Mini-Handbuch Diversity (eBook)
216 Seiten
Beltz (Verlag)
978-3-407-36912-3 (ISBN)
Susanne Lummerding ist Medienwissenschaftlerin, Coach/Supervisorin (ÖAGG/ÖVS) und Organisationsberaterin (SZB). Sie begleitet Wissensproduzent*innen, Teams, Hochschulen und Organisationen in Reflexions-, Entscheidungs- und Veränderungsprozessen, mit Blick auf gesellschaftliche und organisationale Machtstrukturen, Diversität und Diskriminierungskritik.
Dominanz-/Machtverhältnisse – (un_)mögliche Perspektivwechsel
Vor allem eine menschenrechtsbasierte Perspektive verdeutlicht, dass gesellschaftliche Pluralität nicht automatisch auch Gleichberechtigung bedeutet – Perspektiven werden nicht per se gleichberechtigt artikuliert oder als gleichberechtigt wahrgenommen. Perspektivwechsel und die Annahme sowie das Anerkennen einer Perspektivenpluralität als zentrale Reflexionsinstrumente (nicht nur in systemischen Ansätzen) der Beratungs- und Bildungsarbeit, erfordern daher im Hinblick auf Diversity auch eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Dies beinhaltet vor allem, die Aufmerksamkeit dafür zu schärfen, wie dominante Perspektiven überhaupt erst als solche entstehen, wie sie sich durchsetzen, wie sie ein- und ausschließend wirken:
Reflexionsfragen
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Welche Perspektiven erhalten Raum? Welche werden benannt? Welche Perspektiven werden wahrgenommen?
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Welche Perspektiven fehlen? Welche können nicht benannt werden? Welche Perspektiven werden verdrängt?
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Welche Perspektiven dominieren und bestimmen (oft unbewusst) darüber, wie andere dominiert und definiert werden?
Das Ermöglichen inklusiv verstandener Perspektivwechsel und Perspektivenpluralität in Beratung- und Bildung knüpft sich an eine Auseinandersetzung damit, wie Menschen gesellschaftlich in Machtverhältnissen positioniert werden und welche Perspektiven – und welche Artikulationsmöglichkeit von Perspektiven – damit verbunden sind.
Ziele einer inklusiv gestalteten, diversitätsbewussten Beratungspraxis sind daher
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das Entwickeln machtkritischer Ansätze für den Umgang mit unterschiedlichen Artikulationsmöglichkeiten von Perspektiven sowie
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das Ermöglichen von Räumen, die ein gleichberechtigtes Wahrnehmen, Artikulieren und Teilen von Perspektiven zulassen.
Professionelle Handlungskompetenz ist in diesem Zusammenhang daran geknüpft, Dynamiken der Dominanz – also selbstverständlich erscheinender ›Normalität‹ und deren wirkmächtige Deutungsmuster – zu erkennen und zu hinterfragen. Das bedeutet zum einen – als beratende oder lehrende Person – das (eigene) Verstrickt- und Involviert-Sein in Machtverhältnisse immer wieder neu zu reflektieren und sich bewusst zu machen, gerade hinsichtlich der eigenen professionellen Funktion und Rolle in der Beratungs- bzw. Bildungsarbeit. Zum anderen bedeutet es für das Professionsverständnis und dessen praktischer Umsetzung im Beratungs- und Bildungskontext vor allem auch, aktiv dafür zu sorgen, dass im Austausch und Miteinander Macht geteilt und »abgegeben« werden kann.
Differenzordnungen, Definitionsmacht und Norm(ierung)
Gesellschaftliche Machtverhältnisse sind historisch und gesellschaftlich hergestellt, etabliert und tradiert und werden auf unterschiedlichen Ebenen, durch vielfältige gesellschaftliche, institutionelle und individuelle Praxen (re)produziert und aktualisiert. Sie wirken sowohl auf einer diskursiven Ebene prägend und strukturierend auf Vorstellungen, Wahrnehmungs- und Denkweisen sowie auf Kommunikation und Sprache, als auch – indem sie verinnerlicht werden – auf Routinen und Verhaltensweisen.
