Die Diktatur der Wahrheit (eBook)
272 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-11859-9 (ISBN)
Steffen Greiner, geboren 1985 in Saarbrücken, ist Kulturwissenschaftler, Journalist und Dozent. Er lebt in Berlin. Steffen Greiner leitet die Redaktion der Zeitschrift zur Gegenwartskultur »Die Epilog« und war Mitautor von »Liebe, Körper, Wut & Nazis. Wie wir beschlossen, uns alles zu sagen«, 2020 bei Tropen erschienen.
Steffen Greiner, geboren 1985 in Saarbrücken, ist Kulturwissenschaftler, Journalist und Dozent. Er lebt in Berlin. Steffen Greiner leitet die Redaktion der Zeitschrift zur Gegenwartskultur »Die Epilog« und war Mitautor von »Liebe, Körper, Wut & Nazis. Wie wir beschlossen, uns alles zu sagen«, 2020 bei Tropen erschienen.
»Das Phänomen Lebensreform ist und bleibt nicht leicht zu fassen. Steffen Greiner, der eine gewandte Feder führt und kulturhistorisch einiges drauf hat, lotet das Phänomen in seinen mentalitätsgeschichtlichen Tiefendimensionen aus.«
Günter Kaindlstorfer, Ö1, 22. April 2022
»Als wirkliche Vorläufer der heutigen 'Querdenker' darf man die Inflationsheiligen daher nicht sehen. Und doch helfen ihre Biografien – die Greiner so lebendig verfasst, als sei er den Männern leibhaftig begegnet – die Corona-Proteste zu deuten.«
Michaela Schwinn, Süddeutsche Zeitung, 21. Februar 2022
»[E]in lesenswerter Versuch, dem offensichtlich urdeutschen Phänomen spiritueller Querfronten näherzukommen.«
Angela Gutzeit, Deutschlandfunk, 21. Februar 2022
Ein Freund der Höhle
Um die Erwartungen gleich etwas zu dimmen: Die Kommune in Berlin ist »eine enge, dunkle und muffige Parterrewohnung«, berichtet der Augenzeuge Harry Wilde, selbst in der Szene der Propheten unterwegs, später als Kommunist politisch aktiv und nach dem Krieg als Schriftsteller. Seine Biographie des Inflationsheiligen und Autors Theodor Plievier von 1965, Nullpunkt der Freiheit, ist in weiten Teilen eine Autobiographie. »Die Caverno fand ich recht enttäuschend, aber nicht wegen der qualvollen Enge: Ich sagte mir, im zwanzigsten Jahrhundert leide eben auch Zarathustra unter der Wohnungsnot. Was mich störte, war der Schmutz. Von meiner Mutter zur Sauberkeit erzogen, machte ich mich deshalb gleich daran, die ›Höhle‹ in Ordnung zu bringen, sehr zum Erstaunen der drei aus Russland stammenden Anarchisten«, die dort ebenfalls gerade unterkamen. »Als ich eines Tages von der Arbeit kam«, erinnert sich Wilde weiter, »stand Goldberg, bärtig wie Karl Marx, bullig wie Max Schmeling, behaart wie ein Gorilla, völlig unerwartet im Zimmer.« Der Kommunengründer kam gerade von seinem Außenposten weit außerhalb der Stadt – er war nämlich einer der wenigen Ärzte, der sich der Sexarbeiter:innen annahm, die in der Mulackstraße tätig waren.
Goldberg wird 1880 in Berlin-Weißensee in eine wohlhabende deutsch-jüdische Familie geboren, als Sohn eines Arztes. Mit zwanzig studiert er selbst Medizin in Berlin und Freiburg und lässt sich anschließend als Arzt in Weißensee nieder. So gehen Lebensläufe, die, wenn nicht gerade ein Völkermord dazwischenkommt, bis zum Lebensende keine großen Wendungen mehr produzieren. In den 1910er Jahren gehört er zur Berliner Bohème und stürzt sich ins Nachtleben der Großstadt. Er tritt aus der jüdischen Gemeinde aus und wird daraufhin vom Vater enterbt. Und er wird juristisch verfolgt: Goldberg nimmt illegale Abtreibungen vor. 1911 sterben zwei Frauen an Behandlungsfehlern. Während die Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung laufen, spürt er vielleicht schon das nahende Unheil, den wachsenden Patriotismus, der die lähmende Geschäftigkeit der wilhelminischen Ära mit ungutem Leben zu füllen beginnt. 1913 wandert er dann mit seiner Frau Henny und ihrer vierjährigen Tochter Edith aus.
