Dann sind wir Helden (eBook)

Wie mit Popmusik über die Mauer hinweg deutsche Politik gemacht wurde
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
416 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01197-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Dann sind wir Helden -  Joachim Hentschel
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Während der Kalte Krieg in den 1980ern immer kälter wurde, taute die Stimmung im deutsch-deutschen Kulturaustausch auf. Rockbands wie City, Pankow und die Puhdys wurden unter strengen Auflagen auf BRD-Tour geschickt, Karat traten in der «ZDF Hitparade» auf, und mit ihrem Song «Über sieben Brücken musst du geh'n» landete Peter Maffay einen Hit und schickte Westmark-Tantiemen nach Ost-Berlin. Plötzlich blühte der kulturelle Grenzverkehr: Es ging um Devisen und Propaganda. Joachim Hentschel beleuchtet erstmals die Hintergründe: Welche Rolle spielten die Stasi, die DDR-Künstleragentur, die Jugendorganisation FDJ, bundesdeutsche Plattenfirmen und Impresarios? Und führte der deutsch-deutsche Kulturhandel der 1980er am Ende zu Mauerfall und Wiedervereinigung?

Joachim Hentschel, Jahrgang 1969, hat als Journalist und Autor für zahlreiche Print-, Online- und Rundfunkmedien gearbeitet. Seine Beiträge erschienen unter anderem in der Süddeutschen Zeitung, in Rolling Stone, Wired, GQ, Vanity Fair, Der Spiegel und Business Punk, waren im Deutschlandfunk und auf Arte zu hören und zu sehen. In seinem Buch «Zu geil für diese Welt» (2018) beschäftigte er sich mit der Kultur der 90er-Jahre und den Folgen der Wiedervereinigung. Er lebt in Berlin.

Joachim Hentschel, Jahrgang 1969, hat als Journalist und Autor für zahlreiche Print-, Online- und Rundfunkmedien gearbeitet. Seine Beiträge erschienen unter anderem in der Süddeutschen Zeitung, in Rolling Stone, Wired, GQ, Vanity Fair, Der Spiegel und Business Punk, waren im Deutschlandfunk und auf Arte zu hören und zu sehen. In seinem Buch «Zu geil für diese Welt» (2018) beschäftigte er sich mit der Kultur der 90er-Jahre und den Folgen der Wiedervereinigung. Er lebt in Berlin.

Herr Westernhagen spielt seine fieseste Rolle


Der Musiker und Schauspieler Marius Müller-Westernhagen war am 12. November übrigens nicht in Berlin, auch wenn einige Quellen es behaupten (er gab an dem Tag ein Konzert in Mainz). Einer seiner Songs gehört dennoch fest zu den Wendezeit-Erinnerungen, an denen viele sich noch Jahrzehnte später festkrallen konnten. Westernhagen, damals Anfang 40, war auf dem Sprung vom eher straßenköterhaften Rockbeißer zum manteltragenden Stadionstar mit kleiner Sonnenbrille. «Freiheit» hieß das Stück, das er während seiner Herbsttournee in aufgeheizten Hallen sang. Eine an sich kleine, nur zum Klavier gesungene Ballade, die den Moment monumentaler und umarmender einfing als alle anderen.

Die Kapelle, rumtata

Und der Papst war auch schon da

Und mein Nachbar vorneweg

Freiheit, Freiheit ist die Einzige, die fehlt

Der Umsturz, der Westernhagen zum Text seines schon 1987 erschienenen Liedes inspiriert hatte, war ein alles andere als friedlicher gewesen. Bei einer Fahrt durch Paris hatte er einen Spruch aus der Zeit der Französischen Revolution aufgeschnappt, mutmaßlich aus einem Werk des Historikers François-Auguste Mignet. Es ging um die Enkel, die auf den Gräbern der Alten tanzen, um die finstere, überkommene Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen. Daraus entwickelte er den Text.

Zunächst wurde das Lied kaum wahrgenommen. Eine Liveaufnahme vom Konzert in Dortmund, das er elf Tage nach dem Mauerfall gespielt hatte, erschien 1990 auf Platte, kurz vor der Wiedervereinigung, und wurde schnell radiobekannt. Die gefühlsduselige und zugleich zukunftsängstliche Stimmungslage machte «Freiheit» größer und größer.

«Songs nehmen ja immer ein Eigenleben an, und wenn du Glück hast, ist es gut», kommentierte Westernhagen in einem Spiegel-Interview. «Freiheit» wurde, noch langfristiger als David Hasselhoffs notorisches «Looking For Freedom», zu einer der Hymnen des neu vereinten Deutschlands. Bald konnten die Leute sogar den Mittelteil mitsingen: «Freihei-ei-ei-ei-eit!»(Auch 2021 noch, als das Stück unfreiwillig zum Themensong vieler Impfgegner-Demos gemacht wurde.)

