Über Destruktivität (eBook)

Eine essayistische Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ungarns

(Autor)

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2022 | 1., Originalausgabe
224 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77297-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Über Destruktivität - Lacy Kornitzer
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Im April 2022 wird in Ungarn ein neues Parlament gewählt. Lacy Kornitzer nimmt dies zum Anlass für seine Abrechnung mit der Politik von Viktor Orbán. Das Bild, das er von den zunehmend autokratischen Verhältnissen im Land zeichnet, ist düster - für Regenbogenfarben gibt es darin keinen Platz mehr.

Kenntnisreich und polemisch skizziert Lacy Kornitzer in 49 kurzen und längeren Vignetten die erschreckende Entwicklung der letzten Jahre: den rapiden Verfall der demokratischen Kultur und die Verarmung des öffentlichen Diskurses, die dramatische Unterminierung der Pressefreiheit, die Korruption der Regierungsclique, den grassierenden Antisemitismus und die Stigmatisierung von Minderheiten.



Lacy Kornitzer ist Autor, Regisseur und Übersetzer. Er lebt in Berlin.

7Vorbemerkung


Die nachfolgenden Texte sind nicht besonders manierlich. Sie verstoßen nicht direkt gegen den Kanon, dem es darum geht, politische Ereignisse kritisch zu kommentieren, doch sie gehen ihm von Fall zu Fall aus dem Weg im Sinne einer versuchsweise seriösen Entgegnung auf die totale Unseriosität. Auch das vorangestellte Motto ist bloße Erinnerung an eine Zeit, in der Einigung möglich war, an Zeiten, in denen sie möglich schien, und an eine Zeit, in der sie wieder möglich sein sollte. Für den Moment aber ist Ortega y Gassets Sentenz im gegebenen Kontext reine Utopie, weshalb sie natürlich nicht weniger gültig ist. Oscar Wilde zitiere ich, weil er Oscar Wilde ist, außerdem hätte er sein Werk De Profundis für das heutige Ungarn genauso gut schreiben können wie vor 125 Jahren.

Der Grund dafür, dass Einigung sich ausschließt, liegt jedenfalls nicht an der Europäischen Union, sondern an Ungarn. Es könnte irgendwann auch an der Europäischen Union liegen, wenn sie denn eines glücklosen Tages selbst den Weg Ungarns einzuschlagen, dem ungarischen Modell zu folgen gedenkt. Doch dafür gibt es keinerlei Anzeichen; kritische Worte verhallen zwar beim Adressaten, doch immerhin fallen sie.

Dass Ungarn heute, mit seinen Gesetzen und seiner seit zwölf Jahren betriebenen Politik, keine Aufnahme in die Europäische Union gefunden hätte, ist mittlerweile 8ein offenes Geheimnis. Der Einwand, es träfe empfindlich nur die ungarische Bevölkerung, wenn man die gigantischen Geldflüsse nach Ungarn stoppte, solange Orbán an der Macht ist und sie missbraucht, ist zwar freundlich gemeint, beruht jedoch auf einem Missverständnis. Denn die Bevölkerung Ungarns sieht praktisch nichts von diesem Geld, sie partizipiert nicht daran.

Ein Gedanke George Orwells aus einer noch nicht ganz vergangenen Zeit verweist auf die Lage: »Man kann nicht rein ästhetisches Interesse an einer Krankheit nehmen, an der man stirbt; man kann nicht gefühllos gegenüber einem Mann sitzen, der einem gerade die Kehle durchschneidet. In einer Welt, in der Faschismus und Sozialismus gegeneinander antraten, musste jeder denkende Mensch Position beziehen.«

Heute findet der Kampf zwischen Demokratie und Faschismus statt, einem Faschismus in jener zwar längst nicht ganz harmlosen, aber noch nicht tödlichen Variante, wie die ungarische Politik sie bietet. Faschismus als das genommen, was er ist: eine Form von radikalem, autoritärem Nationalismus, eine rechtsextreme Ideologie. Die trifft man nicht nur in Ungarn an, was aber das, was man in Ungarn antrifft, nicht besser macht. Zudem hat sich Ungarn als erstes Land in der Europäischen Union mit seiner speziellen Form von Diktatur hervorgetan, es war und ist Vorreiter und Taktgeber für eine allenthalben bedrohliche Entwicklung.

9Es gibt Situationen, da es kein Nachteil ist, sogar geboten, einen Politiker wissen zu lassen, was man von ihm hält. So war es bei Trump. So ist es im Fall von Viktor Orbán, gleicherweise eine Figur ohne jede Selbstwahrnehmung und ohne Gespür für das, was die Welt wirklich braucht; beiden scheint ihr Instinkt die erfolgreiche Wiederkehr totalitärer Staatslenkung zu versprechen. Beide verschaffen ihren unbewanderten Familienmitgliedern wichtige politische Positionen, beide hysterisieren ihr Land, das von inneren und äußeren Feinden umgeben sei. Trump mit dem Slogan »America First«, der Name einer profaschistischen Bewegung in den USA der 1930er Jahre, und Orbán mit der Wiedererrichtung des Ständischen und eines korrupten autokratischen Systems aus der gleichen Zeit. Vermeintliche Weltpolitik und Provinzialität gehen eine Liaison ein. Mal möchten sie Freund sein, mal Feind, und man weiß nicht, was schlimmer wäre. Die von Orbán betriebene irrationale Politik gegen sein Land und gegen die Europäische Union erregt Abscheu. Denn sie ist ein Affront gegen alles, was Europa ausmachen könnte. An der deutlichen Reaktion, den Affront mit Affront zu beantworten, soll auch hier nicht gespart werden. Ich gehöre zu denjenigen, die Orbáns politische Geschäfte als persönliche und intellektuelle Beleidigung auffassen. Denn Orbáns Angriffe auf die Ideen der Europäischen Union gelten nicht nur ihr als Institution, sie gelten auch allen Bewohnern dieser Union. Man sagt, dass auch Politiker nur Menschen seien; persönlich Stellung zu beziehen, erscheint mir die einzig angemessene Reaktion auf Viktor Orbán und seine Machenschaften.

