Große Erwartungen (eBook)

Die Boomer, die Bundesrepublik und ich
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2022 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01390-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Große Erwartungen -  Thomas E. Schmidt
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Die Babyboomer gehen in Rente. Die große Generation tritt ab, die die Bundesrepublik geprägt hat wie keine vor ihr - auf wenig aufsehenerregende, aber souveräne Weise. Die zwischen 1955 und 1969 Geborenen waren der Kindersegen und das statistisch Allgemeine, und sie waren immer mittendrin: zwischen den Ruinen des Krieges, mit Adenauer und Brandt, der RAF und dem Pop, mit Habermas und Kohl, dem Mauerfall und den Kanzlern Schröder und Merkel.   Thomas E. Schmidt ist einer von ihnen, auch er immer mittendrin. Spielerisch verfolgt er den Lebensweg der geburtenstarken Jahrgänge und schreibt dabei einen Bildungsroman der Bundesrepublik. «Im Wesentlichen haben wir unsere Aufträge erfüllt», meint Schmidt, «wir haben die Demokratie in Deutschland stabil gehalten, sind nie historisch rückfällig geworden und widerstanden nationalistischen Versuchungen.» Doch währenddessen machte diese Generation auch Karriere, sie lebte gut und verbrauchte die Ressourcen der Erde. Sie muss nun erkennen, dass die nächste Generation mit dem Erbe hadert: Dankbarkeit ist im Angesicht der Klimakrise kaum zu erwarten. Mit den Boomern vergeht auch die alte Bundesrepublik, und Thomas E. Schmidt blickt aus der eigenen Erfahrung auf die neue Gegenwart: ein autobiografischer Essay für die große Leserschaft dieser Generation, ebenso scharfsichtig wie ironisch. 

Thomas E. Schmidt, geboren 1959, ist Publizist, Autor und Journalist bei der Zeit. In München und Hamburg studierte er Philosophie und Literaturgeschichte, war für das ZDF, die Frankfurter Rundschau sowie Die Welt tätig - und arbeitet seit 2001 in der Feuilletonredaktion der Zeit. Er lebt in Berlin.

Thomas E. Schmidt, geboren 1959, ist Publizist, Autor und Journalist bei der Zeit. In München und Hamburg studierte er Philosophie und Literaturgeschichte, war für das ZDF, die Frankfurter Rundschau sowie Die Welt tätig – und arbeitet seit 2001 in der Feuilletonredaktion der Zeit. Er lebt in Berlin.

Wir werden beobachtet


Als «geburtenstarke Jahrgänge» werden für gewöhnlich die zwischen 1955 und 1969 Geborenen bezeichnet, die bundesrepublikanische Kinderflut, eine demografische Ausnahmeerscheinung in der neueren Geschichte des Landes. Diese Zeugungseuphorie ist ein Phänomen, das in anderen Ländern etwas früher einsetzte und auf gute wirtschaftliche Aussichten zurückgeführt wird. In Westdeutschland bricht die Euphorie zeitversetzt aus, mit einem Höhepunkt im Jahr 1964 – beinahe 1,4 Millionen Lebendgeburten –, von wo es dann wieder etwas bergab geht, bis die Natalitätskurve fünf Jahre darauf fast vollständig absinkt: der «Pillenknick».

Bis dahin ging es munter zu. Immer zusammen, immer im Rudel, fast alle mit Geschwistern, inmitten strampelnder, sich schlängelnder Kinderleiber, in allen Verwahranstalten als Herde behandelt, auch später immer «der Trend», das gut und verlässlich Beobachtbare, statistisch gesehen die Wahrheit über die Republik. Indem wir so selbstverständlich da waren und das Ganze bildeten, blieben wir als Ganzes erstaunlich schwach konturiert. Lange Zeit verkörperten wir schlichtweg, was vor sich ging, und waren als solches auch nichts Bemerkenswertes.

Doch nun läuft die große Zeit der Kinder einer gelingenden Bundesrepublik langsam ab. Wir gehen in Rente, eine Rente, die als Alterskohorten-finanziertes Projekt für uns gerade noch gesichert ist. Wir beginnen zu verstummen, und die Ersten von uns sind schon gestorben. Jüngere, die feststellen, dass wir den Wohlstand des Landes, seine soziale Sicherheit und die politische Stabilität womöglich mit in unsere Gräber nehmen könnten, drückten uns am Ende noch einmal das Prädikat «Boomer» auf. Freundlich ist das nicht gemeint. Es klingt nach ewig roten Bäckchen und dicker Hose. Wir haben Dankbarkeit nicht zu erwarten. Und wieso auch? Wir leisteten uns mit unserem Geld einen historisch unvergleichlichen Lebensstil und strapazierten dabei die Ressourcen der Erde in schlimmer Weise. Umweht unser Ende also der schale Hauch der Ruchlosigkeit, ausgerechnet uns, den Schaffern und Besonnenen, denen noch beigebracht wurde, was Sekundärtugenden sind? Ohne uns, die wir nun in andere Statistiken hinüberwechseln, in jene der Kränkelnden, der Versorgungsfälle, der nach Betreuung Verlangenden, der Risikogruppen und Dementen, vergeht die alte Bundesrepublik tatsächlich. Ist sie dann wirklich verschwunden?

