Das gelbe Haus (eBook)

Leben und Überleben einer Familie in New Orleans

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
432 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27358-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das gelbe Haus - Sarah M. Broom
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Eine Familie, ein Haus, eine Stadt - mitreißend erzählt Sarah M. Broom von der Kunst des Überlebens. 'Meisterhaft. Massiv und minutiös zugleich. Wow.' Lisa Taddeo
Ein gelbes Holzhaus in einem vernachlässigten Viertel New Orleans ist jahrzehntelang das Zentrum der Familie Mae Broom - bis Hurrikan Katrina es zerstört. Ein ganzer Stadtteil wird von der Landkarte gespült und mit ihm die Habseligkeiten und Erinnerungen der Familie. Doch Sarah M. Broom widersetzt sich dem Verlust und der Verdrängung. Lebhaft erinnert sie die Scham, die sie mit diesem Ort verband, die Liebe ihrer Familie und ihren stoischen Widerstand gegen die Gewalt der Natur und der amerikanischen Geschichte. Immer tiefer dringt sie in die Biografie eines Ortes und seiner Bewohner vor und deckt dabei die fatalen Ungleichheiten einer ganzen Gesellschaft auf. Das gelbe Haus ist ein berauschendes Memoir geschrieben mit der erzählerischen Intensität eines Romans.

Sarah M. Broom, 1979 in New Orleans geboren, ist eine amerikanische Journalistin und Schriftstellerin. Sie schreibt regelmäßig für den New Yorker, The New York Times Magazine und O, The Oprah Magazine. Für ihr erstes Buch, das Memoir Das gelbe Haus, erhielt sie u.a. den National Book Award for Nonfiction 2019. Sie lebt in New York.

Von ganz weit oben, in einer Höhe von viereinhalbtausend Metern, aus der Luftbilder aufgenommen werden, ist die Wilson Avenue 4121, die Adresse, die ich am besten kenne, bloß ein winziger Punkt, ein grünlicher Schorf. Auf Satellitenaufnahmen aus noch größerer Höhe löst sich meine einstige Straße ganz in der Stiefelspitze von Louisiana auf. Von dieser Warte aus könnte man meinen, unsere Adresse, jetzt mikroskopisch klein, liege im Golf von Mexiko. Abstand bietet Perspektive, führt aber auch zu Trübungen, Fehlinterpretationen. Mein Bruder Carl wäre aus so großer Höhe nicht zu sehen.

Carl, auch bekannt als mein Bruder Rabbit, versitzt ganze Tage und Nächte an der Wilson Avenue 4121, mindestens fünfmal die Woche, wenn er seine Pflichten als Wartungsarbeiter bei der NASA erfüllt hat und nicht gerade beim Angeln oder sonst am Wasser ist, wo er sich am liebsten aufhält. Viertausendundfünfzehn Tage nach der Flut, weit über jedes menschliche Ermessen von Nachrichtenzyklen hinaus, sitzt da immer noch ein magerer Mann in Shorts, mit weißen, bis zu den Kniescheiben hochgezogenen Strümpfen und einem Goldrahmen um den einen Schneidezahn.

Manchmal trifft man Carl allein auf unserem Grundstück an, wo er auf einer Kühlbox thront, den Blick suchend schweifen lässt, als wartete er auf ein Zeichen, als wartete er auf ein Wunder. Oder aber er sitzt an einem pekannussfarbenen Esstisch mit aufwendig gedrechselten Beinen und hält dort Hof. Dieser Tisch, an dem Carl manchmal sitzt, steht an der Stelle, wo früher unser Wohnzimmer war, jetzt aber statt eines Fußbodens wieder grünes Gras zu wachsen versucht.

Seht dort Carl, wie er mit dem langen Arm gestikuliert, falls ihm gerade danach ist, und eine dunkle Sonnenbrille trägt, auch noch am späten Abend. Seht ihn dort, Rabbit, wie er die Beine an den Knöcheln kreuzt, ein langgliedriger Mann, ganz verknotet.

