Streicheln oder Schlachten (eBook)

Warum unser Verhältnis zu Tieren so kompliziert ist - und was das über uns aussagt
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
240 Seiten
Kösel (Verlag)
978-3-641-28601-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Streicheln oder Schlachten -  Marcel Sebastian
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Wir müssen über unser Verhältnis zu Tieren sprechen - wie uns die neuesten Erkenntnisse der Soziologie dabei helfen
Es ist kompliziert - das bringt wohl den Kern der Mensch-Tier-Beziehungen auf den Punkt. Während sich der Wert von Rind, Schwein und Co. meist in Kilogrammpreisen misst, sind Haustiere geliebte Familienmitglieder und durch nichts aufzuwiegen: Die einen sind für uns Jemand, die anderen Etwas.

Immer mehr Menschen suchen nach dem »richtigen« Umgang mit Tieren, doch das ist gar nicht so einfach. Wie kommt es, dass wir manche Tiere streicheln, andere aber schlachten? Und warum stellen wir diese ungleiche Behandlung in den letzten Jahren immer mehr infrage? Welche Abhängigkeiten von der Tierwelt führen uns Zoonosen wie Covid heute vor Augen?

Basierend auf seiner Forschung erklärt der Experte für Mensch-Tier-Beziehungen Marcel Sebastian, welche historischen, soziologischen und kulturellen Erklärungen es für unser ambivalentes Verhältnis zu unseren Mitlebewesen gibt. Das ist ebenso unterhaltsam wie informativ und hilft garantiert, den eigenen Standpunkt neu zu hinterfragen.

Dr. Marcel Sebastian ist Experte für die Soziologie der Mensch-Tier-Beziehungen. Für seine Doktorarbeit hat er unter anderem in Schlachthöfen geforscht und analysiert, wie Schlachter mit dem täglichen Töten von Tieren umgehen. Er war Promotionsstipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung und Mitbegründer der Group for Society and Animals Studies an der Universität Hamburg. Heute arbeitet er an der TU Dortmund, ist gefragter Referent und gibt Workshops. Als Interviewpartner ist er regelmäßig in den Medien zu sehen, von Ze.tt und Der Spiegel über Deutschlandfunk Kultur und SWR2, bis WDR und ZDF.

Beziehungsstatus:
Es ist kompliziert

Der Beziehungsstatus zwischen Menschen und Tieren ist kompliziert. Während wir als Gesellschaft einige Tiere als Individuen wahrnehmen, die ein Recht auf ihr eigenes Leben haben, betrachten wir andere vor allem durch die Brille ökonomischer Verwertbarkeit.1 Beziehungen zu Hunden und Katzen sind von Liebe und Zuneigung geprägt, und diese Liebe scheint bei einigen Menschen schier grenzenlos.

Begegnungen mit Wildtieren lösen oft tiefe Faszination und Ehrfurcht aus: Den Tränen nah beobachten manche von uns Wölfe, Wale und Adler in freier Natur. Die Existenz der einen Tierart ist uns unbekannt, für das Überleben der anderen sammeln wir Millionenbeträge an Spenden. Manche Tiere werden sogar als heilig verehrt. Die tiefe symbolische Bedeutung von Tieren kommt auch in Märchen, Mythen und Sprichwörtern zum Ausdruck. »Schlau wie ein Fuchs« oder »scheu wie ein Reh« sind wir manchmal. Aber auch »dumm wie ein Schwein«.

Andere Mensch-Tier-Beziehungen sind von Abneigung und Angst geprägt. Ratten oder Kaninchen werden in vielen Städten als Schädlinge bekämpft und verdrängt. Spinnen sind in den meisten Wohnungen ungebetene Gäste und werden wahlweise zerdrückt oder von friedfertigeren Gemütern auf dem Balkon ausgesetzt. Wenig friedfertig gehen wir Menschen mit den Tieren um, die zu Schnitzel, Wurst und Nackensteak verarbeitet werden. Besonders die industrielle Haltung von Hühnern und Schweinen wird von vielen Menschen als Massentierhaltung kritisiert und abgelehnt. Trotzdem essen die meisten Menschen in westlichen Gesellschaften Fleisch.

Auch wir sind Tiere

Unsere Beziehungen zu Tieren sind also uneindeutig. Das fängt schon bei den Bezeichnungen an, mit denen wir über diese Beziehung sprechen. Die geläufige Gegenüberstellung »Mensch und Tier« suggeriert, dass sich hier zwei Gruppen gegenüberstehen: Hier die Menschen, dort die Tiere. Das ist jedoch zu kurz gedacht. Der Begriff »Tier« ist ein Containerbegriff, in den wir die unterschiedlichsten Tierarten von der Wüstenspringmaus bis zum Orang-Utan einordnen. Wenn über »das Tier« im Allgemeinen gesprochen wird, geht es nicht um konkrete Tierarten, sondern um die Abgrenzung des Menschen gegenüber Tieren. Dabei ist es längst kein Geheimnis mehr, dass auch Menschen biologisch zu den Tieren gehören. Wir als Homo Sapiens sind die letzte überlebende Sapiens-Art und damit eine Tierart unter vielen.

