Das Recht auf Sex (eBook)
320 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11843-8 (ISBN)
Amia Srinivasan, geboren am 20. Dezember 1984 in Bahrain, wuchs als Tochter indischer Eltern in New York auf. Sie studierte in Yale und promovierte in Philosophie am Corpus Christi College in Oxford. Am 1. Januar 2020 wurde sie auf den Chichele-Lehrstuhl in Oxford berufen, den früher Isiah Berlin innehatte. Ihr Buch 'Das Recht auf Sex' wurde spektakulären Debüt, das weltweit diskutiert wurde.
Amia Srinivasan, geboren am 20. Dezember 1984 in Bahrain, wuchs als Tochter indischer Eltern in New York auf. Sie studierte in Yale und promovierte in Philosophie am Corpus Christi College in Oxford. Am 1. Januar 2020 wurde sie auf den Chichele-Lehrstuhl in Oxford berufen, den früher Isiah Berlin innehatte. Ihr Buch "Das Recht auf Sex" wurde spektakulären Debüt, das weltweit diskutiert wurde.
Einleitung
Feminismus ist keine Philosophie, keine Theorie, ja, nicht einmal eine Anschauung. Er ist vielmehr eine politische Bewegung, die die Welt bis zur Unkenntlichkeit verändern soll. Der Feminismus fragt: Wie sähe die Welt aus, wenn wir der politischen, gesellschaftlichen, sexuellen, wirtschaftlichen, psychischen und physischen Unterordnung von Frauen ein Ende setzten? Er antwortet: Wir wissen es nicht; probieren wir es aus!
Feminismus beginnt dort, wo eine Frau erkennt, dass sie einer Geschlechterklasse angehört: dass sie Mitglied einer Klasse von Menschen ist, denen ein untergeordneter gesellschaftlicher Status zugewiesen wird, und zwar basierend auf dem sogenannten ›Geschlecht‹, das angeblich natürlich und präpolitisch ist, eine objektive materielle Grundlage, auf der die gesamte menschliche Kultur errichtet ist.
Wenn wir diese angeblich natürliche Sache, das ›Geschlecht‹, genauer betrachten, stellen wir fest, dass es bereits mit Bedeutung aufgeladen ist. Bei der Geburt werden alle Körper in ›männlich‹ und ›weiblich‹ sortiert, obwohl viele verstümmelt werden müssen, um in die eine oder andere Kategorie zu passen, und viele später gegen die gefällte Entscheidung aufbegehren. Diese originäre Zuteilung entscheidet über den gesellschaftlichen Zweck, der einem Körper zugewiesen wird. Einige Körper sind dazu bestimmt, neue Körper zu erschaffen, andere Körper zu waschen, zu kleiden und zu ernähren (aus Liebe, nie aus Pflichtgefühl), sie sind dazu bestimmt, anderen Körpern zu einem Gefühl des Wohlbefindens, der Kontrolle, der Freiheit zu verhelfen. Das Geschlecht ist somit etwas Kulturelles, das sich als etwas Natürliches ausgibt. Das Geschlecht, das der Feminismus uns vom Gender zu unterscheiden gelehrt hat, ist bereits getarntes Gender.[1]
Das ›Geschlecht‹ ist ein Aspekt der Sexualität, ›Sex‹ oder das, was wir mit unserem geschlechtlichen Körper tun, ein anderer. Einige Körper sind dazu da, dass andere mit ihnen Sex haben. Einige Körper sind für die Lust anderer da, dafür, von anderen besessen, konsumiert und angebetet zu werden, anderen zu Diensten zu sein und sie aufzuwerten. Auch in diesem zweiten Sinne, heißt es, sei ›Sexualität‹ etwas Natürliches, das außerhalb von Politik existiere. Der Feminismus zeigt auf, dass auch das eine Fiktion ist, und zwar eine, die ganz bestimmten Interessen dient. Der Geschlechtsakt, den wir als den privatesten aller Akte betrachten, ist in Wahrheit etwas Öffentliches. Die Rollen, die wir spielen, die Regungen, die wir empfinden, wer gibt, wer nimmt, wer fordert, wer dient, wer will, wer gewollt ist, wer profitiert, wer leidet: Die Regeln dafür wurden lange, bevor wir auf die Welt kamen, festgelegt.
Ein berühmter Philosoph sagte im Gespräch mit mir einmal, er lehne jede feministische Kritik der Sexualität ab, weil er nur beim Sex das Gefühl habe, wahrhaft außerhalb der Politik, wahrhaft frei zu sein. Ich fragte ihn, was seine Frau dazu sagen würde. (Selbst konnte ich sie nicht fragen, da sie zu dem Dinner nicht eingeladen war.) Das soll nicht heißen, dass Sex nicht frei sein kann. Feministinnen träumen seit Langem von sexueller Freiheit. Was sie allerdings ablehnen, ist das Trugbild: eine Sexualität, die angeblich frei ist, nicht weil sie gleichberechtigt, sondern weil sie allgegenwärtig ist. Sexuelle Freiheit ist in dieser Welt nicht selbstverständlich, sondern muss errungen werden, und sie bleibt immer unvollkommen. Simone de Beauvoir, die sich für die Zukunft eine freiere Sexualität erträumte, schrieb dazu in Das andere Geschlecht:
Sicher wird die Autonomie des weiblichen Geschlechts, wenn sie den Männern manchen Verdruß erspart, ihnen auch viel Unbequemlichkeit bereiten. Sicher gibt es gewisse Arten, das sexuelle Abenteuer zu leben, die der Welt von morgen verlorengehen. Aber das bedeutet nicht, daß die Liebe, das Glück, die Poesie und der Traum aus ihr verbannt wären. Hüten wir uns, daß unser mangelndes Vorstellungsvermögen nicht immer die Zukunft entvölkert […]. Unter den Geschlechtern werden neue körperliche und affektive Beziehungen entstehen […]. Es ist absurd zu behaupten, es würde keine Orgien, kein Laster, keine Ekstase, keine Leidenschaft mehr geben, wenn Mann und Frau einander konkret gleichgestellt wären. Die Widersprüche zwischen Fleisch und Geist, dem Augenblick und der Dauer, dem Sog der Immanenz und dem Ruf der Transzendenz, dem Absoluten der Lust und dem Nichts des Vergessens werden nie aufgehoben sein. Die Spannung, die Zerrissenheit, die Freude, das Scheitern und der Triumph der Existenz werden sich in der Sexualität immer materialisieren. […] Im Gegenteil, erst wenn die Versklavung der einen Hälfte der Menschheit mitsamt dem ganzen verlogenen System, das dazugehört, einmal abgeschafft ist, wird […] das von zwei Menschen gebildete Paar seine wahre Gestalt finden.[2]
Was wäre zu tun, damit Sex wirklich frei ist? Wir wissen es noch nicht, aber versuchen wir doch, es herauszufinden.
