Die dunkle Seite der Christdemokratie (eBook)
240 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-78239-8 (ISBN)
Fabio Wolkenstein ist TT-Professor für Transformationen der Demokratie der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind politische Parteien und Ideologien in Europa.
I Einleitung: Die Herausforderungen einstiger Volksparteien
Christdemokratische Strategien
Nach der krachenden Wahlniederlage bei der Bundestagswahl 2021 steht wieder der programmatische Kurs der deutschen Christdemokratie zur Debatte. Soll dieser künftig stärker nach rechts gehen oder soll der moderate Zentrumskurs mit potenziellen Koalitionspartnern links der Mitte fortgesetzt werden? Die österreichischen Christdemokraten haben in den vergangenen Jahren beides versucht. Unter Sebastian Kurz hat die wiedererstarkte Österreichische Volkspartei zunächst von 2017 bis 2019 mit der nationalkonservativen, oft als «rechtspopulistisch» bezeichneten Freiheitlichen Partei (FPÖ) koaliert; seit Anfang 2020 regiert sie nun zusammen mit den Grünen, die nach dem vernichtenden Wahldebakel von 2016 bei den Nationalratswahlen 2019 wieder ins Parlament einziehen konnten. Nach einem deutlichen Rechtsruck im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015, die Kurz seine erste Kanzlerschaft einbrachte (Stichwort Schließung der Balkanroute), folgte zwar keine größere politische Kursänderung. Dennoch blieben die Christdemokraten offen für eine Regierungszusammenarbeit mit der Partei, die in der politischen Landschaft Österreichs den linken Rand besetzt.
Kurz’ ursprünglicher Erfolg beruhte nicht nur auf seinem Schwenk nach rechts in Immigrations- und Integrationsfragen, der überdies auch eine klare Abgrenzung von Angela Merkel bedeutete. Seine Neuinszenierung der ÖVP als stark personalisierte politische «Bewegung» war von ebenso großer Bedeutung. Nachdem Kurz 2017 Parteichef wurde, hatte er die verkrustete und gerade für jüngere Wähler nicht besonders attraktive Volkspartei kurzerhand in «Liste Kurz» beziehungsweise «neue Volkspartei» umbenannt. Das klerikale Schwarz wurde im Parteilogo durch ein dynamisches Türkis ersetzt, und als Kandidaten wurden der Öffentlichkeit statt der üblichen konservativen Berufspolitiker und Vertreter der Bünde nun mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Sport und Kultur präsentiert. Die Rechnung ging am Wahltag auf. Und obwohl Kurz inzwischen die Politik verlassen hat und für den deutsch-amerikanischen Tech-Investor Peter Thiel arbeitet, bleibt das «Modell Kurz» eine Blaupause für christdemokratische Erneuerung.
Ein anderes Modell zeitgenössischer christdemokratischer Politik findet man im benachbarten Ungarn. Dort regiert der vielleicht erfolgreichste konservative Politiker unserer Zeit, der umstrittene ungarische Premierminister und Franz-Josef-Strauß-Preisträger Viktor Orbán. Seit 2010 hat Orbán politische Gestaltungsmöglichkeiten, von denen andere christdemokratische Politiker und Parteien in Europa nur träumen können. Durch die Eigenheiten des ungarischen Wahlsystems (und die stabile Zusammenarbeit mit der kleinen Kereszténydemokrata Néppárt) verfügt Orbáns Fidesz-Partei sogar über eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament, was der Regierung umfassende Verfassungsänderungen ermöglicht. Von dieser Option hat Orbán auch mehrfach Gebrauch gemacht, um die eigene Machtposition zu zementieren. Zu erwähnen ist vor allem die Verfassungsnovelle von 2013, mit der die Befugnisse des Verfassungsgerichtshofes empfindlich beschränkt (die vormals inhaltliche ist der rein verfahrensrechtlichen Prüfung von Gesetzen gewichen) und Wahlwerbung in privaten (also nicht von Fidesz kontrollierten) Medien verboten wurden.
Orbáns Politik ist kontrovers. Ihm wird vorgehalten, die liberale Demokratie zu torpedieren und Ungarn zu einem quasi-autoritären Regime umbauen zu wollen. Zu diesem Schluss kommen nicht nur politische Gegner links der Mitte, auch führende Rechts- und Politikwissenschaftler (vor allem Juristen stehen normalerweise nicht im Verdacht, Linke zu sein) sind sich in dieser Frage weitgehend einig.[1] So klassifizieren etwa die amerikanischen Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem vielbeachteten Buch Wie Demokratien Sterben Ungarn als ein «mild autoritäres» Regime.[2] Und die an der Universität Princeton lehrende Rechtswissenschaftlerin Kim Lane Scheppele nennt das Land in Anlehnung an das berühmte Monster aus Mary Shelleys Roman einen «Frankenstate» – einen Staat, in dem aus eigentlich demokratischen Verfassungselementen ein autoritäres Monster zusammengestückelt wurde.[3] Auch viele weitere namhafte Beobachter sind der Überzeugung, Ungarn könne längst nicht mehr als Demokratie bezeichnet werden – zumindest nicht als Demokratie ohne einschränkende Adjektive.
