Hurra, wir dürfen zahlen (eBook)

Der Selbstbetrug der Mittelschicht
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
224 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60167-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hurra, wir dürfen zahlen -  Ulrike Herrmann
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Die Mittelschicht in Deutschland betrachtet sich gerne und immer häufiger als Opfer. Ständig hat sie den Verdacht, sie würde vom Staat ausgebeutet. Doch: Stellt die Mittelschicht nicht die Mehrheit in dieser Gesellschaft? Warum stimmt sie zum Beispiel für Steuergesetze, die die Oberschicht einseitig privilegieren? Warum benimmt sich die Mittelschicht so irrational? Ulrike Herrmann untersucht den bundesdeutschen Alltag, analysiert die wundersame Vermehrung der Milliardäre, die Renaissance des Adels, die Rückkehr der Dienstboten, die Verachtung der Unterschicht und den fatalen Glauben der Mittelschicht, sie sei privilegiert. Aber die Zeit drängt. Findet die Mittelschicht nicht zu einem realistischen Selbstbild, sondern hängt weiter ihrem Elitedünkel an, wird sie auch weiterhin allein für wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen bezahlen.

Ulrike Herrmann, Jahrgang 1964, ist Wirtschaftskorrespondentin der Tageszeitung »taz«. Sie ist ausgebildete Bankkauffrau, hat Geschichte und Philosophie studiert und war anschließend wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Körber-Stfitung sowie Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager. Ulrike Herrmann ist ein typisches Mittelschichtskind. Sie stammt aus einem Vorort von Hamburg, wo alle Bewohner an den gesellschaftlichen Aufstieg glaubten.

1 Der Selbstbetrug der Mittelschicht

Die Mittelschicht ist frustriert. 2000 Studenten sollten kürzlich die Frage beantworten, welches Bild die Gesellschaft am besten beschreibt: eine Zwiebel oder eine Pyramide? Passt noch das Bild von der gemütlichen Knolle – wo es oben und unten ein paar Reiche und Arme gibt, während sich die starke Mitte prall rundet? Oder ruht inzwischen eine schmale Oberschicht auf einem breiten Sockel von Armut? Fast alle Studenten entschieden sich für dieses zweite Bild der Pyramide. Das Vertrauen in die Chancengleichheit, lange Zeit zentral für das Selbstverständnis der Bundesrepublik, ist offenbar tief gestört. Die Mittelschicht empfindet, dass sie abgedankt hat.

Dieser Pessimismus ist berechtigt: In Deutschland schrumpft die Mittelschicht, wie Sozialerhebungen belegen. Die Reichen werden reicher, während zugleich die Zahl der Armen steigt – und die Mittelschicht verliert nicht nur in der Krise, sondern selbst noch im Boom. Früher konnten sich die Angestellten darauf verlassen, dass ihre Reallöhne stiegen, wenn die Wirtschaft wuchs. Doch beim letzten Aufschwung zwischen 2005 und 2008 galt dieses scheinbar eherne Gesetz nicht länger. Während die Firmengewinne explodierten, stagnierten die Gehälter.

Warum aber schrumpft die Mittelschicht? Warum sinken ihre Gehälter? Oft wird vermutet, dass der Staat schuld sei, der die Mittelschicht durch Steuern und Sozialabgaben ausplündere.1 Völlig falsch ist diese Beobachtung nicht. Tatsächlich haben die jüngsten Steuerreformen vor allem die Spitzenverdiener begünstigt, während die Mittelschicht damit allein gelassen wird, die wachsende Zahl der Armen zu finanzieren.

Trotzdem bleibt es seltsam, ausgerechnet die Mittelschicht als Opfer des Staates zu bedauern. Denn die Mittelschicht stellt noch immer die weitaus meisten Wahlberechtigten. Ihre Mehrheit wirkt sich an der Urne sogar überproportional aus, weil die Armen ihre Stimme oft gar nicht erst abgeben.2 Auch die Politik weiß genau, dass Wahlen nur mit der Mittelschicht zu gewinnen sind, weswegen alle etablierten Parteien monoman auf die »Mitte« zielen. Die FDP etwa warb im vergangenen Bundestagswahlkampf mit dem Slogan »Die Mitte stärken«.