1990 hatten die meisten schon vergessen, dass derselbe Westernhagen neun Jahre vorher einen ganz anders gelagerten Kommentar zum Thema West-Ost abgegeben hatte. «Von drüben» hieß der Song, der 1981 erschienen war. In dem lustig dahertrabenden Country-Folk-Stück schauspielerte der Künstler eine für ihn ungewöhnliche Rolle: die der fiktiven Gerti, einer Liedermacherin aus der DDR.

Die Geschichte, die der Song erzählt: Gerti ist im Osten zwar ein Star, siedelt in den frühen 80ern aber in die BRD über, weil sie endlich Geld und wahre Anerkennung verdienen will. Sie nutzt aus, dass die Schwestern und Brüder im Westen oft auch Mittelmäßiges ehrfürchtig hochjubeln, wenn es von drüben kommt – solange sie es als tapfere poetische Wortmeldung aus dem Unrechtsstaat verstehen können, dem Land des unfairen Alltags und der unterdrückten Möglichkeiten.

Ich bin sehr natürlich, das schreibt auch der Stern

Ich krieg auch ’nen Preis von der Akademie

Fast wie bei uns, doch da bekam ich den nie

Jetzt wer’n se blöd gucken, da drüben die Herrn

singt Westernhagen als Gerti, die in ihren Songs zwar Position für Menschenrechte bezieht, in Wahrheit aber nur geldgierig die Dummheit und den Selbsthass der bundesdeutschen Bildungsbürger und Linksfolkloristen ausnützt. Am Ende kündigt sie sogar noch an, ihre Schwester Helga nachzuholen, eine Discosängerin aus Leipzig. Der Start einer kleinen Ost-West-Kulturinvasion.

Und wenn du dann kommst, dann geh’n wir zum Biermann

Und rufen die Jungs bei der Industrie an

Denn Mädels wie dich, die nehmen die gern

Wolf Biermann, Sänger und Dichter, gebürtiger Hamburger, war 1976 nach 23 freiwilligen, mehr oder weniger überzeugten Jahren in der DDR ausgebürgert und praktisch ausgesperrt worden, ein Ereignis, das auf beiden deutschen Seiten ein Erdbeben bedeutete. Auch dem besagten Stern war das damals eine Titelgeschichte wert. Überschrift: «Rotkehlchen ohne Nest».

Mit ihm wollte Westernhagen sich sicher nicht anlegen, als er «Von drüben» schrieb, dieses auch für seine Verhältnisse atemberaubend bösartige Lied. Ein reales Vorbild für Gerti könnte Veronika Fischer gewesen sein, die damalige Nummer-eins-Popsängerin der DDR, die von seiner Plattenfirma WEA intensiv umworben wurde. Anfang 1981 folgte sie dem Ruf aus Westdeutschland, aber da war Westernhagens Lied längst fertig.

Bettina Wegner könnte ebenfalls ein Modell für die Gerti-Figur gewesen sein. Wegner, Aktivistin und Sängerin, war 1978 durch eine Ausgabe des ZDF-Politikmagazins «Kennzeichen D» im Westen prominent geworden. «Szenen einer Hauptstadt» hieß die Ausgabe, für die der TV-Journalist Dirk Sager durch ein weitgehend tristes, problembeladenes, dennoch keck zivilcouragiertes Ostberlin fuhr. Er ließ Passantinnen, Schrebergärtner, Gemüseverkäuferinnen und Bauarbeiter erzählen und machte auch in der schönen Neubauwohnung in der Leipziger Straße halt, die Wegner mit ihrem damaligen Mann bewohnte, dem Schriftsteller Klaus Schlesinger.

Von einem Fenster aus schaute man über die Mauer aufs Hauptquartier des Springer-Verlags. Vom anderen aufs Zentralkomitee der Staatspartei SED, symbolträchtiger ging es kaum. Wegner, damals 30, mit Zöpfen, Jeansrock und dunkelblauem T-Shirt, erzählte vor der Kamera erfrischend rotzig von ihren zermürbenden Bemühungen, im Osten offene Literaturlesungen zu veranstalten. Sang anschließend zur Gitarre ein Lied, das in der Sendung komplett gezeigt wurde: «Sind so kleine Hände, winz’ge Finger dran, darf man nie drauf schlagen, die zerbrechen dann» und so weiter.