Für Heinrich Goldberg fühlt es sich dramatisch an: »Denn ich war tot. Ich kam hin und wieder zur Besinnung, aber zeitweise war ich absolut tot. Meine Familie unternahm mit mir eine Reise auf einem Ozeandampfer, um mich mithilfe der Wunder jenseits des Atlantiks wieder zu beleben. Aber weder das lärmende Treiben New Yorks noch die imposanten Fabriken von Detroit noch die Erhabenheit der Niagara-Fälle konnten mich zurückbringen in die Welt der Lebenden. Ich besuchte Neapel, aber selbst das Mittelmeer mit seinen atemberaubenden Sonnenuntergängen konnte mich aus meiner Lethargie nicht reissen; auch nicht die wundervollen und aromatischen Düfte, die mich in transparenten Sphären zweierlei kristallklaren Blaus umgaben, die sich langsam verdunkelten und die Berge des Atlas und die bewaldeten Dünen der südlichen Küste Spaniens umhüllten und mit dem offenen Himmel zu verschmelzen schienen.« Erst die Begegnung mit den Ruinen Pompejis lassen ihn wieder Verbundenheit mit der Welt spüren. Die Generationen von Menschen, die durch die Jahrhunderte gelebt haben, alle bewegt von den gleichen Gefühlen, ziehen vor seinem inneren Auge vorbei und lassen ihn euphorisch werden.
Also lässt er dort seine Familie sitzen. Und geht nach London. Dort hat er eine Begegnung. In einer Grotte. Mit einem greisen Mann mit weißem Bart, zumindest beschreibt er selbst das so. Der Mann ist Zarathustra, oder besser: Die Version des Zarathustra, die sich Friedrich Nietzsche erdacht hat. »Ich nahm erneut die Hand des alten Mannes, drückte sie fest und fragte ihn: ›Könntet Ihr mir nicht zeigen, wie ich wieder zu einem Kind werden kann?‹ Zarathustra legte seine rechte Hand auf meine Schulter: ›Wie soll ich dich nennen?‹ ›Ich liebe die Tugend, diese Tugend, welche die alten Griechen areté nannten und über welche Hesiod lehrt: Die Götter setzen den Schweiss vor die Tugend. Ich suche Freunde, die wahre Freunde sein können, aber ich kann sie nicht finden. Ich finde nur einen Freund (filos, wie die Griechen sagen), und dieser Freund ist areté. Darum sollt ihr mich FILARETO nennen, den Freund der Tugend!‹«
Da nimmt der Alte den jungen Goldberg in den Arm, und schon bemerkt er die Spuren des Todes in den Adern seines neuen Freundes. »Die Pflege, die mir Zarathustra und seine treuen Tiere angedeihen ließen, erweckten mich wieder zum Leben. So half er mir, wieder zum Kind zu werden. Nachdem ich, zum Kind geworden, diesen ersten Grad erreicht hatte, musste ich die Kaverne des Zarathustra verlassen, um mich in einer weniger günstigen Umgebung zu behaupten und abzuhärten. Da ich in der Kaverne des Zarathustra wieder zum Leben erweckt worden war, betrachtete ich mich als seinen Sohn und übernahm folglich den Nachnamen KAVERNIDO.« Nichts davon schreibt er so, es ist übersetzt von Goldbergs Enkel Santiago Tovar aus der Plansprache Ido. Gemeinsam mit anderen Nachkommen unterhält er eine deutsch- und spanischsprachige Webseite, die sich als Forschungsplattform für das Leben des weitgehend vergessenen Kommunengründers und Philosophen versteht und stets nach neuen Hinweisen sucht.