Und doch ist unsere Spezies etwas sehr Besonderes. Wie kein anderes Tier sind wir in der Lage, unsere Umwelt zu verändern, Kultur zu entwickeln und über uns und die Welt zu sinnieren. Dass Sie dieses Buch lesen, ist ein Ausdruck Ihrer Einzigartigkeit. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind ein ganz besonderes Tier! Wir Menschen sind in der Lage, über unser Geschick und das der uns umgebenden Welt erheblich mitzubestimmen. Aber wie wir mit dieser Macht umgehen, hat weitreichende Konsequenzen. Und je größer unsere Macht über die Welt, desto größer ist auch unsere Verantwortung. Wie wir beispielsweise als Gesellschaft die Herstellung von Nahrungsmitteln organisieren, hat unmittelbare Folgen für Tiere und Umwelt. Unsere Fähigkeiten der Weltgestaltung spannen vielfältige Möglichkeiten vor uns auf. Es liegt an uns, diese Möglichkeiten zu bewerten und unser gemeinsames Handeln an diesen Werten auszurichten. Behalten Sie die Frage der Verantwortung beim Lesen dieses Buchs im Hinterkopf, denn sie geht auch Sie persönlich etwas an!

Was unseren Streit über Tiere besonders macht

Soziologisch gesehen führt die Uneindeutigkeit im Mensch-Tier-Verhältnis immer öfter zu gesellschaftlichen Deutungskonflikten: In unserer Gesellschaft treffen verschiedene Ideen über die richtige oder sinnvolle Beziehung zu Tieren aufeinander. Sie konkurrieren um Gültigkeit und führen regelmäßig zu Streit und Diskussion. 2 Kulturelle Werte und Ideale sind in einer Gesellschaft selten eindeutig. Sonst würde eine vollkommene Übereinstimmung zwischen den Menschen herrschen. Wir können aber feststellen, dass bestimmte Werte weitgehender Konsens sind. Dass Kinder nicht geschlagen werden sollten, ist mittlerweile eine kollektive Überzeugung. Zwar gibt es Menschen, die ihre Kinder schlagen oder die körperliche Gewalt sogar als Erziehungsmaßnahme gutheißen. Aber als Gesellschaft streiten wir nicht kontrovers über Gewalt an Kindern, denn diese abzulehnen gehört zu unseren Grundüberzeugungen.

In einem Deutungskonflikt sieht das anders aus. Dort herrscht keine allgemeine, weitgehende Übereinkunft. Damit ein gesellschaftlicher Deutungskonflikt existiert, braucht es mindestens zwei Streitbeteiligte. Wer allein in der Arena des öffentlichen Diskurses steht, hat den Kampf bereits gewonnen. Damit der Streit öffentlich und nicht nur im Privaten ausgetragen wird, braucht es auch ein Publikum. In unserer Arena geht es hektisch zu, denn es kämpfen gleich mehrere Gruppen gleichzeitig. Eigentlich steht auch das gesamte Publikum mit in der Arena, denn wir sind alle mehr oder weniger in den Streit um Tiere involviert. So gleicht der Konflikt manchmal eher einer wilden Massenschlägerei, und die Grenze zwischen Publikum und Kämpfenden ist verschwommen. Einige werfen sich mitten ins Getümmel, andere stehen eher am Rand und beteiligen sich nur sporadisch oder feuern die anderen an. Und wieder andere stehen zwar mit in der Arena, behaupten aber steif und fest, mit alledem gar nichts zu tun zu haben.

Die Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen Sichtweisen auf Tiere nehmen zu. Und sie werden nicht nur am privaten Esstisch, sondern öffentlich ausgetragen – auf der Straße, in den Medien, in Wirtschaft und Politik. Die Dynamik dieses Streits scheint in eine regelrechte Deutungskrise zu steuern, denn die unterschiedlichen Positionen stehen sich (scheinbar) unversöhnlich gegenüber. Kleinere Kursanpassungen befrieden den Konflikt kaum noch, und es geht langsam, aber sicher ums Ganze: um die grundsätzliche Frage, welche Formen der Behandlungen von Tieren wir als Gesellschaft gutheißen und inwiefern wir als Einzelne bereit sind, unsere Lebensweisen auf dieser Basis zu verändern. Warum das so ist, werden wir in diesem Buch ausführlich erörtern.