Die Mittelschicht kann also nicht nur Opfer, sondern muss auch Täter sein. Wenn sie absteigt, dann nur, weil sie an diesem Abstieg mitwirkt. Sie selbst ist es, die für eine Steuer- und Sozialpolitik stimmt, die ihren Interessen völlig entgegengesetzt ist.

In Deutschland haben die Wähler sogar mehr Macht als in vielen anderen EU-Staaten: Der Föderalismus sorgt dafür, dass eine Bundesregierung nicht nur alle vier Jahre die Bundestagswahl bestehen muss – sondern zwischendurch auch bei diversen Landtagswahlen abgestraft werden kann, die stets als Stimmungstest gelten und regelmäßig zu Kurskorrekturen führen.

Wenn also die rot-grüne Regierung den Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt hat, wovon allein die sehr hohen Einkommen profitierten – dann muss sie geglaubt haben, dass auch die Mittelschicht einverstanden wäre, wenn die Spitzenverdiener ein Milliardengeschenk erhalten. Ähnlich verhält es sich mit der neuen schwarz-gelben Regierung: Wieder werden Steuersenkungen versprochen, diesmal in Höhe von 24 Milliarden Euro, von denen vor allem die Bessergestellten profitieren. Gleichzeitig sollen aber die Sozialabgaben steigen, was alle Arbeitnehmer belastet. Die neue Regierung war für die meisten Bürger ein absehbar schlechtes Geschäft – und trotzdem hat die Mehrheit diese »Koalition der Mitte« an die Macht gewählt.

Warum also stimmt die Mittelschicht immer wieder gegen ihre eigenen Interessen? Nicht selten wird vermutet, dass Medien und Lobbyisten die Bundesbürger so lange gezielt verwirren, bis sie hörig den Eliten folgen.3 Und tatsächlich ist der Einfluss von Journalisten und Verbänden enorm – aber grenzenlos ist er nicht. Zeitungen müssen gekauft, Sendungen gesehen und Lobby-Botschaften geglaubt werden. Wer die Interessen einer Minderheit durchsetzen will, muss die Emotionen der Mehrheit berühren.

Lobbyisten sind nur erfolgreich, weil sie auf das Selbstbild der Mittelschicht zielen. Sie sprechen deren Träume und Hoffnungen an, bedienen ihre Ängste und Vorurteile. Konkret: Wenn Lobbyisten Steuersenkungen für die Reichen durchbringen wollen, dann müssen sie der Mittelschicht das Gefühl geben, dass sie ebenfalls zur Elite gehört. Man muss die Mittelschicht zum Selbstbetrug animieren.

Zunächst mag es erstaunen, dass die Mittelschicht überhaupt je auf die Idee verfallen konnte, sich in der Nähe der Elite zu glauben. Denn begütert ist die Mittelschicht nicht. Zu ihr zählt, wer zwischen siebzig und hundertfünfzig Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat. Bei einem Single wären dies zwischen 1000 und 2200 Euro netto im Monat. Bei Familien liegt die Spannbreite deutlich höher, weil auch der Bedarf größer ist. So benötigt ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern zwischen 2100 und 4600 Euro netto, um zur Mittelschicht zu gehören. Darunter beginnt die Unterschicht, darüber schon die Oberschicht.4

Diese sozio-ökonomischen Begriffe haben sich jedoch im alltäglichen Sprachgebrauch nicht immer durchgesetzt. So ist »Mittelschicht« zwar sehr gängig, doch »Oberschicht« wird kaum benutzt. Stattdessen hat sich das Wort »Elite« eingebürgert, das daher auch in diesem Buch verwendet wird – und damit alle meint, die sich mit ihrem Einkommen und Vermögen oberhalb der Mittelschicht etablieren konnten.

Doch zurück zur eigentlichen Frage: Wie kann es also sein, dass die Mittelschicht, mit ihrem eher bescheidenen Wohlstand, eine Politik unterstützt, die vor allem den Eliten dient? Drei Mechanismen scheinen ineinanderzugreifen.

Erstens: Die Reichen rechnen sich arm und erklären sich selbst zu einem Teil der Mittelschicht. Sie verschleiern ihren Wohlstand derart gekonnt, dass völlig unklar ist, wie reich sie wirklich sind. Fest steht nur, dass Billionen Euro aus der Statistik verschwinden. Zudem suggerieren die Eliten der Mittelschicht, dass ein Aufstieg in die oberen Ränge jederzeit möglich sei – und verbrämen damit geschickt, dass sich die Eliten faktisch nach unten abschließen, was schon mit der Partnerwahl beginnt. Diese heimlichen Techniken der Dominanz lassen sich von niemandem besser lernen als vom deutschen Adel, der sich noch immer an der Spitze hält, ohne eigentlich Macht zu besitzen.

