Frei (eBook)

Spiegel-Bestseller
Erwachsenwerden am Ende der Geschichte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
333 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77243-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frei -  Lea Ypi
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Ein fesselndes Memoir über das poststalinistische Albanien
Albanien 1989 - es herrschen Mangelwirtschaft, die Geheimpolizei und das Proletariat. Für die zehnjährige Lea ist dieses Land ihr Zuhause: ein Ort der Geborgenheit, des Lernens und der Hoffnung. Alles ändert sich, als die Mauer fällt. Jetzt können die Menschen wählen, wen sie wollen, sich kleiden, wie sie wollen, anbeten, was sie wollen. Aber die neue Zeit zeigt bald ihr hartes Gesicht: Skrupellose Geschäftemacher ruinieren die Wirtschaft, die Aussicht auf eine bessere Zukunft löst sich auf in Arbeitslosigkeit und Massenflucht. Das Land versinkt im Chaos, und Lea beginnt sich zu fragen, was das eigentlich ist: Freiheit. In hinreißender Prosa erzählt die Autorin über das Erwachsenwerden im poststalinistischen Albanien und in einer schillernden Familie, die vom Sturm der Geschichte erfasst wird.

Lea Ypi, geboren 1979 in Tirana, Albanien, hat in Florenz und Rom Philosophie und Literatur studiert und unter anderem in Paris, Oxford, Stanford und Frankfurt am Main geforscht und gelehrt. Derzeit ist sie Professorin für Politische Theorie an der London School of Economics. Für den Guardian schreibt sie regelmäßig zu gesellschaftspolitischen Themen. Im Suhrkamp Verlag erschien 2022 ihr autobiografisches Werk Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte.

1.

11Stalin


Ich habe mich nie gefragt, was Freiheit bedeutet, nicht bis zu dem Tag, als ich Stalin umarmte. Aus der Nähe wirkte er viel größer als erwartet. Unsere Lehrerin Nora hatte uns erzählt, Imperialisten und Revisionisten stellten Stalin gern als kleinen Mann dar, doch tatsächlich sei er nicht so klein gewesen wie Ludwig XIV., über dessen Körpergröße – seltsamerweise – niemand je redete. Jedenfalls, fügte sie ernst hinzu, sei es ein typisch imperialistischer Fehler, sich auf Äußerlichkeiten zu konzentrieren statt auf das, was wirklich zählt: Stalin war ein Riese und sein Erbe weitaus wichtiger als seine Statur.

Was Stalin so besonders machte, fuhr Nora fort, war seine Fähigkeit, mit den Augen zu lächeln. Ist das zu glauben? Mit den Augen lächeln? Es lag daran, dass sein freundlicher Schnurrbart die Lippen verdeckte, und wer nur auf die Lippen achtete, würde niemals erkennen, ob Stalin gerade lächelte oder etwas anderes tat. Doch es genügte ein Blick in seine Augen – stechend, intelligent und braun – und man wusste Bescheid. Stalin lächelte. Manche Leute schafften es nicht, anderen in die Augen zu sehen. Offensichtlich hatten sie etwas zu verbergen. Stalin hingegen sah einen unverwandt an, und falls ihm danach war und man sich gut benommen hatte, lächelten seine Augen. Meistens trug er einen unscheinbaren Mantel und schlichte braune Schuhe, außerdem schob er sich oft die 12rechte Hand unters linke Revers, wie um sie sich aufs Herz zu legen. Die andere Hand ließ er oft in der Tasche.

»In der Tasche?«, fragten wir. »Ist es denn nicht unhöflich, mit der Hand in der Tasche herumzulaufen? Die Erwachsenen sagen uns immer, wir sollen die Hände aus den Taschen nehmen.«

»Nun ja«, sagte Nora. »In der Sowjetunion ist es sehr kalt. Außerdem«, fügte sie hinzu, »hatte Napoleon auch immer eine Hand in der Tasche, und da hat keiner behauptet, es wäre unhöflich.«

»Nicht in der Tasche«, sagte ich schüchtern. »In seiner Weste. Zu seiner Zeit galt das als Zeichen für eine gute Erziehung.«

Lehrerin Nora ignorierte mich und wartete auf die nächste Frage.

»Und er war klein«, ergänzte ich.

»Woher willst du das wissen?«

»Meine Großmutter hat es mir erzählt.«

»Was genau hat sie gesagt?«

»Sie hat gesagt, Napoleon war klein, aber als Marx' Lehrer Hangel, oder Hegel, ich weiß es nicht mehr, ihn gesehen hat, sagte er, man könnte den Weltgeist auf einem Pferd stehen sehen.«

»Hangel«, korrigierte sie mich. »Und Hangel hatte recht. Napoleon hat Europa verändert. Er war ein Wegbereiter der Aufklärung und ein großer Mann. Aber nicht so groß wie Stalin. Hätte Marx' Lehrer Hangel Stalin dort stehen sehen, natürlich nicht auf einem Pferd, aber vielleicht auf einem Panzer, hätte er ebenfalls vom Weltgeist gesprochen. Stalin war eine wichtige Inspiration für viele Menschen, nicht nur in Europa, sondern auch für Millionen unserer Brüder und Schwestern in Asien und Afrika.«

13»Hat Stalin Kinder geliebt?«, fragten wir.

»Natürlich!«

»Mehr als Lenin?«

»Ungefähr genauso sehr, aber seine Feinde haben immer versucht, das zu verheimlichen. Sie wollten Stalin schlechter als Lenin aussehen lassen, weil er stärker und für sie viel, viel gefährlicher war. Lenin hat Russland verändert, Stalin die ganze Welt. Aus diesem Grund wurde die Tatsache, dass Stalin Kinder ebenso sehr geliebt hat wie Lenin, nie offiziell festgestellt.«

»Hat Stalin Kinder so geliebt wie Onkel Enver?«

Lehrerin Nora zögerte.

