
Horst von Buttlar ist Chefredakteur des Wirtschaftsmagazins »Capital« und Chefredakteur »ntv, Wirtschaft und Wissen« bei RTL News. Daneben ist er Moderator des erfolgreichen Wirtschaftspodcasts »Die Stunde Null«. Er studierte Slawistik, Geschichte und Politikwissenschaften und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. 2004 ging er als Redakteur zur »Financial Times Deutschland« (FTD) und übernahm 2007 die Leitung des Reporterteams, 2009 wurde er Ressortleiter bei den G+J Wirtschaftsmedien (»FTD«, »Capital«, »Impulse«, »Business Punk«). 2005 wurde er mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. 2008 bekam er den Herbert-Quandt-Medien-Preis für Wirtschaftspublizistik verliehen, 2019 wurde er als »Wirtschaftsjournalist des Jahres« ausgezeichnet.
KAPITEL 1
GREEN VIBRATIONS: ETWAS IST IN BEWEGUNG GERATEN
Das neue Betriebssystem
Diese Geschichte könnte in Island beginnen, auf einer Hochebene südlich von Reykjavik, auf dem Gebiet eines großen Vulkansystems, wo seit September 2021 eine wundersame Anlage steht. Sie nennt sich Orca, was im Isländischen für Energie steht, errichtet hat sie das Schweizer Unternehmen Climeworks, und sie hat nur eine Aufgabe: CO2 aus der Luft zu filtern, zunächst 4000 Tonnen pro Jahr.
Die Geschichte könnte auch in Ludwigshafen beginnen, wo der Chef der BASF, Martin Brudermüller, emsig darüber nachdenkt, wie er bis 2030 ein Viertel seiner Emissionen senken kann. In Ludwigshafen! Eine Konzernzentrale wie ein Stadtviertel, zehn Quadratkilometer groß, wo die Öfen bei 850 Grad glühen und Schlote seit Jahrzehnten rauchen und dampfen, der höchste ist 140 Meter hoch. Die BASF, die allein hier acht Millionen Tonnen Treibhausgase und weltweit knapp 21 Millionen Tonnen emittiert, will künftig eigene Windparks in der Nordsee betreiben und zusammen mit RWE den Strom nach Ludwigshafen transportieren.
Ihren Anfang könnte diese Geschichte auch in Leipzig nehmen, wo an einem Spätsommertag der Chef von Porsche auf einem kleinen Hügel eines Geländes für Testfahrten steht. Aus der Ferne heulen Motoren wie Sirenen aus einer alten Zeit, aber die Taycans, die ihre Runden drehen, sind elektrisch, und Oliver Blume spricht darüber, dass Porsche bis 2030 vier von fünf Autos mit E-Antrieb bauen wird. Und klimaneutral werden sowieso.
Die Geschichte könnte weitergehen in Essen und Duisburg, wo Thyssenkrupp mit »grünem Stahl« experimentiert und Marie Jaroni all die Projekte koordinieren soll, das Umrüsten der Hochöfen und den Einkauf von Wasserstoff. Man sollte an den Bodensee reisen, von woher seit über einhundert Jahren die großen Motoren von MTU kommen, wo der 13-jährige Sohn von Vorstandschef Andreas Schell dem Vater die Augen öffnete, weil er sagte: »Mit diesen Dieselmotoren, das wird doch nicht mehr lange gut gehen.«
Wir könnten außerdem nach London reisen, wo das deutsche Start-up Ubitricity Tausende Ladestationen für E-Autos in Straßenlaternen baut. Unbedingt besuchen müssten wir Wittenberg, die Lutherstadt, wo zwei Gründer neuartige Batteriespeicher entwickelt haben, die ein hundert Jahre altes Problem lösen, das wir schon aus Taschenlampen kennen. Oder wir fahren bis fast an den Polarkreis, in die alte Goldstadt Skellefteå im Norden Schwedens, wo Northvolt, ein Unternehmen, das es vor sechs Jahren noch nicht einmal gab, die größte Batteriefabrik Europas erbaut hat. Und wir müssten, zumindest gedanklich, nach Mountain View, Kalifornien, fliegen, wo Google im Januar 2021 seinen neuen Bay View Campus bezogen hat, einen Bau mit pagodenartigen Dächern und 50 000 Solarpanels. Der IT-Konzern will künftig jeden Server und jedes Datenzentrum mit erneuerbaren Energien betreiben. Google-Chef Sundar Pichai sagt: »Ich wünschte, wir hätten zehn Jahre vorher angefangen.«[1]
Ja, es gibt viele Möglichkeiten anzufangen, und vermutlich steckt darin schon die eine große Geschichte: Man kann inzwischen sehr viele Geschichten erzählen, wenn man über die grüne Zukunft und grüne Revolution unserer Wirtschaft schreibt, und es werden immer mehr. Etwas ist in Bewegung geraten in unserer Gesellschaft, in der Politik, vor allem aber im Maschinenraum der Wirtschaft, es vibriert, schwingt und bebt; es wird nachgedacht, umgedacht, getüftelt, geplant, sich umgestellt. Trotz der Pandemie wurden die Jahre 2020 und 2021 von vielen Menschen als Wendepunkt wahrgenommen. Man hatte das Gefühl, es tut sich was. Es gab ein Davor und Danach.