Zweitens: Umgekehrt nimmt die Mittelschicht nicht wahr, wie groß der Abstand zu den Eliten tatsächlich ist. Die Mehrheit der Deutschen hält sich für einigermaßen wohlhabend und neigt dazu, die Grenze des Reichtums knapp oberhalb ihres eigenen Einkommens und Vermögens anzusetzen.5 In dieser Weltsicht muss man sich also nur ein bisschen anstrengen oder ein wenig Glück haben – und schon gehört man selbst zur Elite. Leistung lohnt sich, davon ist die Mittelschicht noch immer überzeugt. Und sollte man selbst nicht an die Spitze gelangen, dann könnten zumindest die eigenen Kinder Karriere machen. Der Glaube an den eigenen Aufstieg ist in der Mittelschicht ungebrochen, wie auch der Boom der Privatschulen zeigt.

Drittens: Die Mittelschicht überschätzt ihren Status auch deshalb, weil sie viel Kraft und Aufmerksamkeit darauf verwendet, sich vehement von der Unterschicht abzugrenzen. Nur zu gern pflegt die Mittelschicht das Vorurteil, dass die Armen eigentlich Schmarotzer seien. So meinen immerhin 57 Prozent der Bundesbürger, dass sich Langzeitarbeitslose »ein schönes Leben auf Kosten der Gesellschaft machen«.6 Aus dieser Verachtung für die Unterschicht entsteht dann eine fatale Allianz: Die Mittelschicht sieht sich an der Seite der Elite, weil sie meint, dass man gemeinsam von perfiden Armen ausgebeutet würde.

Die Kosten dieses Selbstbetrugs sind enorm. Während die Eliten immer weniger belastet werden, verliert die Mittelschicht rapide. Schon jetzt müssen Arbeitnehmer bis zu 53 Prozent ihrer Arbeitskosten als Steuern und Sozialabgaben abführen – während umgekehrt Millionäre ihre Einkünfte mit nur durchschnittlich 34 Prozent versteuern.

Künftig dürfte die Mittelschicht sogar noch stärker belastet werden. Die Finanzkrise hat die Staatsverschuldung stark erhöht – und diese Kosten wird erneut allein die Mittelschicht tragen, wenn sie sich nicht aus ihrer fatalen Allianz mit den Eliten löst.

Die Mittelschicht ahnt bereits, dass die Kosten der Finanzkrise an ihr hängen bleiben sollen. Trotzdem wendet sie sich weiterhin gegen die Unterschicht und nicht etwa gegen die Eliten. So sagen fast 65 Prozent aller Menschen, die sich selbst von der Wirtschaftskrise betroffen fühlen: »In Deutschland müssen zu viele schwache Gruppen mitversorgt werden.«7 Wieder gerät völlig aus dem Blick, dass vor allem die Vermögenden davon profitiert haben, dass der Staat mit Milliardensummen Banken und Wirtschaft gerettet hat. Stattdessen werden nun die Armen einmal mehr zu Schmarotzern erklärt, obwohl sie Opfer der Krise sind.

Dass die Armen so wenig Solidarität erfahren, kann man zu Recht moralisch verurteilen. Trotzdem verfolgt dieses Buch einen anderen Ansatz: Es versucht zu zeigen, dass es nicht nur ethisch geboten wäre, die Unterschicht zu unterstützen – sondern dass es im eigenen Interesse der Mittelschicht ist, sich mit den Armen zu verbünden. Denn solange sich die Mittelschicht weiterhin mit aller Macht gegen die Unterschicht abgrenzt, wird sie jene Allianz mit den Eliten fortsetzen, die allein den Reichen nutzt....

Erscheint lt. Verlag 31.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Eliten • Hartz IV • neoliberale Finanzpolitik • neoliberale Ideologie • Neoliberalismus • Pisa • Politik • Steuergerechtigkeit • Steuergesetze • Steuern • Steuersenkung • Unterschicht • Wirtschaft
ISBN-10 3-492-60167-7 / 3492601677
ISBN-13 978-3-492-60167-2 / 9783492601672
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