Diese Essays handeln von Politik und Ethik der Sexualität in dieser Welt und sind getrieben von der Hoffnung auf eine andere Welt. Sie beziehen sich auf eine ältere feministische Tradition, in der sich frau nicht fürchtete, Sex als ein politisches Phänomen zu betrachten, als etwas, das fest in der Sozialkritik verankert ist. Die Frauen dieser Tradition von Simone de Beauvoir und Alexandra Kollontai bis hin zu bell hooks, Audre Lorde, Catharine MacKinnon und Adrienne Rich fordern uns auf, die Ethik des Sex außerhalb der engen Parameter des consent, des »einvernehmlichen Sex«, zu denken. Sie beleuchten die Frage, welche Kräfte hinter dem Ja einer Frau stehen; was es über den Geschlechtsakt aussagt, wenn dafür ein Einverständnis notwendig ist; warum wir heute dieses Einverständnis mit einer psychischen, kulturellen und juristischen Last befrachten, für die es nicht ausgelegt ist. Und sie laden uns ein, mit ihnen von einer freieren Sexualität zu träumen.
Gleichzeitig unternehme ich in diesen Essays eine politische Kritik der Sexualität, die im Hinblick auf das 21. Jahrhundert geschrieben ist. Unter Berücksichtigung des komplexen Verhältnisses zwischen Sex und Race, Klasse, körperlicher oder geistiger Einschränkung, Nationalität und Kaste soll beleuchtet werden, was im Internetzeitalter aus der Sexualität geworden ist und was es heißt, im Umgang mit den Problemen der Sexualität die Macht des kapitalistischen, karzeralen Staates ins Feld zu führen.
In diesen Essays berücksichtige ich überwiegend die Situation in den USA und in Großbritannien, teilweise auch in Indien. In dieser Schwerpunktsetzung spiegelt sich meine Herkunft, es ist aber auch eine gezielte Entscheidung. Ich unterziehe hier Theorie und Praxis des englischsprachigen Mainstream-Feminismus, der seit Jahrzehnten die sichtbarste und materiell einflussreichste Form des weltweiten Feminismus darstellt, einer kritischen Betrachtung. (Frauen, die sich außerhalb des englischsprachigen feministischen Mainstreams betätigen, waren für sich oder ihr Umfeld natürlich nie unsichtbar oder ›marginal‹.) Diese Dominanz schwächt sich seit einiger Zeit zum Glück ab, nicht zuletzt, weil in jüngster Zeit die begeisterndsten und kraftvollsten feministischen Wortmeldungen außerhalb des englischsprachigen Kontextes zu finden waren. Um nur einige aktuelle Beispiele zu nennen: In Polen, wo die rechte Koalitionsregierung die Abtreibung weiter einschränkt, lehnten sich Feminist:innen mit Demonstrationen in mehr als 500 Groß- und Kleinstädten dagegen auf.[3] In Argentinien sah sich der Kongress nach fünf Jahren feministischer Massenaufmärsche unter dem Slogan Ni una Menos (»Nicht eine Frau weniger«) gezwungen, die Abtreibung zu legalisieren, und in Brasilien, Chile und Kolumbien, wo sie noch weitgehend verboten ist, organisieren sich Feminist:innen entsprechend. Im Sudan haben Frauen die revolutionären Proteste angeführt, die Omar Al-Baschirs diktatorisches Regime stürzten, und es war die sudanesische Feministin Alaa Salah, die mit kaum mehr als zwanzig Jahren den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen aufforderte, er möge dafür Sorge tragen, dass Frauen, Widerstandsgruppen und religiöse Minderheiten gleichberechtigt in der sudanesischen Übergangsregierung vertreten sind.[4]
In einigen Themenbereichen – Rechte für...
Erscheint lt. Verlag | 19.2.2022 |
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Übersetzer | Claudia Arlinghaus, Anne Emmert |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Gender Studies |
Schlagworte | Emotionale Gewalt • Emotionale Kompetenz • emotionale Vereinsamung • Feminismus • Gender- und Körpersprache • Geschlechterbeziehungen • Geschlechtergerechtigkeit • Gesellschaftlicher Wandel • Identitätsproblem • Kapitalismuskritik • persönliche Autonomie • Pornographie • Sexualität Frau • Sexualität Mann |
ISBN-10 | 3-608-11843-8 / 3608118438 |
ISBN-13 | 978-3-608-11843-8 / 9783608118438 |
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Größe: 3,6 MB
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