Das Soziale des Affekts (eBook)
354 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44970-8 (ISBN)
Christian Helge Peters ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Projekt »Gute Arbeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt« und Koordinator für das Teilinstitut Halle im »Forschungsinstitut gesellschaftlicher Zusammenhalt«. Er promovierte an der Universität Hamburg über Affektmodulation und arbeitet gegenwärtig schwerpunktmäßig zum Verhältnis von Arbeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt unter besonderer Berücksichtigung von Affekten, Emotionen, Resonanz und Selbstwirksamkeit.
Christian Helge Peters ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Projekt »Gute Arbeit und gesellschaftlicher Zusammenhalt« und Koordinator für das Teilinstitut Halle im »Forschungsinstitut gesellschaftlicher Zusammenhalt«. Er promovierte an der Universität Hamburg über Affektmodulation und arbeitet gegenwärtig schwerpunktmäßig zum Verhältnis von Arbeit und gesellschaftlichem Zusammenhalt unter besonderer Berücksichtigung von Affekten, Emotionen, Resonanz und Selbstwirksamkeit.
Einleitung
Das Problem des Sozialen in der Affekttheorie
In den gegenwärtigen Diskussionen der Affekttheorien im Anschluss an Gilles Deleuze erhält ein vermeintlich überkommenes Bild des Sozialen eine neue Aktualität. Hier lässt sich die Wiederkehr eines vor allem repressiven Verständnisses des Sozialen beobachten. Das Soziale wird zu einem umfassenden Unterdrückungsmechanismus. Die Diskussionen weisen eine Analogie zu dem negativen und einschränkenden Verständnis des Machtbegriffs auf, welches vor der Intervention Michael Foucaults überwog. Auch in den deleuzeschen Affekttheorien bedarf es eines ähnlichen Wandels im Verständnis des Sozialen. Das vorliegende Buch möchte ihn einleiten.
Das Soziale in den Affekttheorien von Gilles Deleuze und Brian Massumi und insbesondere in den Arbeiten, die an sie anschließen, ist wenig ausgearbeitet, und wenn es charakterisiert wird, dann als vor allem negativ und reaktiv: Das Soziale schränkt ein, unterdrückt, passt an, ordnet ein, trennt Kräfte und Körper voneinander und macht sie nutzbar für dieses Soziale – das Soziale ist mangelhaft und konservierend. Es ist das Gegenbild zum Affekt: Affekte sind – folgt man Deleuze und Massumi – positive und produktive körperliche Kräfte, sie sind schöpferisch, verbindend und eröffnen neue, freiheitliche Formen von Sozialität. Sie entziehen sich der Kontrolle des Sozialen und öffnen und verändern soziale Formen aller Art.
Paradigmatisch zeigt sich das Problem des Sozialen am deleuzschen Affektbegriff (Deleuze 1988) und Massumis (2002) Idee einer »Autonomie« der Affekte: Affekte sind bei Massumi eigenständige, unmediatisierte, unmittelbare und nicht bewusste körperliche Kräfte im Sozialen, die von Subjekten oder Kollektiven nicht kontrolliert werden können, weil Affekte deren Praktiken und (symbolischen) Ordnungen umgehen. Affekte sind kreative Schöpfungsprozesse und Differenzierungen. Subjekte und Kollektive werden von Affekten direkt in ihrer Körperlichkeit unterworfen. Die Beziehung zwischen Affekten und Sozialem folgt einem linearen und deterministischen Stimulus-Response-Modell, in dem das Soziale, Subjekte und Kollektive nur abgeleitet sind, ohne eigenes Vermögen, Affekte zu beeinflussen. Wenn Affekte eine solche Kraft sind, die sich dem Sozialen entziehen und dennoch körperliche Effekte im Sozialen haben, werden sie tendenziell zu einem natürlichen und biologischen und nicht zu einem sozialen Phänomen.
Gerade in affirmativen Anschlüssen an Deleuze wird das negative Bild des Sozialen deutlich. Besonders bei Michael Hardt und Antonio Negri (2002; 2004) wird die Gegenüberstellung zwischen einem repressiven Sozialen (dem Empire) und einer schöpferischen Kraft wie der Multitude offensichtlich. Die Multitude ist eine Art Vielheit unterschiedlicher Subjekte, die sich durch Differenzen und Affekte konstituiert und nicht auf der Grundlage von gemeinsamen Identitäten oder geteilten ökonomischen Bedingungen. Bei Hardt und Negri nimmt die Multitude die Rolle eines revolutionären Subjekts ein. Das Empire ist nicht produktiv und kann nichts hervorbringen. Nur die Multitude kann etwas erschaffen und gestaltet die sozialen Verhältnisse. Das Empire ist insofern ursprünglich von der Multitude hervorgebracht und unterdrückt sie nun. Dieses Verständnis des Sozialen findet sich auch bei Elizabeth Grosz (expl. 2005b; 2010). Sie versucht den Feminismus auf ontologische Grundlagen zu stellen, indem sie an Bergson und Deleuze anschließt. Sie verortet die Kräfte der Gleichheit und Freiheit im Leben als ontologischer und materieller Grundkraft. Das Leben selbst ist eine schöpferische Kraft der Differenzierung und Offenheit, die immer wieder neue Potentiale in Körpern oder Begehren entfalten. Die sozialen Bedingungen schränken diese Kräfte vor allem ein und unterdrücken sie. Das Ziel des Feminismus muss es dementsprechend sein, diese Kräfte bestmöglich zu steigern.
