Ausgeblutet -  Dr. Sâra D. Aytaç

Ausgeblutet (eBook)

Als Ärztin im Schockraum unseres maroden Gesundheitssystems
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
256 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-1856-1 (ISBN)
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Dr. Sâra Aytaç, Oberärztin in der Unfallchirurgie, liefert einen schonungslosen Bericht aus ihrem Klinikalltag: Sie berichtet von den vergessenen Alten, deren adäquate Behandlung keinen Profit verspricht. Sie erzählt von lebensgefährlichen Kommunikationsproblemen im Schmelztiegel Krankenhaus, ebenso fatalen Personalengpässen, unqualifizierten Aushilfskräften und dem Ausverkauf des ärztlichen Ethos. Ihre schockierenden Geschichten aus Notfallaufnahme, Schockraum und OP zeigen: Wir brauchen endlich wieder ein menschliches, das heißt allein am Patientenwohl orientiertes Gesundheitssystem.



Dr. Sâra D. Aytaç ist Oberärztin für Unfallchirurgie und Orthopädie in einem großen kommunalen Krankenhaus. Geboren 1983 in Wolfenbüttel, verbrachte sie ihre Jugend in Berlin und Istanbul. Nach Medizinstudium, Facharztausbildung und Oberarzttätigkeit bei einem Maximalversorger tourte sie mehrere Monate als Honorarärztin durch städtische, private und kirchliche Krankenhäuser und stellte fest: Das Leiden der Betroffenen und der ökonomische Irrsinn sind überall gleich.

Dr. Sâra D. Aytaç ist Oberärztin für Unfallchirurgie und Orthopädie in einem großen kommunalen Krankenhaus. Geboren 1983 in Wolfenbüttel, verbrachte sie ihre Jugend in Berlin und Istanbul. Nach Medizinstudium, Facharztausbildung und Oberarzttätigkeit bei einem Maximalversorger tourte sie mehrere Monate als Honorarärztin durch städtische, private und kirchliche Krankenhäuser und stellte fest: Das Leiden der Betroffenen und der ökonomische Irrsinn sind überall gleich.

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Wo ist der Unterschied zwischen Gott und einem Unfallchirurgen? Gott glaubt nicht, dass er Unfallchirurg ist. Aber selbst der Chirurg, der – verdient oder unverdient – bis zum Hals in Selbstverliebtheit badet, benötigt ein Team.

In Abhängigkeit vom Schweregrad der Operation, vorgegeben durch Häufigkeit einer Verletzung oder Erkrankung, gepaart mit individuellen anatomischen Gegebenheiten, setzt sich das OP-Team so zusammen: aus einem dem Anspruch des Eingriffs gerecht werdendem Chirurgen mit Fach- oder Oberarztqualifikation, meist einem erfahrenen Assistenten und einem jungen Assistenten oder Medizinstudenten »fürs Grobe«, also Arbeiten auf Zuruf ohne Mitdenken.

Man benötigt zudem einen Operationstechnischen Assistenten (OTA), der die Instrumente anreicht und idealerweise den nächsten OP-Schritt und mögliche Komplikationen kennt. Der OTA steht allerdings wie der Chirurg mit seinem Team eingewaschen, also steril, am Tisch. Material und Instrumente, die man während der Operation braucht, werden vom Springer herangebracht, der, nicht steril, frei für diese Dinge verfügbar ist. Ebenso wie für das Bedienen und Heranfahren des Röntgengeräts, das Umstellen der Lampen oder zum Ausschalten der Deckenbeleuchtung und anderes mehr.

Auf der Seite der Anästhesie haben wir den Narkosearzt, der zusammen mit einem Anästhesiepfleger die Narkose einleitet, überwacht und zum gewünschten Zeitpunkt wieder beendet. Eine Vollnarkose muss aktiv beendet werden, eine Rückenmarksnarkose klingt langsam ab und erlischt durch Abbau des Medikaments in der Rückenmarksflüssigkeit.