10Ich bin in Budapest geboren. Also spreche ich Ungarisch, theoretisch zumindest, denn praktisch lehne ich eine Sprache ab, die sich erneut faschistisch, radikal-nationalistisch infizieren lässt. Das Buch ist nicht aus Interesse an Orbán entstanden, sondern aus Interesse am Fortbestand der Europäischen Union.

Berlin ist mein Land und meine Stadt. In jungen Jahren bin ich, obwohl ich nach Portugal wollte, hier gelandet, in Westberlin, nachdem ich aus Ungarn geflüchtet war wegen des damaligen Systems, der depravierten Auslegung von Sozialismus, wegen des Eingesperrtseins nicht nur im Land, sondern auch in starren Verhaltensregeln. Inzwischen hätte ich viel mehr Gründe als damals, aus Ungarn zu fliehen. Nach einer ersten Phase der Unrast in Westberlin, die kaum mehr als zwei bis drei Jahre dauerte, dachte ich eher zärtlich an Ungarn und meine Zeit dort zurück, an meine Kindheit, die glücklich war. An die Freunde, an die Freundinnen. Meine Eltern schienen mir, sobald ich einen Blick dafür hatte, oft bedrückt, still, zu sehr in sich gekehrt. In dieser merkwürdigen Verhaltensweise steckte zugleich viel Liebe, an der ich teilhatte. Sie lasen viel, hörten viel Musik, die Musik, zumeist dramatische Klassik auf Schallplatten, aber auch Schlager aus Frankreich und Italien, oder Pop, war dann laut aufgedreht. Manchmal tanzten sie in der Wohnung, nippten dabei an einem Rotwein aus Portugal. Wie mein Vater zum portugiesischen Wein kam, verriet er nie. Dieser Wein war im Ostblock so etwas wie ein Luxusgut, dabei waren wir keineswegs privilegiert, im Gegenteil. Der ruhige Humor meiner Eltern war bestechend, eine Kompensation 11der schlummernden Bedrückung. Wenn ich Freunde besuchte, erlebte ich eine ähnliche Stimmung. Große Lebendigkeit inmitten von unterschwelliger Trauer. Nur in den Tanzlokalen ging es befreit zu und war es wie überall auf der Welt, man trank billiges Bier, begehrte hübsche Mädchen, tanzte wild. Während in einer dunklen Ecke des riesigen Saals oder vor dessen Eingang zehn, zwanzig Typen sich fast zu Tode prügelten.

Draußen auf der Straße und in öffentlichen Einrichtungen war es, als seien Vorsicht, gegenseitige Belehrung und Kontrolle das Gebot, als stünden die Menschen unter Aufsicht. Wenn die Masken einmal fielen, ging man förmlich aufeinander los. Leise Freundlichkeit wechselte sich mit lärmender Rohheit ab. Alkoholismus, Selbstmorde. Der Krieg war längst vorbei, aber die faschistischen und stalinistischen Ablagerungen bestimmten den Alltag in der Schule, auf der Arbeit. Lehrer, die keinen selbständigen Gedanken duldeten, Abteilungsleiter, die brüllten. Politiker, die beschwichtigten und Gesetze erließen, die kaum einer kannte, aber alle fürchteten. So erging es der Mehrheit. Die wenigen anderen – wohlhabende, mächtige Leute, die es ja gab – scherten sich nicht darum, trugen ihren materiellen Glanz und ihre Arroganz zur Schau. Rigorosität, Kalter Krieg, innerhalb und außerhalb des Landes. Die hier nur skizzierte Stimmung von damals ist heute in kräftigen Strichen zurückgekehrt, mit dem Unterschied, dass plumpe Schmeichelei die Freundlichkeit abgelöst hat.

Auf dokumentarische oder historische Quellen zu dem, worüber hier berichtet wird, habe ich mich nur selten ge12stützt. Die eigentliche, entscheidende Quelle bildet meine jahrelange Beobachtung der in Ungarn betriebenen politischen Abwicklung der Moderne. Dabei ließ sich nicht vermeiden, in manche Beschreibungen mentalitätsbedingte Momente einfließen zu lassen. Ein, zwei Sätze, Gedanken aus der Weltliteratur unterstützten die eingeschlagene Richtung, fanden, bisweilen abgewandelt, auch den Weg in dieses Buch. Sie erlaubten es mir, noch präziser in Ungarns politische und mentale Verheerungen einzudringen.

Nicht lange nach Orbáns zweiter Machtübernahme, vor rund neun Jahren, habe ich angefangen, über seine Politik zu schreiben. Schon damals trat in aller Deutlichkeit zutage, wohin sie führen würde. Eine Zeit, in der Hunderte von...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte edition suhrkamp 2778 • ES 2778 • ES2778 • Fidesz • Miklós Horthy • Minderheiten in Ungarn • Nationalismus • neues Buch • Ungarische Politik • Ungarn • Viktor Orbán
ISBN-10 3-518-77297-X / 351877297X
ISBN-13 978-3-518-77297-3 / 9783518772973
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