Recht haben (eBook)

Vermischtes aus der Welt des Strafrechts | Die besten SPIEGEL-Kolumnen des Ex-Bundesrichters
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
272 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46483-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Recht haben -  Thomas Fischer
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Streitbar, unterhaltsam, eigensinnig: das deutsche Strafrechtssystem auf dem Prüfstand  Thomas Fischer ist einer der brillantesten und gefürchtetsten Kommentatoren der deutschen Strafrechtssprechung. Seine Fallanalysen, seine Medienkritik und sein messerscharfer Verstand sind legendär. Von 2019 bis Frühjahr 2021 kommentierte er für den SPIEGEL wöchentlich mit riesigem Erfolg das Geschehen in und vor deutschen Gerichtssälen. Immer wieder im Fokus stand dabei der Konflikt zwischen Gesetzestext und der gefühlten Gerechtigkeit der öffentlichen Meinung. Die erfolgreichsten und wichtigsten seiner Kolumnen hat er nun überarbeitet und aktualisiert. In der Gesamtschau geben sie eine streitbare, intelligente und höchst unterhaltsame Antwort auf die Frage aller Fragen: Wer hat Recht? Der ehemalige Bundesrichter Thomas Fischer ist einer der profiliertesten Experten der deutschen Strafrechtsdogmatik und -praxis. Ohne Scheuklappen widmet er sich kontroversen Themen, so unter anderem: Strafvollzugssystem, Justizsystem, Strafprozess, Verfassung, Immigration und Sicherheit, Kriminalpolitik und Kriminologie, Strafrechtssystem, Gesellschaft, Rechtskultur, Feminismus, Sexualstrafrecht, Rechtssystem, Rechtsradikalismus, Medien, Rezensionen, Corona-Pandemie Die in diesem Buch neu zusammengestellte Sammlung von Thomas Fischers besten und meistdiskutierten SPIEGEL-Kolumnen ist nichts weniger als ein Gesellschaftsporträt durch die Linse des Strafrechts und des Rechtssystems, verfasst von einem der intelligentesten Kommentatoren bundesrepublikanischer Gegenwart.   »Seine Kolumnen vermitteln Sachkunde, Offenheit und tiefe Menschlichkeit. Wer Thomas  Fischer liest, lernt das Rechtssystem lieben«. Stefan Kuzmany, SPIEGEL

Thomas Fischer, Jahrgang 1953, war bis April 2017 Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Sein jährlicher Kommentar zum Strafgesetzbuch, die Beck?schen Kurzkommentare, gilt als die Bibel des Strafrechts. Mit seinen Kolumnen für ZEIT-ONLINE und den SPIEGEL wurde er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, zudem ist er Teil des SWR 2-Podcasts 'Sprechen wir über Mord?!'. Bei Droemer erschienen bisher seine Bücher Über das Strafen, Sex and Crime und Im Recht.

Thomas Fischer, Jahrgang 1953, war bis April 2017 Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Sein jährlicher Kommentar zum Strafgesetzbuch, die Beckʼschen Kurzkommentare, gilt als die Bibel des Strafrechts. Mit seinen Kolumnen für ZEIT-ONLINE und den SPIEGEL wurde er einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, zudem ist er Teil des SWR 2-Podcasts "Sprechen wir über Mord?!". Bei Droemer erschienen bisher seine Bücher Über das Strafen, Sex and Crime und Im Recht.

Vollrausch, Tötung,Geldstrafe


(28.10.2019)

Das Urteil


Ein Urteil des Amtsgerichts – Jugendgericht – Würzburg vom 23. Oktober 2019 hat für großes Aufsehen, Empörung und erstaunliche Schlagzeilen gesorgt. Das Gericht verurteilte einen 20-jährigen Heranwachsenden wegen fahrlässigen Vollrauschs zu einer Geldstrafe, deren Summe 5000 Euro beträgt. Wie viele Tagessätze ihr zugrunde liegen, wurde wie üblich nicht berichtet, obwohl es nur darauf ankommt. Für jemanden, der 30000 Euro netto im Monat verdient, wären es fünf Tagessätze, für jemanden, der 415 Euro im Monat netto übrig hat, 360 Tagessätze. Den Unterschied merkt man, wenn man nicht zahlt: Dann müsste der Erste fünf Tage ins Gefängnis, der Zweite ein Jahr. In der Presse wird regelmäßig nur das Produkt aus Tagessatzzahl und Tagessatzhöhe (= Monatseinkommen durch 30) mitgeteilt, obwohl das sinnlos ist.

Dem Urteil lag eine Tat vom 23. April 2017 zugrunde. Der Angeklagte, damals 18 Jahre alt und Fahranfänger, fuhr nachts auf einer Nebenstraße mit seinem Auto nach Hause. Er hatte eine Blutalkoholkonzentration von fast 2,9 Promille; drei weitere junge Männer, ebenfalls alkoholisiert, saßen mit ihm im Auto. Aufgrund seiner Alkoholisierung übersah der Angeklagte zwei am Straßenrand gehende Fußgänger und fuhr eine 20-jährige junge Frau an. Sie starb wenige Tage später an ihren schweren Verletzungen.