Diese Bundesrepublik entwickelte – wir waren daran nicht unbeteiligt – ziemlich geschickte Techniken der Selbsterhaltung. Auch nach 1990 ging die Bundesrepublik nicht unter, wie man zunächst befürchtete oder erhoffte, vielmehr erwies sie sich als außerordentlich zählebig. Sie wollte ungestört weiterleben, ökonomisch, gesellschaftlich und geistig, trotz der Versuche, in sie gewissermaßen eine historische Furche einzuritzen. Manche versuchten gezielt, sie mithilfe der Unruhe aufzustören, um ihre moralischen Defizite und Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Andere wollten die Einheitspotenziale nutzen, um aus dem Land eine «richtige» Nation zu machen, wie es auf seinem Sonderweg im Grunde nie gewesen war, fest stehend auf dem Grund des Beständigen in der Geschichte. Doch hatte die Bundesrepublik zu jenem Zeitpunkt eine eigene Gravitation entwickelt. Die selbsterhaltenden Kräfte des Weststaats, so wie er mit uns Geburtenstarken geworden war, ließen diesen späten deutschen Selbstkorrektur- und Selbstoptimierungsehrgeiz am Ende im Sande verlaufen. Die Bundesrepublik wirkte als politisches Gebilde seltsam, als Land aber recht anziehend. Wir wollten damals gar keinen besonderen Sinn für den großen geschichtlichen Einschnitt entwickeln, vielleicht lag ein solcher auch jenseits unseres Horizontes. Denker der Zäsur gehörten um 1990 vielmehr der Kriegsgeneration an. Ihnen standen Risiken und Chancen einer aufgerührten Vergangenheit noch vor Augen. Ihr Blick für die Potenzen der deutschen politischen Antike war noch geschärft, für das Grauen der deutschen Geschichte ebenso wie für ihre nicht erreichten Ideale. Wir hingegen hatten Interesse an einer vorerst nicht endenden Gegenwart, an der fabelhaften deutschen Modernität, die wir schließlich mitgeschaffen hatten und verkörperten.

Es ist wahrscheinlich, dass die geburtenstarken Jahrgänge einen erheblichen Anteil an einem sehr seltsamen Phänomen hatten: Nach 1990 wurde die Geschichte gleichsam ausgebremst und blieb, das wurde in den Folgejahren immer deutlicher, in einem jetztzeitlichen Aspik einfach stecken. Genauer gesagt teilte sie sich in eine tagespolitische Hälfte höchster Bewegtheit und in eine lebensweltliche mit lang anhaltender Beharrungskraft. Kaum etwas blieb von den Warnungen und den utopischen Aufschwüngen übrig. Von all den dialektischen Erwägungen fand nur Weniges Einlass in die politische Sphäre. Entscheidungen wurden von Tag zu Tag gefällt; demgegenüber erzwang die westdeutsche Selbstbehauptung Ruhe und bürdete die Einheitsfolgen den Menschen in einer sich Tag für Tag weiter auflösenden DDR auf. Und das wurde von diesen, ähnlich wie in der Sowjetunion unter Jelzin, nicht als Geschichte, sondern als Zerfall erlebt.

Der historische Schwung ist von meiner Generation einfach nicht aufgenommen worden. Wir blieben hocken, in aller Mehrdeutigkeit. Wir erteilten den Versuchen, sowohl von links als auch von rechts, eine Absage, die deutsche Geschichte noch einmal an einem Grundriss ausgerichtet in die Hand zu nehmen und ihre Verkrümmungen zu begradigen, auch ihre versäumten Gelegenheiten nachzuholen. Diese Verweigerung war unser generationeller Triumph und unser historischer Auftritt. Wir retteten die alte Bundesrepublik in all ihrer unvollkommenen Vollkommenheit und in ihrer geschichtlichen Zufälligkeit. Wir retteten sie aber auch vor der Bedrohung, als Nation plötzlich wieder unbedingt, notwendig und einwandfrei zu werden, jedem Zweifel enthoben. So schoben wir ihr Ende beinahe für die Dauer einer weiteren Generation hinaus, freilich um den Preis, dass das Kunstwerk Risse zurückbehielt, welche die Jüngeren jetzt kaum mehr kitten können. Womöglich lag es in der Konsequenz unseres generationellen Gewordenseins, dass wir genau diesen Beweis unserer ganz besonderen Unsterblichkeit erbringen mussten: als Nicht-Helden.

