Marxismus und Anarchismus (eBook)

Mit Texten von Steve Hollasky, René Arnsburg, Jens Jaschik, Leo Trotzki, Victor Serge, Friedrich Engels und Nikolai Bucharin

(Autor)

René Arnsburg (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
264 Seiten
Manifest Verlag
978-3-7546-4142-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Marxismus und Anarchismus -  René Arnsburg
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Der Anarchismus und anarchistische Gruppen wirken in ihrer radikalen Ablehnung von Herrschaft, Staat und jeglicher Unterdrückung bis heute anziehend auf vor allem junge Menschen, die sich angesichts der unerträglichen Zustände auf der Welt radikalisieren. Dabei gibt es im Anarchismus, wie bei anderen Strömungen auch, nicht die eine, sondern verschiedene Richtungen, die zu verschiedenen Zeiten eine Rolle spielten. Gab es in den 30er Jahren wirkliche anarchistische (bzw. syndikalistische) Massenorganisationen wie die CGT in Frankreich oder die CNT im spanischen Staat, war das für Länder wie Deutschland nie der Fall. Bis heute gibt es in vielen Ländern Organisationen, die in der Tradition des Anarchismus stehen. Oft ist es jedoch viel mehr die Vorstellung, die Aktivist*innen vom Anarchismus haben, mit der sie sympathisieren, als sich selbst in einer anarchistischen Gruppe zu organisieren. Die reformistische Haltung in den Gewerkschaften oder vieler führender Mitglieder der Partei DIE LINKE hinterlässt ein Vakuum auf der radikalen Linken, das auch in Zukunft wieder zu einer verstärkten Zuwendung zu anarchistischen Ideen führen kann. Die Auseinandersetzung des Marxismus mit dem Anarchismus ist über 150 Jahre alt und begann bereits innerhalb der Internationalen Arbeiter-Assoziation (Erste Internationale), der Marx und Engels als Gründungsmitglieder selbst angehörten. Diese Textsammlung soll zu einem besseren Verständnis beitragen, welche inhaltlich begründete Haltung Marxist*innen heute und in der Vergangenheit gegenüber dem Anarchismus eingenommen haben. Dabei wird in neuen Texten auf die Situation in Deutschland heute eingegangen, dem Anarchismus im spanischen Bürgerkrieg und in der Revolution in Russland sowie dem Aufstand in Kronstadt und der Politik der Bolschewiki. Im zweiten Teil befinden sich einige grundlegende Originaltexte zum Anarchismus von Friedrich Engels, Leo Trotzki, einem bislang auf deutsch unveröffentlichten Text von Victor Serge und anderen.

René Arnsburg ist Mitglied des Bundesvorstands der Sozialistischen Organisation Solidarität und in verschiedenen Gremien der Gewerkschaft ver.di aktiv. Bei Manifest erschien 2017 sein erstes Buch »Maschinen ohne Menschen.«

René Arnsburg ist Mitglied des Bundesvorstands der Sozialistischen Organisation Solidarität und in verschiedenen Gremien der Gewerkschaft ver.di aktiv. Bei Manifest erschien 2017 sein erstes Buch »Maschinen ohne Menschen.«

Steve Hollasky: Die Russische Revolution und der Anarchismus


Die Oktoberrevolution 1917 war ein Ereignis von welthistorischem Ausmaß – mit großer Sicherheit sogar das wichtigste des 20. Jahrhunderts. Die Bewertung der stürmischen Ereignisse im Russland des vierten Kriegsjahres brachte viele Gegner*innen des Kapitalismus an ihre Grenzen und in nicht wenigen Fällen offenbarte sie wo genau die politischen Strömungen innerhalb der Arbeiter*innenbewegung standen.

Karl Kautsky, der Cheftheoretiker der Zweiten Sozialistischen Internationale, in der die Arbeiter*innenparteien weltweit organisiert waren, mauserte sich zu einem der Chefankläger gegen Lenin, Trotzki und die Bolschewiki allgemein. Noch im Ersten Weltkrieg verfasste er Schmähschriften gegen die Oktoberrevolution. Der linke Flügel der Sozialistischen Internationale spaltete sich daher von dieser ab. Im Angesicht der revolutionären Ereignisse in Russland musste man Farbe bekennen.

Das zählte auch für die anarchistischen Organisationen. Ob nun große Gruppen oder kleine Grüppchen, sie alle mussten sich positionieren. Augustin Souchys Glaubenssatz mag hier symptomatisch sein. Geht es nach ihm, hätten die Anarchist*innen weltweit 1917 gehofft, dass »im Osten« endlich »die Sonne der Freiheit« aufgehe. Doch innerhalb von zwei Jahren nach dem Sieg der Revolution hätten die Ereignisse in Russland eine Wendung genommen, die die Anarchist*innen weltweit beunruhigt hätten. Denn Lenin hätte als die entscheidende Führungsperson an der Spitze der Bolschewiki die Diktatur des Proletariats »nicht nur gegen Feinde der Revolution« ausgerichtet, »sondern auch gegen ihre Freunde und Vorkämpfer«, wie der österreichische Anarchist in seiner Autobiografie festhält.

