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348 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30431-2 (ISBN)
Luzia Braun ist Journalistin, Moderatorin und Filmemacherin. Sie war viele Jahre das Gesicht der ZDF-Kultursendung Aspekte und Redakteurin der Sendung Das Literarische Quartett.
Luzia Braun ist Journalistin, Moderatorin und Filmemacherin. Sie war viele Jahre das Gesicht der ZDF-Kultursendung Aspekte und Redakteurin der Sendung Das Literarische Quartett. Ursula März ist Literaturkritikerin und Schriftstellerin. Sie arbeitet u.a. für Die Zeit und Deutschlandradio Kultur. Zuletzt erschien von ihr der Bestseller Tante Martl (2019).
Peter Sloterdijk
Irgendjemand musste es ja geben, der so aussieht
▪ Selbstironie zählt nicht unbedingt zu den Eigenschaften bedeutender Philosophen. Auf Peter Sloterdijk trifft das nicht zu, gern macht er sich über die mit dem Alter zunehmenden Fliehkräfte und eine gewisse Fusseligkeit seiner schwer zu bändigenden Haare lustig. Professor Sloterdijk, 1947 in Karlsruhe geboren, zählt zu den Prominenzen, die jeder, der sie einmal gesehen hat, als Piktogramm erkennen würde. Die eigenwillige Frisur, die auf die Nasenspitze gerückte schmale Brille und der Schnauzbart genügen.
Darüber hinaus zeichnet ihn die Originalität seines enorm produktiven publizistischen Schaffens aus. »Kritik der zynischen Vernunft«, ein über 1000 Seiten starkes Werk, schlug 1983 in die philosophischen Denkschulen der alten Bundesrepublik ein wie eine Bombe und wurde ein Beststeller, der den Verfasser international bekannt machte. Es folgten Studien, deren weiter Themenkreis regelmäßig für Überraschungen sorgte. Und es folgten skandalumwitterte Debatten, die Sloterdijk nicht ohne erkennbare Lust an Provokation und Konfrontation auslöste. Eine der jüngeren ging aus seinem Vorschlag hervor, das staatliche Steuerrecht zu revolutionieren und durch das Konzept der freiwilligen Abgabe zu ersetzen.
Aber über Steuern wollen wir nicht mit ihm sprechen, sondern über die kulturellen Veränderungen durch den Einzug des Spiegels ins alltägliche Leben, ein Thema, mit dem er sich in seinen Schriften und Vorträgen mehrfach befasst hat. Zu unserem Erstaunen beantwortet der viel gefragte und viel beschäftigte Philosoph unsere per Mail gestellte Bitte, mit uns über das Thema Gesicht zu sprechen, noch am gleichen Tag zustimmend. Das Thema sei, lässt er über seine Ehefrau ausrichten, in der Tat ungewöhnlich, aber interessant.
Es ist Sommer 2020, Corona-Zeit, die Pläne vieler scheitern an Reisebeschränkungen. Auch das Ehepaar Sloterdijk wäre unter anderen Umständen an einem anderen Ort und würde seine täglichen Fahrradtouren nicht im Berliner Westen, sondern auf Sardinien oder am Zweitwohnsitz in Südfrankreich durchführen.
So aber begrüßen uns beide im Entree der großzügigen, am grünen Rand von Westberlin gelegenen Wohnung. Die offen ineinander übergehenden, im modernen Landhausstil eingerichteten Räume verströmen so wenig repräsentative Steifheit wie die Gastgeber selbst. Peter Sloterdijk kommt uns barfuß und im legeren Baumwollhemd entgegen.
Auf dem großen Holztisch im Wintergarten stehen Gläser und eine Karaffe mit Wasser bereit. Unser Blick fällt auf eine Fotografie, die neben Sloterdijk an der Wand hängt. Sie zeigt ihn als jungen Mann. Die Haare sind länger und voller, das Gesicht ist etwas schmaler und weicher. Der melancholisch-verträumte Blick erinnert an einen Musiker oder einen Poeten. Er wird auf das Porträt und die Irritation, die der Vergleich des heutigen mit dem vergangenen Ich auslöst, selbst zu sprechen kommen. Aber zuvor stellen wir einen Handspiegel vor ihm auf und bitten ihn zu beschreiben, was er darin sieht. Mit dieser kleinen Aktion wollen wir alle Gespräche beginnen lassen. ▪
Können Sie bitte beschreiben, was Sie im Spiegel sehen?