Ich sehe ihn jetzt dort, vor meinem geistigen Auge, schweigend, mit einem Bier in der Hand. Er babysittet eine Ruine. Aber weder würde er das je so formulieren noch so empfinden; er würde das Gelbe Haus nie auf diese Weise verraten.

Häufig trifft Carl auf Gesellschaft an der Wilson Avenue, wo er Wache hält. Freunde treffen ein und öffnen ihren Kofferraum, Kühltaschen mit geeistem Alkohol kommen daraus zum Vorschein. »Greif zu, Baby«, sagen sie dann. Muss jemand pinkeln, geschieht das dort, wo früher unser Fernsehzimmer war. Oder die Leute benutzen das knallblaue Dixi-Klo, das hinten im Garten steht, da, wo früher der Schuppen war. Das lotrechte Plastikhäuschen ist heute das einzige Bauwerk auf dem Gelände. Auf seiner Tür steht in weißen Druckbuchstaben auf schwarzem Grund: City of New Orleans.

Ich habe einen Stapel von zwölf, dreizehn Büchern über New Orleans, die seine Geschichte erzählen. Beautiful Crescent, New Orleans Yesterday and Today, New Orleans as It Was, New Orleans: The Place and the People, Fabulous New Orleans, New Orleans: A Guide to America’s Most Interesting City. Und so weiter und so fort. Jedes davon habe ich einzeln durchgeblättert, vorbei an umfangreichen Passagen über das French Quarter, den Garden District und die St. Charles Avenue, auf der Suche nach dem Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, New Orleans East. Es findet selten und spärlich Erwähnung, als Nachsatz. Führungen durch diesen Teil der Stadt gibt es nicht, bis auf die Katastrophen-Bustouren, die seit dem Hurrikan Katrina eine eigene Branche bilden, Besucherinnen und Besucher herumkutschieren und ihnen die große Verwüstung in Gegenden zeigen, die vor der Flut kein Mensch kannte oder je betreten hat, mit Ausnahme ihrer Anwohner.

Stellt euch vor, die Straßen sind totenstill, und einst lebten Menschen in diesen totenstillen Straßen, doch von dem, was ihnen einmal gehörte, ist nichts mehr übrig. Die wenigen Überlebenden, die sich dort noch aufhalten, in diesen Gerippen von Nebenstraßen schuften, tragen blaue Ganzkörperschutzanzüge zum Wegwerfen und Masken über Mund und Nase, damit ihnen der schwarze Schimmel nicht zusetzt, der überall in ihren Häusern wuchert, die Wände erklimmt, glitschig-abstrakte Formen auf dem Fußboden bildet. Und währenddessen, während man sich fragt, ob man überhaupt noch Reste von irgendetwas finden wird, was einem jemals wichtig war, fahren Touristen in klimatisierten Bussen vorbei und knipsen Fotos von dieser ganz persönlichen Verwüstung. In gewisser Weise bestätigt es mich auch, dass die Touristen den entsetzlichen, zerstörerischen Akt zur Kenntnis nehmen, aber trotzdem kommen sie mir wie Eindringlinge vor. Und ich glaube auch nicht, dass die Busse es jemals bis in die Straße geschafft haben, in der ich aufgewachsen bin.

In einem der Bücher von meinem Stapel, das die Vororte beschreibt, ist zwar New Orleans East nicht aufgeführt, dafür aber Jefferson Parish, das bereits jenseits der Stadtgrenzen liegt, sowie etliche Friedhöfe. Friedhöfe zählen meines Wissens nicht als vollwertige Stadtviertel, auch wenn die oberirdischen Grabstätten in der örtlichen Überlieferung gern als »Häuser der Toten« bezeichnet werden.

Auf einem detaillierten Stadtplan, den ich einmal in einer Avis-Filiale bekam, ist das French Quarter zart türkis unterlegt und wird in einem Kasten ganz unten auf der Seite vergrößert. New Orleans East ist abgeschnitten, ein Ort im Außerhalb, eine Leerstelle auf der Karte, die man im Kopf hat. Das mag praktische Gründe haben. New Orleans East ist fünfzigmal so groß wie das French Quarter, es macht ein Viertel der bebauten Stadtfläche aus. Ordentlich kartografiert würde es die ganze Seite verschlucken.