Ruth Leys (2011) und Margret Wetherell (2012; 2015) kritisieren die von Deleuze inspirierten Affekttheorien gerade dafür, das Soziale des Affekts nicht oder nur unzureichend mitzudenken. Dies zeige sich insbesondere in einem Affektbegriff, der als nicht-sozial gedacht wird und aus der daraus resultierenden Gegenüberstellung von Affekt und dem Sozialen. Sie kritisieren seine Theorie als reduktionistisch und simplifizierend. Deleuzes und Massumis Affekttheorien erscheinen aus ihrer Sicht deshalb unvereinbar mit einer Sozialtheorie, weil sie sich auf Metaphysik und eine philosophische Prozessontologie stützen. Beide entsprechen auf dem ersten Blick dem immer noch verbreiteten Argument einer Unvereinbarkeit von vitalistischer Prozessontologie und Sozialtheorie.1
In der Prozessontologie von Deleuze und Massumi und insbesondere in den Arbeiten, die an sie anschließen, zeigt sich das Problem des Sozialen, obwohl es ihr Ziel ist, gerade Dualismen zu überwinden, in einem neuen Dualismus zwischen Ontologie und der ontologischen Kraft des Affekts sowie dem Sozialen. Dieser Dualismus schreibt sich bei ihnen weiter fort in den Dualismen zwischen Virtualität und Aktualität, Produktivität und Reaktivität, Ursache und Effekt, Aktivität und Passivität, Offenheit und Kontrolle, Werden und Organisierung, Quantität und Qualität, Intensität und Signifikation. Der zentrale Grund liegt darin, dass die Kräfte des Sozialen zugunsten ontologischer Kräfte und ihres Ausdrucks im Sozialen aus dem Blick geraten. Wenn das Soziale als Effekt von ontologischen Kräften gedacht wird, sind nur die ontologischen Kräfte produktiv, ursächlich und aktiv, weil sie das Soziale konstituieren. Das Soziale ist demgegenüber reaktiv, ein Effekt und passiv. Aufgrund des spezifischen Affektverständnisses bei Deleuze und Massumi, die Affekte mit ontologischen Kräften, dem Werden und kreativen Differenzierungen verbinden, bestehen die Effekte von Affekten in der Offenheit des Sozialen. Da das Soziale auf diese ontologischen Kräfte reagiert und selbst keine ontologische Kraft ist, beschränken, organisieren und kontrollieren soziale Kräfte das durch Affekte ausgelöste Werden.
An dieser Stelle erscheint eine Leerstelle des Sozialen in Affekttheorien, die auf Prozessontologien wie denen von Deleuze und Massumi aufbauen. Prozessontologien denken die Realität von Ereignissen und Prozessen und nicht von Identitäten oder stabilen Entitäten aus.2 Es bleibt bei Deleuze und Massumi offen, wie sie das Soziale des Affekts denken, wenn das Soziale nicht primär negativ und der Affekt positiv und nicht-sozial verstanden werden sollen. Aus einer allgemeinen sozialtheoretischen Perspektive – einer Perspektive auf die allgemeinen Grundkräfte und Dynamiken des Sozialen – betrachtet, vernachlässigt ihre Konzeption von Ontologie und Affekt die Eigenständigkeit des Sozialen. Das Soziale wird auf die Effekte der ontologischen Kräfte reduziert, hat selbst aber nur einen nachträglichen Einfluss auf das Affektgeschehen. Dieser Effekt besteht darin, ontologische Kräfte einzuschränken oder zu unterdrücken.
Eine Unvereinbarkeit zwischen Affekttheorie und Sozialtheorie, wie sie Leys und Wetherell hervorheben, besteht aus Sicht der vorliegenden Untersuchung deshalb aber noch nicht beziehungsweise nur teilweise, und auch ein negatives Bild des Sozialen mit den Dualismen ist nach Deleuze und Massumi nicht zwingend – die Affekttheorie von Deleuze und Massumi bietet mehr Potential für die Sozialtheorie, welches aber erst noch erschlossen werden muss. In dem vorliegenden Buch wird deshalb herausgearbeitet, wie das Soziale im Anschluss an Deleuze und Massumi als positiv und produktiv verstanden werden kann und nicht nur der Affekt. Das Soziale ist nicht ausschließlich mangelhaft, unterwerfend, einschränkend und stabilisierend, sondern selbst auch aktiv, ermöglichend, schaffend, steigernd und öffnend. Das vorliegende Buch hat sich zum Ziel gesetzt, im Anschluss an Deleuze und Massumi und in kritischer Weiterführung ihrer Gedanken ein anderes Bild des Sozialen auszuarbeiten, ein Bild, das sozialtheoretisch produktiver ist, weil es den Blick auf die Komplexität des Sozialen freigibt und die gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen der Gesellschaft angemessener erfasst.
Das vorliegende Buch ist theorieimmanent ausgerichtet und verbleibt im Kontext der neueren Affekttheorien, um aufzuzeigen, warum der Anschluss an die Ontologie und Affekttheorie von Deleuze und Massumi aus sozialtheoretischer Sicht produktiv ist. Aus der vorangegangen Problembestimmung ergeben sich folgende Zielstellungen: Das primäre Ziel der vorliegenden Untersuchung besteht darin, die Sozialität des Affekts im Anschluss an Deleuze...
Erscheint lt. Verlag | 19.1.2022 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeine Soziologie |
Schlagworte | Affekt • Deleuze • Emotion • Interaktion • Körper • Massumi • Modulation • Onthologie • Rhythmus • Sozialtheorie |
ISBN-10 | 3-593-44970-6 / 3593449706 |
ISBN-13 | 978-3-593-44970-8 / 9783593449708 |
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