Vor uns liegt eine Transformation, wie wir sie in ihrer Dimension seit der industriellen Revolution nicht erlebt haben: der Umbau zu einer klimaneutralen Gesellschaft und Wirtschaft. Das heißt, wir streben einen Zustand an, in dem wir nicht mehr CO2 und andere Treibhausgase emittieren, als der Atmosphäre wieder entzogen werden können, durch die Natur in sogenannten Kohlenstoffsenken (Böden, Wälder und Ozeane) oder durch vom Menschen geschaffene Wege und Technologien.
Und wenn ich sage »Wirtschaft«, dann meine ich letztlich uns alle, denn trotz der Vordenker, Pionierinnen und Gründer betrifft der Umbau jeden, unsere Jobs in den Unternehmen, die Produkte, die wir kaufen, weniger oder gar nicht mehr kaufen. Er betrifft unseren Lebensstil, die Art, wie wir shoppen, konsumieren und wegwerfen, wie wir essen, uns kleiden oder reisen. »Umbau« klingt deshalb fast zu harmlos, weil ständig irgendetwas umgebaut wird: Unternehmen, Abteilungen, Behörden, Regierungen, Sozialversicherungen. Meist heißt Umbau, dass irgendjemand irgendwo etwas wegsparen oder schneller und »flexibler« machen will.
Der Umbau zur Klimaneutralität ist anders. Er ist wie ein neues Betriebssystem für unsere Wirtschaft und Gesellschaft. Denn seit jeher ist unsere Wirtschaft auf Wachstum ausgerichtet, und seit rund zwei Jahrhunderten werden dafür vor allem fossile Brennstoffe verfeuert. Die Ära von Öl, Kohle und Gas neigt sich dem Ende zu, aber wir wollen dennoch weiterwachsen. Zu dem Wachstum kommt eine zweite Bewegung: auf null. Mehr und weniger simultan.
Jede Transformation der Wirtschaft hat unsere Gesellschaft verändert, egal, ob man das Rad, den Buchdruck, die Dampfmaschine, die Fließbandproduktion oder das Internet betrachtet. Seit rund 150 Jahren aber hieß Transformation vor allem eine Bewegung hin zu einem Mehr. Es ging um Wachstum. Statt irgendwo 100 Dinge herzustellen, wollten wir 105 davon produzieren – und natürlich verkaufen. Und dann 110. Dann 120.
Die Transformation zur Klimaneutralität verlangt eine komplexe Bewegung, es ist in etwa so, als würde man gleichzeitig ein- und ausatmen. Einerseits wird die Weltwirtschaft weiterwachsen, andererseits muss sie auf null Emissionen kommen. Dafür müssen wir die Energieversorgung komplett umstellen, Fabriken umrüsten, neue Fabriken hochziehen, Infrastruktur austauschen, Leitungen, Netze, Anlagen, und manche Wirtschaftszweige, die dem Klima schaden, müssen sich komplett neu erfinden – oder sie werden verschwinden.
Die Transformation betrifft überdies nicht eine Region, sondern die ganze Welt. Alle Menschen müssen theoretisch mitmachen, zumindest wenn diese Transformation gelingen soll; und das muss sie, unsere Zukunft hängt davon ab. Drittens ist diese Transformation die längste geplante Reise, auf die unsere moderne Gesellschaft gehen will, sie ist ein Mega-Marathon. 2050! Dieses Datum war bisher etwas für Hollywood und Science-Fiction-Romane.