Die Bild nennt das Opfer »totgeraste Teresia«, lässt also dem Leser schon im Ansatz das übliche »Feeling« zukommen, indem Empathie und Nähe vorgetäuscht wird. Das Opfer wird beim Vornamen genannt, als ob die Bild-Leser ein Recht darauf hätten, sich der jungen Frau aufzudrängen. Die Tat heißt »Totrasen«, obwohl es für das Ereignis ganz unerheblich ist, ob der Täter »gerast« oder langsam gefahren ist. Das entspricht dem üblichen populären Umgang mit den Gefahren des Straßenverkehrs: Wer schnell fährt und Glück hat, fährt »sportlich«, wer schnell fährt und Pech hat, heißt »Raser«. Die »Raser« gehören weggesperrt; aber das sind immer nur die anderen.

Die Überschrift des Bild-Artikels vom 23. Oktober lautete übrigens: »Wer soll dieses Urteil verstehen?« Wer den Artikel liest, der hier nur stellvertretend für viele andere genannt ist, »versteht« das Urteil auf gar keinen Fall; daran ändert auch der »Verkehrsexperte« nichts, den Bild bemüht. Dem Leser werden hier wie anderswo schon die einfachsten Grundlagen der Rechtsfragen entweder verschwiegen oder so verdreht mitgeteilt, dass der Informationsgehalt sich auf bloße Anstachelung von Empörung beschränkt. An diesem Schmierentheater hatte, wie es zu befürchten gilt, das Gericht jedenfalls insoweit einen Anteil, als es sich mit den merkwürdigsten Äußerungen zur mündlichen Urteilsbegründung zitieren lässt:

Bild: »Die überraschende Erkenntnis von Richter Krieger: ›Wir hätten gern eine Jugendstrafe verhängt.‹ Aber das sei nicht möglich gewesen, da der Angeklagte schuldunfähig sei – wegen des hohen Promillewerts. Im Klartext: Niclas H. ist frei, weil er total besoffen war!«

Oder so: Focus: »Richter kann Vater von Teresa (†20) kaum ansehen. Richter Krieger: ›Es fällt mir schwer, Ihnen in die Augen zu gucken.‹«

Oder beim Bayerischen Rundfunk: »Richter: ›Das Urteil ergeht im Namen des Volkes. Aber das Volk muss schon ein paar Semester Jura studieren, um das zu verstehen, was ich heute geurteilt habe.‹«

Gehen wir einmal davon aus, dass der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts (»Wir«) genügend lange studiert hat, um zu verstehen, was er (oder sagen wir, unter Erinnerung an das Beratungsgeheimnis: die Mehrheit des Gerichts) geurteilt hat. Wenn Richter es schaffen, ihre eigenen Urteile verstanden zu haben, sollten sie so freundlich sein, sie dem Volk so zu erklären, dass es bei gutem Willen möglich ist, die Rechtslage zu erkennen. Wer es darauf anlegt, sich als »volksnah« aufzuplustern und zu behaupten, dem von ihm selbst soeben angewendeten Recht fehle es an verfassungsgemäßer Legitimität, dem schreibt Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes ohne Wenn und Aber vor, was er zu tun hat: Das Verfahren aussetzen und die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Entweder – oder: Man kann nicht der Held der Strafprozessordnung und der Bild-Zeitung zugleich sein.

Ein paar Korrekturen


Aus der BR-Berichterstattung:

»Der Richter begründete das Urteil mit dem ›pubertären männlichen Verhalten‹, das den Tod der 20-Jährigen zur Folge hatte. Zudem sei der Hauptangeklagte schuldunfähig, da ihm keine ›Neigungen‹ attestiert werden konnten und er zum Tatzeitpunkt stark alkoholisiert war. Vor Gericht gab der junge Mann an, sich nicht an den Unfall erinnern zu können. Die Staatsanwaltschaft hatte zweieinhalb Jahre Freiheitsstrafe nach Erwachsenenstrafrecht für den 20-Jährigen gefordert. Das Urteil wurde jedoch nach Jugendstrafrecht erlassen, da der Hauptangeklagte zum Tatzeitpunkt 18 Jahre alt war.«

Obwohl die einzelnen Worte dieses Berichts nicht falsch sind und der deutschen Sprache entstammen, ergeben sie in ihrem Zusammenhang fast keinen Sinn und sind auf Wirrnis angelegt. Selbst der oben zitierte Richter dürfte nicht »das Urteil mit dem pubertären Verhalten begründet« haben. Richtig mag sein, dass der Angeklagte ein solches Verhalten zeigte; das weiß man nicht. Man wird aber nicht wegen pubertären Verhaltens bestraft, sondern wegen der Begehung von Straftaten. Ob diese Ausdruck von »pubertärem Verhalten« sind, ist für die Strafbarkeit nur eingeschränkt und unter bestimmten Voraussetzungen von Bedeutung.