Doch bevor wir tiefer in die Mensch-Tier-Beziehung eintauchen, möchte ich Ihnen gleich zu Anfang drei ernüchternde Botschaften mit auf den Weg geben.

Erstens: Unser Verhältnis zu Tieren ist keine Privatsache

Wäre es eine Privatangelegenheit, würde es absolut niemanden etwas angehen, was Sie mit Tieren anstellen. Sie mögen sich zwar selbst entscheiden, ob Sie Fleisch essen, vegetarisch oder vegan leben – der Staat zwingt Sie weder zum Verzehr von Fleisch noch von Tofu –, aber die Beziehung zwischen Menschen und Tieren ist gesellschaftlich vermittelt: Die Politik definiert die Grenzen der rechtlich erlaubten Behandlungsweisen von Tieren, und die Justiz kann Menschen, die gegen Tierschutzgesetze verstoßen, bestrafen. Allein aus diesen Gründen ist die Mensch-Tier-Beziehung keine reine Privatangelegenheit. Aber auch wenn jemand nicht gegen Tierschutzgesetze verstößt, bedarf das eigene Verhalten gegenüber Tieren der Legitimation, da wir als Gesellschaft Tieren eine moralische Relevanz zuerkennen. Heute fragen wir uns nicht (mehr), ob unser Verhalten gegenüber Tieren moralisch von Bedeutung ist, sondern vielmehr, wo die Grenzen des moralisch vertretbaren Verhaltens liegen. Fleisch zu essen ist beispielsweise keine Straftat, bedarf aber dennoch einer Begründung. Wenn Ihnen das wenig einsichtig erscheint, fragen Sie sich selbst, warum Sie keine Hunde essen, und schon stecken Sie mitten in der Diskussion, wo die Grenze zwischen gut und schlecht, zwischen ›essbaren‹ und ›befreundeten‹ Tieren verläuft. Lassen Sie uns der spannenden Frage nachgehen, inwiefern diese unterschiedlichen Begründungen auf gesellschaftliche Zustimmung oder Ablehnung stoßen und welche Folgen das für uns als Gesellschaft hat.

Zweitens: Wir müssen uns vor Vereinfachungen HÜTEN

Viele Menschen neigen dazu, sich schnell eine klare Meinung zu bilden. Wenn es um Tiere geht, scheint das besonders häufig der Fall zu sein. Oftmals verlieren wir dadurch aber den Blick für die Komplexität der Dinge. Die Konflikte über die Mensch-Tier-Beziehung sind eine große, oft unübersichtliche Gemengelage aus unterschiedlichen Menschen und Gruppen, die sehr unterschiedliche Sichtweisen und Interessen haben. Wenn wir verstehen wollen, wieso unsere Beziehungen zu Tieren so kompliziert und widersprüchlich sind, müssen wir die unterschiedlichen Perspektiven systematisch in den Blick nehmen. Wir müssen versuchen, auch Positionen, die uns wenig plausibel erscheinen, in ihrer inneren Logik zu verstehen. Das heißt nicht, dass wir sie auch übernehmen müssen. Die aufmerksame, systematische Betrachtung sollte stets vor einer Bewertung stehen. Erst wenn wir ein möglichst gutes Bild der Situation haben, können wir ein fundiertes Urteil entwickeln. Das ist nicht nur ein Wissenschaftsideal, ein fundiertes Urteilen ist gut für jede Streitkultur!

Drittens: Komplexe Problemlösungen brauchen Zeit

Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass wir den gesellschaftlichen Streit über Tiere in absehbarer Zeit beilegen können. Die verschiedenen Konfliktparteien stehen sich zum Teil so unversöhnlich gegenüber, dass es wohl noch lange brodeln wird. Zugeständnisse für die eine Gruppe lösen oft Empörung und Protest bei einer anderen Gruppe aus. Dass wir alle direkt oder indirekt in den Streit über...

Erscheint lt. Verlag 28.9.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 2022 • Allgemeinwissen • Beziehung Hund-Mensch • Beziehung Mensch-Tier • bücher über hunde • eBooks • Flexitarier • Haustiere • Infotainment • Jonathan Safran Foer • Katzen als Haustiere • Massentierhaltung • Mensch-Tier-Beziehung • Neuerscheinung • Nutztiere • Pop-Science • Richard David Precht • Sachbuch • Tiere denken • Tiere essen • Tierrechte • Tierschutz • Vegan • Vegetarische Ernährung
ISBN-10 3-641-28601-8 / 3641286018
ISBN-13 978-3-641-28601-9 / 9783641286019
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