Ein Buch mit solchen Betrachtungen halst sich eine Menge Probleme auf. Es fuhrwerkt in vorbewussten Dimensionen herum. Es sucht nach Motiven, wo keine gemeinsamen Absichten vorzuliegen scheinen, sozusagen im Gekröse einer unterstellten gemeinsamen Mentalität. Keine politische Partei vermag ohne Umschweife den Willen einer Generation zu repräsentieren, kein Soziologe kann ihre komplexe Individualität genau beschreiben, kein Philosoph ihr «Wesen» ergründen. All das geschieht immer von rückwärts, mit den obligaten Vereinfachungen und Verformungen, die das Auge des späteren Betrachters erzeugt. Die Rede ist also nicht von etwas wissenschaftlich Existierendem. Moralisch angreifbar ist es ohnedies. Schon das Pronomen «wir» ist ja eine Anmaßung. Ich schließe all jene aus, die zur selben Zeit wie ich in der DDR aufwuchsen. Sie haben andere, vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht, aber nicht unsere. Allerdings suchten sich die Ostdeutschen später ihre eigenen Wege und Formen, davon zu erzählen. Weiter: Die in diesem Buch aufblitzenden Erinnerungen sind die eines Mannes. Vermutlich würde eine Frau auf andere Dinge achtgegeben und im Gedächtnis behalten haben. Diese Mängel kann ich nicht beheben. Es geht mir auch nicht um Vollständigkeit. Das Ziel ist keine Geschichtsschreibung mit einem Dach, unter das sich alle flüchten können. Auch wenn manches wiedererkannt werden kann, liegt dem Ganzen kein Schema zugrunde, dessen Beispiel ich wäre.

Mag sich der Einzelne über seine unverwechselbare Persönlichkeit Illusionen machen, so hatte ich dennoch niemals das Gefühl, im «Boomer-Muster» gelebt zu haben. Ich erzähle beispielsweise nicht die Geschichte eines Aufsteigers, von jemandem, der von unten oder von außen kommt und am Ende in die Gesellschaft aufgenommen wird. Das läuft dann meistens auf eine Apotheose der bundesdeutschen Integrationsfähigkeit hinaus, also einer Bestätigung des offiziellen Selbstbildes des Landes. Ich verzichte ebenso auf das geläufige literarische Muster, wonach der Außenseiter über einen schärferen Blick fürs Ganze verfügt als die Vielen. Daran habe ich nie geglaubt. Ich bin auch kein Außenseiter. Vielmehr bin ich in jeder Hinsicht ein mittlerer Charakter, hineingeboren in des Soziologen Helmut Schelskys «nivellierte Mittelstandsgesellschaft», mittel begabt, mittel erfolgreich, immer mittendrin. Ich war halt überall dabei und musste dafür gar nichts Besonderes tun. Die meiste Zeit habe ich mich im statistischen Mittel aufgehalten, also dort, wo die Dinge wirklich passieren, und zwar mit einer solch massenhaften Bestimmtheit, dass sie oft unbemerkt bleiben.

Erfahrungsgemäß soll man vorsichtig sein, Erlebtes in etwas Geschriebenes umzuwandeln. Skrupel dieser Art überfallen beispielsweise den Erzähler eines Romans, der Mitte der Fünfziger in Großbritannien erschien: Es sei schon, stellt dieser junge Mann fest, verdammt schwierig, aus echten Menschen Buchcharaktere zu machen; aber wie groß ist die Aufgabe erst, wenn man selbst darin auftauchen will: «Jede auch nur eine äußerst vage Andeutung überschreitende Darstellung meiner Persönlichkeit wäre», schreibt er, «sicher ebenso schwer zu verwirklichen, jedenfalls jede, die nicht etwas absurd klänge.»

Das ist ja auch ein seltsames Selbst: Wenn es erfunden werden muss, wie kann es dann noch wahr sein? So schreibt er weiter: «Selbst die bloßen Fakten...

Erscheint lt. Verlag 16.8.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 1960er Jahre • 50er Jahre • 60er Jahre • Angela Merkel • Antiautoritäre Erziehung • Babyboomer • Berliner Republik • Bildungsroman • Boomer • Boomgeneration • Bundesrepublik • Bundesrepublik Deutschland • Demografie • Deutsche Geschichte • Friedensbewegung • Generation • Generationen-Biografie • Generationenkonflikt • Generationenporträt • Generation Golf • Gerhard Schröder • Gesellschaft • Joschka Fischer • Kalter Krieg • Klimaaktivismus • No-Future • Punk • Rot-grün • Soziologie • Umweltbewegung • Wirtschaftswunder • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-644-01390-X / 364401390X
ISBN-13 978-3-644-01390-2 / 9783644013902
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