Die gespaltene Gesellschaft (eBook)

Nominiert für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2023
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2022 | 1. Auflage
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01295-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die gespaltene Gesellschaft -  Jürgen Kaube,  André Kieserling
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Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht in Talkshows und Zeitungen gefragt wird, was unsere Gesellschaft - noch - zusammenhält. Ob Arm gegen Reich, Ost gegen West, Land gegen Stadt, Jung gegen Alt oder der anhaltende Streit über Identitäts-, Glaubens- oder Genderfragen: Die gesellschaftliche Spaltung erscheint als ein Signum unserer Zeit. Jürgen Kaube und André Kieserling gehen dieser Diagnose auf den Grund: Schrumpft die Mittelschicht wirklich, und wie stellt man überhaupt fest, wer zu ihr gehört? Wenn das islamisch dominierte Viertel in Berlin-Neukölln eine Parallelgesellschaft ist, muss dann nicht auch das Villenviertel im Grunewald so bezeichnet werden? Waren frühere Gesellschaften tatsächlich stärker integriert, oder herrschten dort nur andere Konflikte und Ungerechtigkeiten? Die Gesellschaft, so kann man sagen, besteht wesentlich aus Ungleichheiten; gefährlich aber wird es, wenn Ungleichheit zu immer stärkerer Polarisierung, zu einem permanenten Gegeneinander führt. Was also ist nur mediales Gerede, und wo drohen echte Zerreißproben? Jürgen Kaube und André Kieserling sorgen in einer unübersichtlichen Lage für Orientierung - und liefern nichts weniger als eine schlüssige Deutung unserer gesellschaftlichen Gegenwart.

Jürgen Kaube, geboren 1962, ist Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis. Kaube ist Autor mehrerer Bücher, die zu Bestsellern wurden. Über «Die Anfänge von allem» (2017) schrieb die «Süddeutsche Zeitung»: «ein ungemein lesenswertes Buch, unfassbar interessant». «Hegels Welt» (2021) wurde mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet.

Jürgen Kaube, geboren 1962, ist Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis. Kaube ist Autor mehrerer Bücher, die zu Bestsellern wurden. Über «Die Anfänge von allem» (2017) schrieb die «Süddeutsche Zeitung»: «ein ungemein lesenswertes Buch, unfassbar interessant». «Hegels Welt» (2021) wurde mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet. André Kieserling, geboren 1962, ist seit 2006 Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Bielefeld. Er gilt als einer der bekanntesten Weiterentwickler der Systemtheorie Niklas Luhmanns.

Einleitung: Die Angstlust an der Spaltung


Keine Woche, in der nicht in den Massenmedien, in Talkshows und Zeitungsartikeln, aber auch in sozialwissenschaftlichen Beiträgen behauptet wird, es drohe eine Spaltung der Gesellschaft oder sie sei längst gespalten. Zumeist sind mit «Gesellschaft» dabei Nationalstaaten und ihre Bürger gemeint. Zwischen ihnen schwinde der Zusammenhalt, teils durch soziale Gegensätze, die immer größer würden, teils durch Individualismus, Egoismus und das wechselseitige Unverständnis sozialer Gruppen. Die Gegensätze, die dabei angeführt werden, erstrecken sich über die verschiedensten Dimensionen: Arm und Reich, Jung und Alt, Frauen und Männer, Eingewanderte und schon länger Ansässige, Geimpfte und Nichtgeimpfte, Land- und Stadtbewohner – es wird eine gesellschaftliche Spaltung zwischen so gut wie allem behauptet.

Belege? Die Präsidentin des Bayerischen Landtags sprach dort kürzlich davon, es sei die Aufgabe der Parlamentarier, «jeder Spaltung unserer Gesellschaft entgegenzuwirken». Kaum dürfte sie damit aber gemeint haben, dass starke Gegensätze unerwünscht seien. Sie ist Mitglied einer Partei. Partei heißt in der demokratischen Praxis: gegensätzlicher Teil. Was also meint sie jenseits der politischen Aufgabe, Bürgerkriege zu verhindern, deren Gefahr gegenwärtig nicht im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit steht?

Der Schriftsteller Jochen Schimmang, der die Landtagspräsidentin in einem Beitrag für die Heinrich-Böll-Stiftung zitiert, befürchtet seinerseits, es gebe vielleicht bald gar keine Gesellschaft mehr, weil sie in zu viele auf ihre Identität pochende Teile, in ganz verschiedenen Welten lebende Atome zerfalle. Zeitdiagnosen, wir lebten in einer «Gesellschaft der Singularitäten», wollen einen «Verlust des Allgemeinen» erkennen. Das gemeinsam Geteilte nehme ab. Aber wie verschieden können die Welten sein, wenn nach wie vor zusammen erzogen, gearbeitet, geliebt und gestritten, geredet und kollektiv entschieden werden muss? Ist beispielsweise die Anhänglichkeit an Moden des Konsums oder der «identitätspolitischen» Selbstbeschreibung ein Beleg für mehr Individualismus oder als Mode gerade ein Kollektivphänomen? Womöglich lässt sich der Satz, die Gesellschaft bestehe aus Individuen, Atomen, Singularitäten, leichter hinschreiben, als ein vollständig individuelles Leben geführt werden kann.