Und so offenbart die Avis-Karte nicht, dass man, um die etwa elf Kilometer vom French Quarter zu dem Gelben Haus zurückzulegen, in dem ich aufgewachsen bin, zunächst auf der Interstate 10 nach Osten fahren muss. Als dieser Abschnitt der Autobahn 1968 eröffnet wurde, waren dafür mehrere hundert gewaltige Eichen entlang der Claiborne Avenue, für meine Mutter und Großmutter noch die Schwarze Einkaufsstraße, gefällt, ihr Wurzelwerk zwangsgeräumt worden. Einhundertfünfundfünfzig Häuser wurden abgerissen, um Platz zu schaffen.

Fährt man also auf der Interstate, sieht man an den Schildern mit der Aufschrift »Vieux Carré Final Exit«, dass man auf dem richtigen Weg ist, aber man nimmt diese letzte Ausfahrt nicht. Man bleibt auf der Schnellstraße.

Nach weiteren sechseinhalb Kilometern kommt man auf eine Brücke, die wir High Rise nennen, weil sie sich so theatralisch über den Industrial Canal hinwegwölbt, der den Mississippi mit Lake Pontchartrain verbindet, das östliche New Orleans aber zugleich vom Rest der Stadt abgrenzt. Oben auf der High Rise kommt es einem vor, als verharre man kurz auf der Schwelle zu einer Entdeckungsreise, aber der Abstieg ist grausam steil.

Recht plötzlich biegt man dann auf den Chef Menteur ab, einen vierspurigen Highway, erbaut auf einem Höhenzug, der früher von verschiedenen Stämmen amerikanischer Indigener überquert wurde, heute aber Autos bis nach Florida oder Texas bringt. Der Chef Menteur trennt das kurze, industrialisierte Stück der Wilson Avenue, in dem ich aufgewachsen bin, von einem längeren Wohngebiet, das hauptsächlich aus Backsteinhäusern besteht und aus meiner Grundschule, ursprünglich nach Jefferson Davis benannt, dem einzigen Präsidenten der Konföderierten Staaten von Amerika, und später dann nach Ernest Morial, dem ersten Schwarzen Bürgermeister von New Orleans. Heute ist sie namenlos — eine grasbewachsene Fläche mit einem Maschendrahtzaun ringsherum.

Noch heute, beim Schreiben, beunruhigt es mich, was es für uns — mich und meine elf Geschwister — bedeutete, den Chef Menteur Highway zu überqueren, damals, wie auch heute, ein weites Meer der Prostitution, wo Autos halten, mitunter halb auf dem Bürgersteig, oder langsam neben einem herfuhren, selbst wenn man nur ein Kind war, das zum Einkaufen losgeschickt wurde; in den Autos saßen fast nur Männer, immer auf der Suche nach dem nächsten Deal.

Die Autos konnten einen auch erfassen und über den Highway schleifen, ohne es selbst zu merken, so wie es meiner Schwester Karen einmal passiert ist, als sie acht Jahre alt war. Oft fanden Raser auf diesem Highway ihr Ende. Auch Alvin, mein Kindheitsfreund, sollte so sterben. Man musste jederzeit damit rechnen, gepackt und entführt zu werden, ...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2022
Übersetzer Tanja Handels
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Yellow House
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte American • Armut • Aufstieg • Award • Book • Dream • Eigentum • Entwurzelung • Familie • Flut • Gegenentwurf • Generation • Geschichte • House • Hurrikan • Katrina • Klimawandel • Krise • Liebe • Memoir • Narrativ • national • Obama • Orleans • Rassismus • Scham • Schwarz • Segregation • shotgun • Südstaaten • Umweltkatastrophe • Ungleichheit • Verlust • Wohnungspolitik • Zerstörung • Zugehörigkeit • Zuhause
ISBN-10 3-446-27358-1 / 3446273581
ISBN-13 978-3-446-27358-0 / 9783446273580
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