Noch deutlicher wurde Emma Goldmann. Die US-amerikanische Anarchistin hatte im Sowjetrussland nach der Revolution mitsamt ihres zeitweisen Lebensgefährten Alexander Berkman Zuflucht gefunden, nachdem beide aufgrund ihrer politischen Tätigkeit aus den USA ausgewiesen worden waren. Sie hatte das revolutionäre Land inmitten des Kampfes der Revolution um ihr Überleben mit einem Ticket der Bolschewiki durchreist. Ihre Bilanz war wenig freundlich: Während »das russische Volk, das allein die Revolution gemacht hatte, und das entschlossen war, sie um jeden Preis gegen die Eindringlinge zu verteidigen«, an »unzähligen Fronten« gekämpft habe, hätte »es dem Feinde der Revolution im Innern« keine Beachtung »schenken können.« Die Antwort auf die Frage, wer dieser »Feind im Innern« war, lässt in ihrem 1922 erschienen Büchlein zur »Niederlage der russischen Revolution« nicht lange auf sich warten. Es seien »die Bolschewiki« und ihr »zentralistischer Staat« gewesen.

So oder so ähnlich schildern viele Anarchist*innen die Oktoberrevolution bis heute. Sie seien für die Revolution, aber gegen die Machteroberung durch die Bolschewiki: Sie würden freie Sowjets bejahen, aber deren Zentralisierung ablehnen; sie würden den Kapitalismus abschaffen, jedoch ohne Unternehmen verstaatlichen zu wollen. Die Wahrheit war bei Weitem komplizierter und die Haltung der anarchistischen Bewegung, die man aufgrund ihrer organisatorischen und auch programmatischen Zersplitterung nur schwer so nennen kann, lange nicht so eindeutig wie im Nachhinein gern dargestellt. Selbst einzelne, einflussreiche Vertreter*innen des Anarchismus wechselten periodisch ihre Haltung zur Revolution in Russland.

Anarchismus in Russland

Der russische Anarchismus zerfiel in wenigstens vier Richtungen, von denen drei weitgehend typisch für den Anarchismus des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sind. Die in den inneranarchistischen Machtkämpfen wahrscheinlich am meisten attackierte Strömung war die des Anarcho-Individualismus. Dessen Kritik am Staat und Betonung der vollkommenen Ungebundenheit des Individuums ging so weit, dass auch von anarchistischer Seite Parallelen zum klassischen Liberalismus gezogen wurden. Friedrich Nietzsches kurioser philosophischer Eklektizismus galten den Anarcho-Individualist*innen ebenso als Blaupause wie die Lehren Bakunins. Als sich individualistische Anarchist*innen verstärkt der »Propaganda der Tat« zuwendeten, also Anschläge auf Aushängeschilder des Staates verübten, war es insbesondere einer der weiteren Väter des russischen Anarchismus, Pjotr Kropotkin, der diese Strömung dafür ins Visier nahm.

Der Aderlass sei zu groß, die Erfolge zu gering und eine Revolution mittels dieser Methode schlicht nicht auszulösen, so Kropotkins vernichtendes Urteil über die weltweit von Anarchist*innen verschiedener Strömungen angewandte »Propaganda der Tat.«

Sein »kommunistischer Anarchismus«, war der zahlenmäßig wahrscheinlich stärkste anarchistische Flügel in Russland vor Beginn des Ersten Weltkriegs und betonte das Kollektiv, statt des Individuums. Kropotkins Weg war alles andere als vorgezeichnet. Als Angehöriger des russischen Adels wurde seine Abwendung vom Zarenreich selbst im engsten Familienkreis als Verrat gesehen. Seine Autobiografie skizziert das Psychogramm einer untergehenden Klasse, wie sie Kropotkin als Kind und Jugendlicher erleben musste. Sein Ekel über die brutalen Prügelstrafen für Bäuerinnen und Bauern und die enorme Armut werden ihn den russischen Adel hassen lehren, ebenso wie den zaristischen Staat. In dem er fortan einen seiner Hauptgegner erkennt.