Ein Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften, Joseph Stiglitz, schließt aus dem immensen Reichtum, den ein Prozent der amerikanischen Bevölkerung genießt, bei abnehmenden Aufstiegschancen für alle anderen, ein Klassenkonflikt mit den restlichen 99 Prozent liege in der Luft. Die ökonomische Ungleichheit zehre den sozialen Zusammenhalt auf. Tatsächlich ist der Anteil des Einkommens, das im obersten Prozent der amerikanischen Haushalte erzielt wird, in den vergangenen vierzig Jahren von 7 auf 16 Prozent gestiegen, der Einkommensanteil der unteren 80 Prozent um 7 Prozent gesunken. Der Klassenkonflikt ist jedoch trotz zunehmender Armut und starker Plutokratie ausgeblieben. Eine Erklärung dieses Umstands wäre hilfreicher als die Behauptung, ein solcher Konflikt stehe unmittelbar bevor.

Andere meinen eine gesellschaftliche Spaltungslinie entlang der Mediennutzung und des «Digital Divide» zwischen Fernsehzuschauern, Zeitungslesern und den sich ausschließlich in sozialen Medien bewegenden Bürgern zu erkennen. Die Pandemie habe die digitale Spaltung der Gesellschaft verschärft, meint auch die Bertelsmann-Stiftung, weil die älteren Bürger in Umfragen mitteilen, das Internet sei für sie genauso wichtig wie zuvor – und nicht etwa wichtiger. Dass nur ein Viertel der Personen, die älter als sechzig sind, am «Digitalisierungsschub» teilgenommen haben wollen, ist für die Stiftung offenbar ein besorgniserregender Befund. Ein wenig liest sich das, als behaupte jemand, die Gesellschaft drifte auseinander, weil nur manche, aber nicht alle nicht bereit sind, den Fernsehapparat einzuschalten. Es scheint eine hohe Bereitschaft zu Spaltungsdiagnosen und nachgerade eine Angstlust daran zu geben.

Die Coronapandemie selbst hat Spaltungsbehauptungen in den Massenmedien zum alltäglichen Refrain gemacht. Einerseits verstärke sie Ungleichheiten, weil Personen je nach ihrem Einkommen, ihrer Wohnsituation, ihrer Kinderzahl, ihrem Geschlecht und ihrem Alter unterschiedlich stark von der Pandemie betroffen sind. Andererseits spalte sie inzwischen die Bürgerschaft in Geimpfte und Nichtgeimpfte. Eine Ethikerin bringt die 2G-Regeln der Epidemiebekämpfung in Zusammenhang mit einer Spaltung der Gesellschaft, weil durch diese Regeln dem ungeimpften Teil der Bevölkerung der Zugang zu Aktivitäten des guten Lebens genommen werde. Das gelte bei fehlender staatlicher Kostenübernahme für Coronatests auch für Bürger, die ungeimpft bleiben wollen, aber sich die Tests nicht leisten können.[1]

 

Die Belege für einen zunehmenden medialen, wissenschaftlichen und politischen Gebrauch der Begriffe «Spaltung» und «Polarisierung» wären leicht zu vermehren, aber wir halten an dieser Stelle inne. Beide Begriffe gehören zum Vokabular der Zeitdiagnose, in ihnen bündeln sich die Versuche, vor einer besorgniserregenden sozialen Entwicklung zu warnen. Das Meinungsforschungsinstitut Ipsos legt folgerichtig eine Umfrage vor, der zufolge fast zwei Drittel der deutschen Bevölkerung die Gesellschaft für «zerrüttet» halten, was allerdings noch hinter den Zahlen aus Südafrika, Brasilien, Ungarn und den Vereinigten Staaten zurückbleibt. Am wenigsten gespalten empfinden ihr Gemeinwesen danach Südkoreaner, Italiener, Japaner und Kanadier.[2] Wer demgegenüber eine Polarisierung der Gesellschaft in Abrede stellt, befindet sich in einer Minderheitenposition. In Deutschland sind die entsprechenden Werte seit fünf Jahren stabil, zugleich befinden «nur» 47 Prozent aller deutschen Befragten, das Land sei im Niedergang, der viertbeste Wert unter fünfundzwanzig Nationen. Gespalten, aber ganz okay – der Demos der Demoskopie ist ein eigenartiges Wesen, vielleicht hat es mit den Fragetechniken zu tun.