«Kinder» hieß das Stück. Nach der Sendung erschien es in der BRD auf Schallplatte, wurde im Jahr drauf ein riesiger Erfolg und unerwarteter Radiohit. Bald sangen es sogar andere Künstler nach, wenn auch in modifizierten Versionen, von der Braunschweiger Punkband Daily Terror («Sind so kleine Biere») bis zum Komiker Otto Waalkes («Sind so kleine Schnäpse»). Das zugehörige Wegner-Album errang mit einer Viertelmillion verkaufter Exemplare gleich eine Goldene Schallplatte, auch Ende der 70er nicht alltäglich für eine derart reduzierte Chanson-LP. Im Begleittext, der hinten auf der Hülle stand, nannte der Autor der westlichen Plattenfirma CBS die Sängerin einen «Geheimtip unter den kritisch-politischen Liedermachern in der DDR».

Ein reichlich euphemistischer, fast zynischer Ausdruck dafür, dass Wegner als Schikane für ihre politischen Aktionen im Osten zu der Zeit praktisch Auftrittsverbot hatte. Öffentlich konnte sie nur unter Decknamen oder in Kirchen singen, die vor dem Zugriff von Stasi und Polizei halbwegs sicher waren. Auch das Erfolgsalbum «Sind so kleine Hände» war in der DDR natürlich nicht legal erhältlich. Die Veröffentlichung von – bis zu ihrer Ausbürgerung 1983 – vier Alben im Westen ließ der Staat trotzdem zu, einfach, indem er sie nicht verhinderte. Einen beträchtlichen Teil der D-Mark-Devisen, die Wegner durch Plattenverkäufe und GEMA-Einnahmen generierte und die für Radio- und Fernseheinsätze fällig wurden, behielten die Behörden beim Transfer freilich ein und führten sie guten, sozialistischen Zwecken zu.

Westernhagens Ossi-Satire, die wohl unter anderem auf Wegner und ihren Erfolg abzielte, kam 1981 in der BRD nicht allzu gut an. Er selbst sagt, einige Radiosender hätten das Lied auf ihre schwarzen Listen gesetzt, weil sie befürchteten, mit der Ausstrahlung die weiterhin fragile Annäherung zwischen den zwei deutschen Staaten zu stören. Der prominente Bochumer Rockjournalist Wolfgang Welt war deutlicher in seiner Kritik, bezeichnete den Song in einem Text für die Ruhrgebiets-Stadtzeitschrift Marabo als «Stück Scheiße». Das Gerti-Lied sei «an Erbärmlichkeit nicht zu übertreffen und dürfte im Auftrag von Axel Cäsar Springer entstanden sein», schrieb Welt. «Gerd Löwenthal und alle anderen Rechtsaußen werden sich freuen.»

Löwenthal, grimmiger Journalist und Moderator des «ZDF-Magazins», war als artikulierter Antikommunist und Gegner der westöstlichen Entspannungspolitik bekannt, die 1969 mit Willy Brandts Kanzlerschaft begonnen hatte. Der Springer-Verlag galt mit seinen Zeitungen Bild und B.Z. als Kampagnenführer gegen die Annäherung, als Gegner aller daraus abgeleiteten bundesdeutschen Zugeständnisse gegenüber Ostberlin und letztlich Moskau. Bis August 1989, also drei Monate vor der Mauerfallnacht, schrieben die Springer-Medien den anderen Staat grundsätzlich in Anführungszeichen: «DDR».

Symptomatisch für die Stimmung, die in Westdeutschland bis in die 80er hinein herrschte, steht ein Vorfall vom Oktober 1959. Damals hatte der ARD-Entertainer Hans-Joachim Kulenkampff zu Beginn seiner Sendung «Quiz ohne Titel» auch die Zuschauer «in der DDR» begrüßt. Das Problem: Er hätte laut öffentlich-rechtlicher Sprachregel eigentlich «in der sogenannten DDR» sagen müssen, ließ das entscheidende Adjektiv aber weg. Die anschließenden Beschwerden von Zuschauern und...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2022
Zusatzinfo 16 S. 4-farb. Tafelteil
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bands in der DDR • BAP • Berlin-West • Bruce Springsteen • Campino • David Bowie • DDR • Deutsche Zeitgeschichte • FDJ • Mauerfall • Musik in der DDR • Ostberlin • Peter Maffay • Popkultur • Popmusik • Revolution • Rockmusik • Udo Lindenberg • Wende • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-644-01197-4 / 3644011974
ISBN-13 978-3-644-01197-7 / 9783644011977
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