Somit kommen wir bei einem handelsüblichen Eingriff auf sieben Beteiligte, den Patienten ausgeschlossen. Das ist die ideale Situation und personelle Ausstattung. Diese korreliert verdächtig selten mit der Realität und lässt sich eher mit folgendem Gleichnis beschreiben:

Sie sollen mit Ihren sieben Ruderkameraden und dem Steuermann im Achter olympisches Gold holen. Und den Weltrekord brechen. Weil Sie danach noch auf eine Folgeveranstaltung müssen. Wenige Minuten vor dem Start erfahren Sie per Zufall, dass zwei Ihrer Kollegen vom Betriebsrat nach Hause geschickt wurden, weil sie aufgrund ihrer immens hohen Überstundenzahl das Bootshaus respektive das Ruderboot nicht mehr betreten dürfen. Einer ist an ein Nachbarboot ausgeliehen, das sonst überhaupt nicht ablegen kann. Der Steuermann muss ein weiteres Boot am anderen Ende der Wettkampfstrecke mitbetreuen und ist berechtigterweise entsprechend am Ausrasten und brüllt Sie ungeniert an. Von den verbliebenen fünf rudernden Kollegen hat einer gestern gekündigt, noch während seiner Probezeit. Einer muss zu Hause die Kinder hüten, weil der Partner ebenfalls im Bootshaus arbeitet und dort völlig unersetzbar ist; er wird also auf gar keinen Fall pünktlich zum Startschuss erscheinen. Der Drittletzte hat seine Antidepressiva gegen den Burn-out durcheinandergebracht und wird erst in fünf Tagen wieder aufwachen. Die übrigen beiden sind zwar da, verstehen aber kein Wort Deutsch und waren vorher kein einziges Mal beim Training, kurzum: Sie können einen Skull nicht von einem Schneebesen unterscheiden.

Das sind die Umstände tagsüber. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fallen nach Mitternacht keine qualifizierten Fachkräfte vom Baum und zum Beispiel direkt in den OP-Saal.

Und so kommt es, dass des Nachts bei einer Notsectio, dem häufigen Kaiserschnitt, das gesamte Team inklusive Narkosearzt und -pfleger, OTA und Springer aus dem Saal rennen und mich mit meinem Patienten allein lassen. Der hängt derweil an der Beatmungsmaschine oder liegt mit Rückenmarksnarkose friedlich und nichtsahnend auf dem OP-Tisch oder darf die Kacheln an der Decke zählen. Es wäre ja viel zu teuer, zwei komplette Teams in Bereitschaft zu halten! Und so müssen die verantwortlichen Chirurgen sich schon sehr gut überlegen, was nachts auf den Tisch kommt – nämlich nur absolute Notfälle. Für alles andere am besten nur Eingriffe, die man schlimmstenfalls auch komplett allein weiterführen kann.

Bei vielen Patienten führt das zu Unverständnis: »Ich kam mit einem gebrochenen Bein ins Krankenhaus, und diese Barbaren haben mich erst am nächsten Morgen operiert.« Stimmt. Denn auch diese Barbaren haben nur zwei Hände. Wie soll man einen gebrochenen Unter-, besser noch Oberschenkel allein operieren, wenn der Assistent in der Ambulanz mit nichtigem Blödsinn beschäftigt ist, bei Besoffenen Kopfplatzwunden zutackert oder auf Station die Arbeit der Schwester übernimmt, weil die sich weigert, Blut abzunehmen, oder sich nicht imstande sieht, eine Gipsschiene neu anzulegen? Wie soll ich gleichzeitig den in allen drei Ebenen im Raum wieder eingerichteten Knochen mit zwei Händen halten, einen Nagel oder eine Platte am Knochen befestigen, dabei noch röntgen und mir den Bohrer für die nächste Schraube anreichen?

Dienste ohne Ende


Endloses Elend, der Dienstplan! Man muss unterscheiden zwischen Anwesenheitsdiensten, bei denen man die ganze Zeit über physisch im Krankenhaus im Einsatz ist, und das nicht selten für vierundzwanzig Stunden. Diese Anwesenheitsdauer ist natürlich nur dann möglich, wenn die Bereitschaftsdienstzeit – sechzehn Stunden, die sich an einen regulären Acht-Stunden-Arbeitstag anschließen – eine durchschnittliche Belastung von unter 50 Prozent ausweist. Ist das nicht der Fall, benötigt man Schichtdienste – etwa auf einer Intensivstation, wo klar ist, dass 24 Stunden lang durchgeschafft wird.

Diese Anwesenheits- oder Vordergrunddienste werden in der Regel von einem Assistenzarzt, in großen Kliniken von einem Facharzt mit weiteren Kollegen, abgedeckt. Diese Vordergrunddienste sind durch das Engagement der Ärztegewerkschaft Marburger Bund auf maximal vier Stück im Monat begrenzt. Doch das gilt nur für Assistenzärzte respektive Vordergrunddiensthabende.