Zu den gesellschaftlichen Machtverhältnissen, die moderne Gesellschaften strukturieren und die auf globaler, gesellschaftlicher, institutioneller bzw. organisationaler sowie auf interpersoneller Ebene wirken – und in engem Zusammenhang mit einer komplexen Herrschafts-, Unterdrückungs- und Ausbeutungsgeschichte stehen – zählen Sexismus, Rassismus und Klassismus. Gender, race, und class wurden von bell hooks auch als »Trinität von weißer Vorherrschaft, Kapitalismus und Patriarchat« (hooks 1994) bezeichnet. Sie sind, wie auch andere Machtverhältnisse, keineswegs losgelöst voneinander zu begreifen. Vielmehr sind sie verwoben und in Wechselwirkung miteinander und mit weiteren Macht- bzw. Differenzordnungen und entsprechenden Zuordnungen und Zuschreibungen (z. B. in Bezug auf geschlechtliche und sexuelle Identität, Religionszugehörigkeit, ethnische oder nationale Herkunft oder Migrationsgeschichte, Lebens- und Liebensweisen, psychische und physische Kategorisierungen). Sie alle wirken marginalisierend bzw. privilegierend und verhindern oder ermöglichen Zugang zu Ressourcen und Teilhabe.
Gesellschaftliche Differenzordnungen
Die Grundlage gesellschaftlicher Machtverhältnisse bilden gesellschaftlich wirkmächtige Differenzordnungen:
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Auf der Basis einmal definierter bzw. gewählter Unterscheidungskriterien werden Unterscheidungen getroffen und Differenzlinien gezogen – wie z. B. zwischen männlich/weiblich, hetero-/homosexuell, weiß/rassifiziert (bzw. ›deutsch‹/›migrantisch‹).
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Differenzordnungen weisen (hierarchisch strukturierte) gesellschaftliche Positionen zu.
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Differenzlinien wirken über die mit ihnen verbundenen Wertungen und Hierarchisierungen normbildend/normierend/normalisierend.
Differenzordnungen und -linien erzeugen Dominanzverhältnisse, indem:
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Abgrenzungen zwischen dem ›Normalen‹ und dem ›Anderen‹, dem von der Norm ›Abweichenden‹ erzeugt werden
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die über Jahrhunderte tradierte gesellschaftliche Wirkmächtigkeit von Normen (wie Zweigeschlechtlichkeit, Männlichkeit, Heterosexualität, weiß-Sein, oder der über bestimmte ›Leistungs-‹kriterien definierte Körper) nach wie vor strukturell Gesellschaft, individuelle Wahrnehmung und soziale Interaktionen prägen.
Auch wenn Differenzordnungen als Konstruktionen zu begreifen sind, haben sie reale Folgen in Form struktureller und materieller Benachteiligung, Ausgrenzung, oder Internalisierung (Verinnerlichung) negativer Zuschreibungen. Differenzlinien sind dabei auf komplexe Weise miteinander verschränkt und auch gleichzeitig wirksam (vgl. → Kapitel »Intersektionale Machtverhältnisse«).
Wirkungsebenen von Machtverhältnissen
Differenzordnungen beziehungsweise Machtverhältnisse sind sowohl auf einer symbolisch-klassifikatorischen Ebene gesellschaftlich normbildend, normierend beziehungsweise normalisierend wirksam als auch auf der individuellen Ebene und in Interaktionen. In alltäglichen Handlungen werden sie ebenso wie in Organisationen und Organisationsstrukturen reproduziert. Machtverhältnisse prägen (zum Beispiel durch das Reproduzieren normativer Unterscheidungen) auch gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurse, ebenso wie Gesetzgebungen und Routinen in Organisationen.
Differenzordnungen wirken als Machtstrukturen gesellschaftlich strukturierend wie auch als unmittelbare individuelle Erfahrungen. Sie prägen und strukturieren auf vielfache Weisen Identität(en) und die Position(en) von Menschen in sozialen Beziehungsgefügen.
Gesellschaftliche Machtverhältnisse bzw. »Differenzordnungen können wir als (immer gegebene) Hintergrunderwartungen verstehen, die auch dann bedeutsam sind und strukturierend wirken, wenn sie nicht explizites Thema sozialer Situationen sind.« (Mecheril 2008, o. S.)
Dominanzkultur
Machtverhältnisse und Differenzordnungen wirken gesellschaftlich hierarchisierend und machtvoll strukturierend. Macht ist dabei nicht verkürzt als absichtsvoll ausgeübte Handlung zu begreifen, oder als ›Etwas‹, das Personen ›besitzen‹. Macht ist vielmehr als Verhältnis, als eine relationale Struktur, als machtkodierte soziale Ordnung zu verstehen.
Mit dem Begriff und dem Konzept der Dominanzkultur (Rommelspacher 1995) prägte Birgit Rommelspacher das Verständnis dafür, wie gesellschaftliche Machtstrukturen verinnerlicht ...
Erscheint lt. Verlag | 13.4.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Pädagogik ► Erwachsenenbildung |
ISBN-10 | 3-407-36912-3 / 3407369123 |
ISBN-13 | 978-3-407-36912-3 / 9783407369123 |
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