Zum Anstieg der Spaltungsdiagnosen haben die Auftritte und Wahlergebnisse populistischer Parteien in den vergangenen zehn Jahren beigetragen. Der Brexit und die polnischen, ungarischen, britischen Regierungen, die AfD in den Jahren der stärksten Flüchtlingsaufnahme sowie die Zunahme rechtsradikaler und islamistischer Gewalt in Teilen Europas – dies alles hat die allgemeine Bereitschaft erhöht, sich in einer schon gespaltenen oder von Spaltung bedrohten Gesellschaft zu sehen. Der Populismus seinerseits pflegt ein entsprechendes Vokabular. Technokratische Kosmopoliten, eine globalisierte Klasse, die in einer «abgehobenen Parallelgesellschaft» lebe, so heißt es, regierten gegen das lokal gebundene Volk und seine nichtglobalen Interessen. Die Gesellschaft spalte sich in «Anywheres» und «Somewheres», in «Egal-wo»- und «Irgendwo»-Bürger.[3] Das Volk, das so angesprochen wird, wählt dann allerdings nicht überall populistisch, sondern in Deutschland zuletzt zu beinahe 90 Prozent andere Parteien. 90 Prozent «Anywheres» wird es aber wohl nicht geben. Das sogenannte Volk muss also selbst als gespalten bezeichnet werden, in Wähler von angeblichen «Systemparteien» und die bundesweit 10 Prozent des Protests gegen sie.

Wir kommen darauf zurück, ob in der Spaltungsdiagnose nicht die große Menge der Wechselwähler vergessen wird, die es in manchen Nationalstaaten gibt und die das Bild fester, einander feindlich gesonnener Blöcke relativiert.[4] Insbesondere Beschreibungen der Vereinigten Staaten, in denen die Wechselwähler nur eine Minderheit sind und in denen der Wahlerfolg Donald Trumps auf eine seit langem herrschende politische wie kulturelle Polarisierung zurückgeführt wird, bestätigen demgegenüber den Eindruck der gesellschaftlichen Spaltung. Interessant ist hier, dass solche Analysen oft darauf hinauslaufen, dieser Wahlerfolg hätte vorhergesehen oder zumindest nicht für unwahrscheinlich gehalten werden können.[5] Trumps Wahl kam jedoch für die meisten Beobachter als Überraschung. Everything is obvious, once you know the answer – alles ist ganz offensichtlich, sobald du das Wahlergebnis kennst, wäre hier ein Buchtitel zu übersetzen.[6] Das spricht nicht gegen eine gesellschaftliche, also mehr als nur politische Spaltung der Vereinigten Staaten, aber es macht aufmerksam darauf, wie abhängig solche Diagnosen oft von der Wahrnehmung einzelner Ereignisse sind.

Googeln wir «Spaltung der Gesellschaft» und beschränken uns also auf den deutschen Sprachraum. Wir erhalten am 25. Juli 2022 ganze 5,7 Millionen Ergebnisse. Ein Drittel der deutschen Bevölkerung, heißt es in einem der Treffer, gehöre einer Studie der Universität Münster zufolge zwei extrem verhärteten Blöcken an: entweder dem Lager der «Verteidiger», die sich eine ethnisch und religiös homogene Bevölkerung wünschen und sich durch Fremde bedroht fühlen, oder dem der «Entdecker», die mit der Demokratie ganz zufrieden seien, keine Fremdenangst oder Vorbehalte gegenüber Flüchtlingen hätten. Über diese Studie wird weithin berichtet und stets in dem Sinn, dass das Land in zwei Extreme, Blöcke, Lager gespalten sei.[7]

In der Studie selbst wurden insgesamt fünftausend deutsche, französische, polnische und schwedische Bürger in Deutschland nach ihren Einstellungen zu Fremden, Migration und zur Demokratie befragt. Das Ergebnis war, dass 14 Prozent der Befragten «Entdecker» seien, 20...

Erscheint lt. Verlag 18.10.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Arm – Reich • Bindekräfte • Debatten • deutsche Politik • Diskriminierung • Einkommen • Generationenkonflikt • Geschlecht • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Identitätspolitik • Jung – Alt • Klasse • Land – Stadt • Migration • Ostdeutschland • Ost – West • Polarisierung • Politik • Populismus • sachbuch politik • soziale Konflikte • Spaltung • Stadt-Land-Gefälle • Ungleichheit • Vermögen • Zusammenhalt
ISBN-10 3-644-01295-4 / 3644012954
ISBN-13 978-3-644-01295-0 / 9783644012950
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