Als Oberarzt habe ich Rufdienste. Das heißt ganz praktisch: Meine reguläre Arbeitszeit geht beispielsweise um 16.15 Uhr zu Ende, und ab dann muss ich bis zum nächsten Morgen um 7 Uhr jederzeit telefonisch immer erreichbar sein – und wünschenswerterweise in spätestens zwanzig Minuten nach einem Anruf im Falle eines Notfalls, den der Assistent nicht allein behandeln kann, im Krankenhaus auflaufen. Während solcher Rufdienste kann ich also schlecht meine Freunde in weiter Entfernung besuchen oder im nahen Schwimmbad versacken, im Kino ohne Handyempfang sitzen oder einfach nur etwas Aufwändiges Kochen oder sonst irgendeine Arbeit anfangen, die keine Unterbrechung verträgt.

Für diese Rufdienste gibt es allerdings arbeitsvertraglich keine festgelegte Höchstgrenze. So kommt es, dass bei Krankheit oder Kündigung oder sonstiger Reduktion des Oberarztteams eines Krankenhauses plötzlich die verbliebenen beiden Oberärzte jeweils fünfzehn Dienste zu machen haben. Welchen Unmut das mit sich bringt, kann man sich gut vorstellen – vor allem, wenn die Verwaltung aus Gründen der Kostenersparnis auch keine Anstalten macht, dass die offene Stelle schnellstmöglich besetzt werden soll.

Wenn dann auch noch zu allem Überfluss mein Assistent im Vordergrund die fachliche Kompetenz einer kalten Dose Katzenfutter hat, werde ich stündlich – natürlich auch nachts – angerufen und fahre für jede noch so dämliche Bagatelle rein. Da ich aber »nur« Rufdienst hatte, muss ich am nächsten Tag um 7 Uhr wie immer zum Dienst erscheinen und den ganzen Tag die Ambulanz bespaßen, Sprechstunden abhalten und operieren.

Ein Rufdienst darf übrigens nur dann als solcher gelten, wenn die Inanspruchnahme bei nicht mehr als insgesamt 50 Prozent der Zeit liegt. Klar: Hierbei wird sehr viel getrickst, unter Druck gesetzt und die Belastung so hingebogen, dass man auch ja beim Modell »Rufdienst« bleiben kann. »Personalneutral« nennt sich das, ohne dass man, wie für ein zwangsläufig korrektes Schichtmodell notwendig, mehr Leute einstellen muss.

Als Arzt hat man vielleicht auch das außerordentliche »Glück«, in einigen der wenigen Häuser arbeiten zu »dürfen«, bei denen man beim Einstellungsgespräch so begrüßt wird: »Kommen Sie mir hier nicht mit dem Arbeitszeitgesetz, das interessiert hier niemanden. Wenn Sie Dienste haben, operieren Sie, was vom Tag noch aussteht, und wenn es die Wirbelsäulen-OP ist, die siebzehn Stunden dauert. Und am nächsten Tag gehen Sie auch erst, wenn das nächste Opus fertig ist. Sie sind hier schließlich an einer der besten Kliniken des Landes, da erwarte ich das als Minimum an Arbeitseifer und Einsatz von Ihnen, oder?«

Sehr, sehr gern hatte mein Kollege dort dann 36 Stunden am Stück gearbeitet und operiert, stoppte jeden Abend an derselben Döner-Bude, um auf den Stufen hoch in die Wohnung die einzige warme Mahlzeit des Tages zu sich zu nehmen. Die leere Flasche des obligatorischen Biers zum Betäuben für einen traumlosen Schlaf stellte er irgendwo ab. Als er eines Morgens feststellte, dass es nicht mal mehr drei Quadratzentimeter Platz in der Wohnung gab, um eine weitere leere Bierflasche abzustellen, da er es schlicht nicht zum Supermarkt schaffte, um diese zurückzubringen, merkte er: Es ist Zeit, einem anderen sich selbst hassenden Idioten die Möglichkeit zu geben, sich in dieser Maschinerie zu Tode zu arbeiten.

Solche Arbeitsalltage waren Usus in der Generation der jetzt berenteten alten Chirurgen: Man lebte für und in der Klinik, tagelang am Stück. Auch diese Umstände haben systematisch dazu geführt, alle potenziell Interessierten und Befähigten in die weite Flucht zu...

Erscheint lt. Verlag 28.1.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Baustelle Gesundheitssystem • Corona-Pandemie • Doc Caro • Fachkräftemangel • Fallpauschale • Falsche finanzielle Anreize • Franziska Böhler • Intensivmedizin • Intensivstation • Jörg Nießen • Krankenhaushygiene • Multiresistene Keime • Notaufnahme • Notfallmedizin • Operartionen • Politik und Gesellschaft • Ricardo Lange • Überfordertes Krankenhauspersonal • Unfallchirurgin • Zwei-Klassen.medizin
ISBN-10 3-7517-1856-7 / 3751718567
ISBN-13 978-3-7517-1856-1 / 9783751718561
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