Vielleicht ist es dieser durchaus begründete Hass, der ihn den Blick für die wirkliche Rolle des Staates verstellen wird. Selbst Lenins proletarischer Staat, mitsamt der jederzeitigen Wähl- und Abwählbarkeit aller Funktionsträger*innen, die lediglich einen durchschnittlichen Arbeiter*innenlohn erhalten sollen und deren Rechenschaftspflicht, ist Kropotkin ein Graus. Lenins marxistische Sicht auf den Staat, der ein Kind der Klassengegensätze ist und auch nur verschwinden kann, wenn die Klassen verschwinden, verschließt sich Kropotkin. Die von Lenin in »Staat und Revolution« im Revolutionsjahr 1917 niedergeschriebene Idee, man müsse die bürgerliche Staatsmaschinerie brechen, den Arbeiter*innenstaat errichten und dieser werde mit Verschwinden der Klassen aufgehoben, ist für Kropotkin nicht verständlich.

Kropotkins Haltung zum Ersten Weltkrieg entspringt einer verhängnisvollen Fehleinschätzung. Für ihn ist ausgerechnet der Waffengang der deutschen Herrschenden ein Befreiungskrieg der deutschen Arbeiter*innen gegen den Zarismus. Insofern befürwortet Kropotkin den Krieg, obgleich er nicht auf der Seite des russischen Zaren steht. Etwa 1,8 Millionen russischer Soldaten und hunderttausende russische Zivilist*innen mussten mit ihrem Leben bezeugen, dass Kropotkins Auffassungen zum Krieg grundfalsch waren. Das Ende des Zarismus kam nicht etwa durch starke deutsche Bajonette, sondern durch die Kraft der Schwachen.

Kropotkins Begeisterung für die Französische Revolution ließ ihn unter anderem ein zweibändiges Grundsatzwerk über die revolutionären Erschütterungen in Frankreich zwischen 1789 und 1796 verfassen, das Lenin als das wahrscheinlich beste jemals geschriebene Werk über dieses Thema lobte.

Die Lehren, die Kropotkin für seine eigene politische Praxis aus der Französischen Revolution zog, waren leider weniger weitblickend. Das Vorbild für die Organisation der postkapitalistischen Gesellschaft waren für ihn die großen Eisenbahnunternehmen in den USA, die dort ganz selbstständig die bestmöglichen Linienführungen der zu bauenden Strecken miteinander vereinbarten. Für ihn ein Beweis, dass es eines Staates zu keiner Zeit bedurfte. Dass der Antrieb dieser Unternehmen nicht die Verbesserung der Lebensverhältnisse, sondern der größtmögliche Profit war und dass sie dafür jeden Vertrag brechend Schienen auch durch Ureinwohner*innen zugesprochenes Land legten – all das kürzte der Geograf einstweilen aus seinen Überlegungen heraus.

Das Zusammenleben der Menschen stellte sich Kropotkin als ein Miteinander weitgehend autonomer Kommunen vor. Vorbild hier war der teilweise noch immer bestehende bäuerliche Gemeinschaftsbesitz, der »Mir«, und die mittelalterliche Stadt, die Kropotkin immer wieder gern hervorhob. Dass das Zusammenleben dort durch Über- und Unterordnung, durch Reichtum für Wenige und Armut für Viele und durch restriktive staatliche Herrschaftsmethoden gekennzeichnet war, wollte Kropotkin, so scheint es, nicht sehen.

Abgrenzung zu den anarchistischen Kommunist*innen suchten die Anarcho-Syndikalist*innen, die versuchten gewerkschaftliche Organisationen aufzubauen. Geprägt waren sie von den Ideen Volins, der mit bürgerlichem Namen Wsewolod Michailowitsch Eichenbaum hieß. Dessen Vorstellung war, dass die Arbeiter*innen ihre Betriebe selbst übernehmen sollten. Genossenschaften sollten miteinander in Austausch treten. Dabei würde jedoch weder das Wertgesetz im Austausch außer Kraft gesetzt, noch die Konkurrenz der Betriebe untereinander, was Volin nicht erkannte. Wie genau die dann übernommenen Betriebe und ihre Produktion zu organisieren seien, blieb Volins Geheimnis.

Die vierte und für den Rest der Welt sehr untypische, somit also grundsätzlich russische, Version des Anarchismus war eine Strömung, die sich auf den Schriftsteller Leo Tolstoi bezog. Deren Anhänger*innen waren stark pazifistisch geprägt.

Der Streit zwischen und innerhalb dieser Strömungen war kein besonders fruchtbarer. Am Vorabend des Revolutionsjahres 1917 war von einer in sich logischen und anwendbaren anarchistischen Theorie wenig zu spüren. Folgerichtig lösten die Ereignisse ab Februar 1917 im russischen, letzten Endes sogar im weltweiten Anarchismus eine tiefe Krise...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Anarchismus • Anarchosyndikalismus • Russische Revolution • Russland • Spanien • Spanischer Bürgerkrieg
ISBN-10 3-7546-4142-5 / 3754641425
ISBN-13 978-3-7546-4142-2 / 9783754641422
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