Dazu brauche ich keinen Spiegel.
Sie haben ihn ja auch gleich weggeschoben.
Diese Frage habe ich bereits in meinen Notizbüchern vor acht Jahren beantwortet. Beim Blick in den Spiegel kommt mir nur ein Satz in den Sinn: »Irgendjemand musste es ja geben, der so aussieht.« Das ist neutral, ein bisschen nach beiden Seiten hin auslegbar. Auf jeden Fall ist es nicht primäre Selbstgefälligkeit. Ich habe ja damals die Unterscheidung gemacht zwischen Selbstauffälligkeit und Selbstgefälligkeit. Also, dass man sich selber auffällt und an sich selber irgendwie Anstoß nimmt und fragt, muss das wirklich sein, dass ich so aussehe, wie ich nun einmal bin. Das geht – glaube ich – dem primären Narzissmus sogar noch voraus. Also man fühlt sich mit sich selber eher belastet als von sich entzückt. Ich kenne ein paar Leute, die von sich entzückt sind, aber die sind in meinen Augen meistens nicht so ernst zu nehmen.
Diese Empfindung kennen viele, man schaut in den Spiegel und denkt, na ja, wurde eben so ausgewürfelt, hätte auch die Hübschere rechts sein können, aber ebenso der Schlimmere links. In Ihrem Satz schwingt so etwas wie schicksalhaftes Einverständnis mit: Einer musste halt so aussehen wie ich. Oder ist es eher ein Hadern?
Ich glaube, es ist mehr Einverständnis, ja: Es ist Einverständnis. Denn man kann es sich gar nicht leisten, von sich selber so stark abweichen zu wollen. Ich denke, es ist eine elementare Lebensklugheit, sich an dem alten Satz von Gottfried Benn zu orientieren: »Rechne mit deinen Beständen.« Nicht mit den Programmen, sondern mit den Beständen. Zu den Programmen würde ja das Schöner-Werden gehören. Schöner wohnen geht, aber Schöner Werden ist schwierig.
Mögen Sie denn, was Sie im Spiegel sehen, wenn Sie hineinschauen?
Na ja, manchmal ja, manchmal nein. Da kommen verschiedene Dinge zusammen. Ich bin ja relativ früh fotografiert worden, ich meine jetzt nicht die Babyfotos. Nachdem ich eine öffentliche Person geworden war, hatte ich das Glück, von Isolde Ohlbaum porträtiert zu werden. Sie ist eine der heimlichen Königinnen des Porträts hierzulande, sofern man das Glück hat, Schriftsteller zu sein.
Sie sehen auf dem Foto sehr gut aus.
Hm ja, das ist aber eigentlich sehr peinlich, weil sie da einen hübschen jungen Mann erfunden hat, der ich nie war. Also zumindest nicht in dieser Form. Es gibt noch den späteren, mehr so ein gefallener Engel, der irgendwann begriffen hat, es ist zu spät für die Rückkehr in den Herkunftshimmel.
Sie sagen, diesen jungen Mann gab es gar nicht. Heißt das, Sie fremdeln mit sich auf diesem Foto?
Ja ja ja.
Also »Ich ist ein anderer«?
Ja, das ist ein anderer und der deckt sich auf jeden Fall nicht mit dem Selbstgefühl, also mit dem Bild, das ich von mir selber habe, von mir selber hatte.
Nämlich?
Dass ich eigentlich schiele, disharmonischer aussehen müsste. Irgendwie zerrissener. Na ja, man könnte mit ein bisschen Fantasie so eine leichte Melancholie vermuten. Und man kann sich vorstellen, dass großherzige weibliche Wesen diesen jungen Mann retten wollen.