Und Orbán selbst? Macht bekanntlich keinen Hehl daraus, dass er in Ungarn eine «illiberale Demokratie» etablieren will. Dem ungarischen Premierminister zufolge ist dieses Vorhaben nicht nur mit den Idealen der Christdemokratie vereinbar – nein, echte christdemokratische Politik muss für ihn illiberal sein. Die für Europa überlebenswichtige «Renaissance der Christdemokratie», so Orbán in einer Rede vor Parteifreunden, setze voraus, sich entschieden vom Liberalismus abzuwenden, der «unsere Völker, Nationen, Familien […], mit anderen Worten: unsere europäische Lebensform, nicht schützen kann.»[4] Folglich sollen die europäischen Christdemokraten, statt eine «antipopulistische Front» gegen Parteien wie die italienische Lega oder den französischen Rassemblement National zu bilden, «verantwortungsvolle Antworten» auf die Fragen geben, die «rechtspopulistische» Parteien heute aufwerfen, und für eine Zusammenarbeit mit solchen Parteien offen bleiben. Diese Haltung verortet Orbán selbst in der «konservativen Tradition» der europäischen Christdemokratie. In dieser Tradition stehe laut Ungarns starkem Mann auch die CSU, die er gern mit seiner eigenen Partei vergleicht (O-Ton Orbán: «Wir sind ohne Zweifel die CSU der Europäischen Volkspartei»[5]).
Die neue Achse der Christdemokratie
Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Europa seinen «christdemokratischen Moment». In zahlreichen Ländern konnten christdemokratische Parteien Wahlen gewinnen oder sich durch große Stimmenzuwächse Zugang zu wichtigen politischen Ämtern sichern. Damals waren die wichtigsten Parteien unbestritten die deutsche Christlich Demokratische Union, der französische Mouvement Républicain Populaire und die italienische Democrazia Cristiana. Die führenden Politiker dieser Parteien – Konrad Adenauer, Robert Schuman und Alcide De Gasperi – versprachen Stabilität und Frieden und nutzten ihre Macht, um die Europäische Integration voranzutreiben. Auf diese Weise definierten sie gleichsam, was Christdemokratie bis heute bedeutet. Ihr Angebot war so einfach wie überzeugend: Statt ein utopisches politisches Projekt zu bewerben, forderten sie die Rückbesinnung auf christliche Werte, Anstand und Moral. Dabei galt es, als Volkspartei unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen anzusprechen.
Rund 75 Jahre später sind es die christdemokratischen Parteien Deutschlands, Österreichs und Ungarns (ob Fidesz wirklich als christdemokratische Partei bezeichnet werden kann, wird noch ausführlich besprochen), die maßgeblich darüber entscheiden, wofür die Christdemokratie heute politisch steht. Die ehemals einflussreichen Parteien der anderen Kernländer der Christdemokratie sind allmählich von der Bildfläche verschwunden. In Italien wurde die einst dominante Democrazia Cristiana 1994 im Nachgang des Tangentopoli-Korruptionsskandals aufgelöst. Der französische Mouvement Républicain Populaire verlor bereits in den 1950er Jahren an politischer Bedeutung und fiel 1967 auseinander. Somit zählen die Unionsparteien, die ÖVP und Fidesz zu den letzten größeren Parteien Europas – von der allein wegen der Größe des Landes relativ marginalen luxemburgischen Chrëschtlech Sozial Vollekspartei abgesehen –, die sich mehr oder weniger emphatisch zur Christdemokratie bekennen. Bei Fidesz kam dieses Bekenntnis erst spät. Orbáns Partei hatte sich ursprünglich dem Liberalismus verschrieben und wurde erst Ende der 1990er Jahre zu einer christlich-konservativen Partei.[6] Die ÖVP und CDU/CSU können hingegen auf eine lange Parteitradition mit angestammten religiös-bürgerlichen Wählermilieus zurückblicken, in denen sich trotz gradueller Desintegration bis heute noch Stammwähler finden. Das führt direkt zu einer weiteren Gemeinsamkeit der drei Parteien: Sie können immer noch relativ große und heterogene Wählergruppen mobilisieren. Zwar kann man die Wahlergebnisse der...
Erscheint lt. Verlag | 12.5.2022 |
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Reihe/Serie | Beck Paperback | Beck Paperback |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Autokratie • Christdemokratie • Demokratie • Fidesz • Frieden • Geschichte • Ideologie • Katholizismus • Konservativismus • Liberalismus • Orban • Politik • Rechtstaat • Sachbuch • Stabilität • Ungarn • Wiederaufbau |
ISBN-10 | 3-406-78239-6 / 3406782396 |
ISBN-13 | 978-3-406-78239-8 / 9783406782398 |
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