Bereits während des Studiums kam Goldberg mit den Ideen Nietzsches in Berührung. Und mit dem Versuch, die Völker über das damals nicht einmal zwei Jahrzehnte alte Esperanto zu verbinden – eine neue Sprache für den Frieden, konstruiert vom jüdischen Augenarzt Ludwik Lejzer Zamenhof, um die Ghettoisierung der Bevölkerungsgruppen in seiner damals russischen Heimatstadt Białystok mit einer gemeinsamen, neutralen Sprache zu überwinden, die bald auf der ganzen Welt begeisterte Anhänger:innen fand: Bloß 16 Grammatikregeln kennt die Sprache, keine Deklination, kein Geschlecht und keine Konjugation; alle Buchstaben haben nur eine Aussprache. Da niemand Muttersprachler:in sein konnte, sollte Esperanto für alle gleichermaßen schnell zu erlernen sein. Ab 1907 verfolgte Goldberg wiederum interessiert den Entstehungsprozess einer neuen Plansprache, ein französisches Projekt mit dem Ziel, eine noch zugänglichere Plansprache als Esperanto zu erschaffen. Bald wird Goldberg selbst auf Ido, esperantisch für »Nachkomme« publizieren. Während Esperanto heute von bis zu zwei Millionen Menschen gesprochen wird, bei Wikipedia und Twitter zu den Top-50-Sprachen gehört, sprechen gerade einmal zwischen 1000 und 2500 Menschen Ido.
Bis zum Ende des Jahres 1918 zieht Goldberg umher. Pünktlich zur Ausrufung der Republik ist er jedoch zurück. Und gründet seine Kommune: Die Höhle des Zarathustra. Noch in den Revolutionsmonaten des Frühjahres 1919 schart er Handwerker:innen, Arbeitslose und Schneider:innen um sich und predigt eine Mischung aus Agrarkommunismus, Anarchismus und der politischen Übermenschenphilosophie Nietzsches. Der Weg zu letzterer führt für ihn über gnadenlose Härte gegen das Individuum. Denn, bei aller Menschenfreundlichkeit – nicht zuletzt seine despotischen Züge lassen im kommenden Jahrzehnt die Kommune immer wieder in sich zusammenbrechen.
Anlässlich seines Prozesses wegen fahrlässiger Tötung wird Goldberg alias Kavernido mit einiger Häme beschrieben: »Er trat in der Kostümierung eines Naturmenschen – in blusenartigem Hemd, mit Sandalen an den unbekleideten Füßen und langem, bis auf die Schultern herabwallendem Haupthaar, wie man ihn ja oft genug in den Straßen Mariendorfs gesehen hat – vor die Richter.« Er bezeichnete sich dabei als »Antimilitarist, Pazifist und Altruist« und versicherte, »daß er sich stets nur von rein ideellen Beweggründen leiten lasse«, schreibt die Tempelhof-Mariendorfer Zeitung im Mai 1921. »Er hat ein höchst abenteuerliches Leben geführt. Seitdem er sich von seiner Frau getrennt hat, war er einige Zeit in Amerika und in England, wo er bei Ausbruch des Krieges interniert wurde und über drei Jahre in Gefangenschaft zubrachte. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland hat der zum Einsiedler gewordene Mann sich ganz seinen philanthropischen Ideen hingegeben und die erwähnte Gemeinschaft gegründet, die kommunistischen Idealen huldigt.«
Auch wenn Filareto Kavernido sich seinerzeit als Anarchokommunist versteht – er geht mehr und mehr auf Abstand zu den klassenkämpferischen Zügen des sich institutionalisierenden Kommunismus der Republik. Wie zahlreiche Intellektuelle jüdischer Herkunft ist er zunächst von der Idee der Räterepublik begeistert, nach der Revolution und schnell niedergeschlagenen Experimenten jedoch enttäuscht. Der Geist, der nach der Revolution herrschte, sei noch...
Erscheint lt. Verlag | 19.2.2022 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | alternative Kulturgeschichte • Anthroposophie • Attila Hildmann • Corona • Coronaleugner • Corona-Leugner • Coronavirus • Gusto Gräser • Hermann Hesse • Hesse • Hildburghausen • Homoöpathie • Hygienedemos • Impfgegner • Inflationsheilige • Kulturgeschichte • Lebensreform • Louis Haeusser • Ludwig Christian Haeusser • Lügenpresse • Max Schulze-Sölde • Pegida • Querdenker • Querfront • rote Luch • Rudolf Steiner • Schulze-Sölde • spirituelle Querfront • Wanderprediger • Xavier Naidoo |
ISBN-10 | 3-608-11859-4 / 3608118594 |
ISBN-13 | 978-3-608-11859-9 / 9783608118599 |
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