Ein rührendes Bild! Worin unterscheidet sich denn ein Foto vom Spiegelbild?
Nun beide haben eine lichttechnische Grundlage. Die Fotografie ist so etwas wie ein Sekundenspiegel, man schneidet aus dem Lichtstrom eine Sekunde, eine Hundertstelsekunde heraus. Während das Spiegelbild kontinuierlich bleibt. Das geht ja mit dem bewegten Körper mit.
Hans Belting greift in seiner »Geschichte des Gesichts« den Gedanken auf, dass die Fotografie immer einen Moment festhält, der vergangen ist. Und deswegen sei das Foto ein Zeugnis unserer Sterblichkeit, der Spiegel hingegen suggeriert Gegenwart: Schau! So siehst du j e t z t aus.
Also ich erinnere mich gut daran, dass ich vor ein paar Jahren hochmelancholische Empfindungen hatte, für die ich nicht einmal Fotos sehen musste. Es genügte, dass ich Leute auf der Straße gesehen habe. Die Vorstellung, dass die in ein paar Jahren nicht mehr da sind, war so heftig, dass ich mich am liebsten vergraben hätte, um nicht so viel Sterblichkeit um mich herum haben zu müssen. Das hat dann Gott sei Dank aufgehört, so kann man ja nicht leben.
Manche haben den Tick, zum Spiegel zu rennen, wenn sie sich irgendwie unruhig fühlen, und zu schauen, ob alles noch in Ordnung ist. Sozusagen die Nase noch in der Mitte sitzt.
Immerhin sehen sie dann, dass sie in der Zwischenzeit nicht Picasso in die Hände gefallen sind. Der mit ihren Gesichtsteilen macht, was er will.
Glauben Sie, diese Art von Selbstvergewisserung ist auch die Grundlage unserer heutigen Selfie-Gesellschaft?
Beim Selfie wird die Spiegelfunktion ausgeweitet, d.h., diese egotechnischen Medien sind nicht mehr an die eigenen vier Wände gebunden, seitdem es diese Kameras gibt. Man kann den Spiegel, den Garderobenspiegel, mit auf die Straße nehmen. Das ist eine Erfahrung, die viele Leute begeistert, weil sie damit auch den Hintergrund mitnehmen können. Da wird das Verhältnis von Apartment und Außenwelt umgedreht. Wo immer ich bin, kann ich sozusagen meinen eigenen Raum erzeugen.
Und das kann jeder und jede, ganz demokratisch. Wie war das kulturhistorisch beim Spiegel?
Lange war der Spiegel ein aristokratisches Instrument. Erst im 19. Jahrhundert wurde der Spiegel als ein neues egotechnisches System eingeführt, und wahrscheinlich gehört die Demokratisierung des Spiegels zu den mediengeschichtlich verborgenen großen Ereignissen des 19. Jahrhunderts. In meinen Augen ist der Spiegel dazu da, die Schwächung der religiösen Kontrolle zu ersetzen durch Selbsterfahrung. Früher hieß es und wurde auch glaubhaft gemacht: Gott sieht alles. Das heißt, der Mensch, der sich beobachtet fühlt, verhält sich besser. Die systematische Frage, die zu beantworten ist, heißt deshalb: Wie sorgen wir dafür, dass die Menschen bescheiden werden? Und die einfache Antwort lautet: Wir zeigen ihnen sie selbst. Denn der Größenwahn, der als »diabolische« Gegengröße zu dem »Gott sieht alles« in Betracht zu ziehen wäre, arbeitet...
Erscheint lt. Verlag | 8.9.2022 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Anastasia Biefang • Aspekte • Axel Schulz • Eric Wrede • Gesicht • Gesprächsband • Kulturgeschichte • Luzia Braun • Narzissmus • Peter Sloterdijk • Porträts • Robert Seethaler • Selbstoptimierung • Selfies • Spiegelstadium • Super-Recognizer • Tanja Fischer • Ursula März • Wolfgang Joop • zdf aspekte |
ISBN-10 | 3-462-30431-3 / 3462304313 |
ISBN-13 | 978-3-462-30431-2 / 9783462304312 |
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