Und viertens: Eine solche Transformation verlangt eines der größten, entschlossensten und mutigsten Investitionsprogramme in der Geschichte der Menschheit. Unsere Wirtschaft wird sich dadurch für immer verändern. Und zumindest nach dem heutigen Stand, nach unserem Wissen, wird es keinen Punkt geben, an dem wir sagen: Wir lassen das. Wir machen das doch nicht. Wir machen so weiter wie vorher. Diese Erkenntnis muss man sich erst einmal klar machen. Ist sie uns klar?
Viele der Entscheidungen, die für die Klimaneutralität bis im Jahre 2050 – das Jahr, auf das das Pariser Klimaabkommen und die Selbstverpflichtung der EU abzielen – relevant sind, müssen wir bis 2030 fällen. Wenn man genau hinschaut, laufen die meisten der Prognosen, Programme und Pläne daher auch bis 2030. Das ist die Zeitspanne, in der etwas passieren muss. Wenn man erst danach anfängt, ist es zu spät.
Die EU etwa hat sich zum Ziel gesetzt, mindestens 55 Prozent ihrer Treibhausgasemissionen bis 2030 (im Vergleich zu 1990) zu reduzieren. Deutschland strebt minus 65 Prozent bis 2030 an. Die USA wollen den Ausstoß halbieren, allerdings nicht im Vergleich zu 1990, sondern zu 2005. Die Zeiträume bis 2050 werden zwar ebenfalls in bunten Grafiken und Plänen abgebildet, aber hier werden die Aussagen vager und unkonkreter.
Und deshalb befinden wir uns im »grünen Jahrzehnt«. Nicht nur wir in Deutschland, nicht nur in Europa, die ganze Welt erwartet ein »grünes Jahrzehnt«. Dieser Begriff ist nicht politisch gemeint. Auch liberale, linke oder konservative Regierungen müssen Entscheidungen fällen und Weichen stellen, denn die Zeit ist knapp. Die Jahre bis 2030 erfordern eine Kraftanstrengung und Mobilisierung, die vieles in den Schatten stellen werden, was wir in der jüngeren Vergangenheit erlebt haben: Kriegsproduktion, Rohstoffkrisen, Finanzkrisen, Automatisierung, Digitalisierung. Eine gute Nachricht gibt es: Die Technologien, die wir bis 2030 für die CO2-Reduktion benötigen, sind im Prinzip erprobt und vorhanden, auch die politischen Instrumente. Wir sind nicht ratlos, wir müssen nicht auf grandiose neue Erfindungen warten, es geht erst einmal nur um den politischen und unser aller Willen, das Ganze umzusetzen. Nach 2030 muss es allerdings Technologieschübe und -sprünge geben, die in ihrer Bedeutung und Wucht die Suche nach einem Coronaimpfstoff übertreffen.[2]
Das bedeutet nicht, dass diese Umwälzung alle gleichermaßen betrifft, auch wenn alle sich umstellen und vor allem mitziehen müssen. Ein Stahlhersteller ist anders betroffen als eine Werbeagentur, ein Ingenieur, der bisher Motoren, Einspritzpumpen oder Abgasreinigungssysteme entwickelt hat, steht vor anderen Herausforderungen als eine Wissenschaftlerin, die aus Plastikmüll Synthesegas...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2022 |
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Zusatzinfo | Mit Grafiken |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2022 • Automobilindustrie • autozulieferer • BASF • Capital • CO2 Bepreisung • Debattenbuch • donut Ökonomie • Donut Raworth • E-Autos • eBooks • Energiekrise • Energiewende • Erneuerbare Energien • Fridays For Future • Green New Deal • greenstart • Greta Thunberg • Grüne Landwirtschaft • grüne Transformation • Industrie Klimawandel • klimaneutrale Wirtschaft • Klimaneutralität • Klimaschutz • klimaschutz industrie • Klima startup • Klimawandel • Klimaziele • Kohleausstieg • Nachhaltigkeit • Neuerscheinung • podcast die stunde null • Porsche • Tesla • ThyssenKrupp • Ukraine Krieg • Verkehrswende • Vince Ebert • Windkraft • Wirtschaft |
ISBN-10 | 3-641-29320-0 / 3641293200 |
ISBN-13 | 978-3-641-29320-8 / 9783641293208 |
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