»Noch mehr?«

»Ihr wisst die Antwort«, sagte sie mit einem warmen Lächeln.

Vielleicht hat Stalin Kinder geliebt. Wahrscheinlich haben die Kinder Stalin geliebt. Absolut fest steht nur, dass ich ihn nie mehr liebte als an jenem nassen Dezembernachmittag, als ich vom Hafen zu dem kleinen Park am Kulturpalast rannte. Ich schwitzte und zitterte und mein Herz klopfte so wild, dass ich fürchtete, es könnte mir aus dem Mund springen. Zwei Kilometer war ich gerannt, so schnell ich konnte, und dann hatte ich den kleinen Park entdeckt, und als Stalin am Horizont erschien, wusste ich, ich war in Sicherheit. Er stand dort so feierlich wie immer mit seinem unscheinbaren Mantel, den schlichten Bronzeschuhen und der rechten Hand unterm Revers, als hielte er sich das Herz. Ich blieb stehen, vergewisserte mich, dass niemand mir gefolgt war, und trat näher heran. Sobald ich die Wange an Stalins Oberschenkel legte und versuchte, seine Knie vollständig zu umarmen, wurde ich unsichtbar. Ich atmete tief durch, kniff die Augen zu und zählte. Eins. Zwei. 14Drei. Als ich bei siebenunddreißig angekommen war, hörte ich die Hunde nicht mehr bellen. Das donnernde Stampfen von Stiefeln auf Asphalt war ein fernes Echo. Nur die Rufe der Demonstranten hallten noch vereinzelt herüber: »Freiheit, Demokratie, Freiheit, Demokratie.«

Als ich mich ganz sicher fühlte, ließ ich Stalin los. Ich setzte mich auf den Boden und nahm ihn genauer in Augenschein. Auf seinen Schuhen trockneten die letzten Regentropfen, die Farbe des Mantels war verblasst. Stalin war genauso, wie Lehrerin Nora ihn beschrieben hatte: ein Bronzeriese mit unerwartet großen Händen und Füßen. Ich legte den Kopf in den Nacken, um zu sehen, ob sein Schnurrbart tatsächlich die Oberlippe verdeckte und er mit den Augen lächelte. Aber da war kein Lächeln. Keine Augen, keine Lippen, nicht einmal ein Schnurrbart. Die Hooligans hatten Stalins Kopf gestohlen.

Ich schlug mir die Hand vor den Mund und unterdrückte einen Schrei. Stalin, der Bronzeriese mit dem freundlichen Schnurrbart, der schon im Garten des Kulturpalastes gestanden hatte, als ich noch nicht einmal geboren war – geköpft? Stalin, über den Hangel gesagt hätte, er wäre der Weltgeist auf einem Panzer? Warum? Was wollten sie? Warum riefen sie »Freiheit, Demokratie, Freiheit, Demokratie«? Was sollte das bedeuten?

Über Freiheit hatte ich nie viel nachgedacht. Warum auch, wir hatten jede Menge Freiheiten. Ich fühlte mich so frei, dass mir die Freiheit manchmal wie eine Bürde erschien und gelegentlich, an Tagen wie diesem, sogar wie eine Bedrohung.

Ich hatte nicht in die Demonstration geraten wollen. Ich wusste ja kaum, was eine Demonstration war. Nur wenige Stunden zuvor hatte ich vor dem Schultor im Regen gestanden und mich gefragt, auf welchem Weg ich nach Hause gehen sollte: linksherum, rechtsherum oder geradeaus. Es stand mir frei, 15mich zu entscheiden. Jede Route warf andere Fragen auf, es galt, Gründe und Konsequenzen abzuwägen, die möglichen Folgen zu bedenken und eine Entscheidung zu treffen, von der ich wusste, dass ich sie am Ende vielleicht bereuen würde.

So wie an diesem Tag. Ich hatte frei entschieden, auf welchem Weg ich nach Hause gehen würde, und die falsche Wahl getroffen. Nach der letzten Stunde hatten wir Klassendienst. Beim Putzen wechselten wir uns in Vierergruppen ab, aber meistens erfanden die Jungen irgendeine Ausrede und ließen die Mädchen allein zurück. Ich hatte mir die Schicht mit meiner Freundin Elona geteilt. An normalen Tagen verließen Elona und ich nach dem Klassendienst die Schule und gingen bei der alten Frau vorbei, die an der nächsten Straßenecke auf dem Bürgersteig saß und Sonnenblumenkerne verkaufte. »Können wir mal probieren? Sind die mit Salz oder ohne? Geröstet oder nicht?«, fragten wir. Die Frau öffnete einen der drei mitgebrachten Säcke – einer für geröstet und gesalzen, einer für geröstet und ungesalzen, der dritte für ungeröstet und ungesalzen –, und wir durften uns aus jedem ein paar Kerne nehmen. An Tagen mit etwas Kleingeld hatten wir die große Auswahl.

Anschließend bogen wir nach links ab und gingen zu Elona. Unterwegs kauten wir Sonnenblumenkerne, und an der Tür mühten wir uns mit dem rostigen alten Schlüssel ab, den Elona an einer Halskette ihrer Mutter unter der Schuluniform trug. Einmal in der Wohnung, mussten wir uns...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2022
Übersetzer Eva Bonné
Sprache deutsch
Original-Titel Free. Coming of Age at the End of History.
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
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ISBN-10 3-518-77243-0 / 3518772430
ISBN-13 978-3-518-77243-0 / 9783518772430
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