Die Staatsanwaltschaft hatte eine Freiheitsstrafe nach Erwachsenenrecht beantragt. Das Jugendgericht verhängte »jedoch«, so der BR, eine Strafe nach Jugendrecht, »da der Hauptangeklagte zum Tatzeitpunkt 18 Jahre alt war«. Das ist schräg. Die Staatsanwaltschaft weiß, dass es für die Anwendbarkeit von Jugend- oder Erwachsenenrecht auf das Alter des Beschuldigten zum Tatzeitpunkt ankommt. Daher liegt die Begründung, Jugendstrafrecht sei angewendet worden, »weil« der Angeklagte zur Tatzeit 18 war, neben der Sache. Richtig ist, dass bei Personen zwischen 14 und 17 (sogenannten Jugendlichen) immer Jugendrecht anzuwenden ist, bei Personen ab 21 immer Erwachsenenrecht. Im Zwischenbereich von 18 bis 20 heißen die Personen »Heranwachsende«. Hier kommt es darauf an, ob der Täter (zur Tatzeit) »noch einem Jugendlichen gleichzustellen ist«. Es kommt also auf den Grad der Entwicklung, Reife, Verantwortungsentwicklung, Selbstständigkeit an: Es gibt 19-Jährige, die den Entwicklungsstand eines 14-Jährigen aufweisen, und 18-Jährige, die ein in jeder Hinsicht selbstständiges Leben führen (können). Es kommt bei der Entscheidung aber auch auf die Art der Straftat an: Ein komplizierter Betrug eines 19-Jährigen wird selten »jugendtypisch« sein, eine Schlägerei beim Fußball ziemlich oft.

Die Gerichte neigen dazu, die Anwendung von Jugendrecht recht großzügig zu bejahen. Das mag daran liegen, dass für die Entscheidung die Jugendgerichte zuständig sind, die aufgrund der speziellen Materie oft einer pädagogisch-psychologischen Betrachtung der Dinge näher stehen als Erwachsenengerichte.

Missverständlich ist die Erwähnung, es sei der »Hauptangeklagte« gewesen, der zur Tatzeit erst 18 Jahre alt war. Das ist völlig unerheblich: Jeder Beschuldigte/Angeklagte wird natürlich nach seinen eigenen Voraussetzungen beurteilt. Wenn wegen ein und derselben gemeinsamen Tat ein Jugendlicher und ein Erwachsener angeklagt sind, wird gegen den einen Jugendrecht, gegen den anderen Erwachsenenrecht angewendet. Den Begriff »Hauptangeklagter« gibt es im Strafprozess überhaupt nicht.

Die »schädlichen Neigungen« haben mit der »Schuldunfähigkeit« nichts zu tun; die Begründung ist vermutlich falsch zitiert, auf jeden Fall Unsinn. »Schädliche Neigungen« sind eine von zwei (alternativen oder kumulativen) Voraussetzungen für die Verhängung von Jugendstrafe (also Freiheitsstrafe gegen Jugendliche).

Das Jugendstrafrecht steht unter dem Oberbegriff des »Erziehungsgedankens«: Man will durch andere Maßnahmen (Auflagen, Weisungen, Arrest, Geldstrafe) möglichst die Verhängung der (oft eher schädlichen) Jugendstrafe vermeiden. Wenn aber entweder »die Schwere der Schuld« oder »schädliche Neigungen« bejaht werden müssen, ist Jugendstrafe zu verhängen. »Schwere der Schuld« liegt zum Beispiel bei massiven Gewalttaten oder bei vorsätzlichen Taten mit hohem Schaden nahe. »Schädliche Neigungen« sind, was man auch als »Tendenz zur sozialen Verwahrlosung«, Neigung zur Wiederholung, Fehlen von moralischen Strukturen und so weiter beschreiben kann. Bei Spontantaten, »Ausrutschern«, Taten unter Berauschung oder in emotionalem Stress liegen schädliche Neigungen nicht nahe.

Alkohol und Schuld


An dieser Stelle muss man einen Blick auf die...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2022
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Anwalt • Bundesrichter • Debatte • Erzählendes Sachbuch • Gericht • Gerichtsreportage • Gesetze • Journalismus • Justiz • Justizirrtum • Justizsystem • Justizsystem Deutschland • Kolumne • Kolumnen Buch • Kolumnen Strafrecht • Kolumne Thomas Fischer • Kritik • Kritik an Medien • Medien • Medien-Kritik • moral und strafe • Politik • Populismus • Recht haben • Rechtssystem • Rechtssystem deutschland • Recht und Gerechtigkeit • Recht und Sicherheit • Richter • richter-Sprüche • Sex and Crime • Spiegel • SPIEGEL-Kolumne • Spiegel-Kolumnist • Staatsanwalt • Stellungnahme • Strafrecht • Strafrecht Deutschland • Straftäter • Thomas Fischer • True Crime • über das strafen • Urteil
ISBN-10 3-426-46483-7 / 3426464837
ISBN-13 978-3-426-46483-0 / 9783426464830
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