Die Geschmeidigen (eBook)

Meine Generation und der neue Ernst des Lebens | Die renommierte Schriftstellerin analysiert ihre Zeitgenossen zwischen Selbstverwirklichung oder Verantwortung

(Autor)

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2022 | 1. Auflage
256 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2705-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Geschmeidigen -  Nora Bossong
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Jenseits der Selbstverwirklichung: die durchdringende Analyse einer Generation, die jetzt liefern muss Nora Bossong wirft einen genauen Blick auf ihre Altersgenoss:innen - diejenigen, die in unserem Land  dabei sind, in einer ausgeprägten Krisenperiode das Ruder zu übernehmen.  Denn nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges dachten viele Menschen in Deutschland, die großen existenziellen Fragen seien entschieden und es ginge nur noch um den Feinschliff des guten Lebens. Durch 9/11 erlitt die in den 90ern kultivierte Partylaune ihren ersten Dämpfer, spätestens ab 2008 dann stapelten sich die globalen Probleme: Finanzkrise, Ungleichheit, Fluchtbewegungen, Demokratiefeindlichkeit, Klimawandel ... Wie schlagen sich die heute um die 40-Jährigen mit diesen unerwartet massiven, bislang ungelösten Herausforderungen? Können sie ihrer Verantwortung gerecht werden? Oder sind sie nur zur Schadensbegrenzung in der Lage, sodass wir eher auf die nachfolgende Generationen, darunter jene um Greta Thunberg, hoffen müssen? Bossong diskutiert auch Ideen für eine demokratische Zukunft, in der möglichst viele für das Ideal des gemeinschaftlichen Handelns begeistert werden. Denn darauf kommt es mehr denn je an.

Nora Bossong geboren 1982 in Bremen, lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie veröffentlicht Romane, Essays und Gedichte und meldet sich regelmäßig zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen zu Wort. 2019 gelangte ihr Roman Schutzzone auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Bossong wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Thomas-Mann-Preis (2020) und dem Joseph-Breitbach-Preis (2020). Sie ist Kolumnistin des Philosophie-Magazins.

Nora Bossong, geboren 1982 in Bremen, studierte Literatur am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig sowie Kulturwissenschaft, Philosophie und Komparatistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität Potsdam und der Universität La Sapienza in Rom. Im Wintersemester 2018/19 arbeitete sie als Dozentin für Poetik an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. 2018 unterstützte sie das Bündnis Unteilbar. Sie lebt in Berlin, war Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und von 2017 bis 2019 Beisitzerin in dessen Präsidium. Sie verfasst Lyrik und Prosa. 2019 gelangte ihr Roman "Schutzzone" auf die Longlist des Deutschen Buchpreises. Bossong wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Thomas-Mann-Preis (2020) und dem Joseph-Breitbach-Preis (2020).

Alte Linke, Neue Rechte und ein Vater der Nation


Im Jahr 1982 war der Wohlfahrtsstaat in einer Krise, und ich beschäftigte mich mit Marx und Engels. Ihre Bücher standen im Wohnzimmer meiner Eltern auf dem untersten Regal und waren für mich, die gerade ihre taktilen Fähigkeiten schulte, gerade noch zu erreichen. Ich räumte sie aus den Regalen, und mein Vater räumte sie wieder ein, ein zyklisches System, über dessen Sinn- und Zweckhaftigkeit wir unterschiedlicher Meinung gewesen sein mögen. Der Bundestag war gerade von Bundespräsident Karl Carstens aufgelöst worden, der einige Straßen von diesem Bremer Wohnzimmer entfernt aufgewachsen war, und ich brachte mein erstes Lebensjahr hinter mich, ein Jahr, in dem Bundeskanzler Helmut Schmidt durch das erste konstruktive Misstrauensvotum in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland abgesetzt wurde. Helmut Kohl kam ins Amt und sollte dieses erst wieder verlassen, als ich längst kein Säugling mehr, sondern beinahe volljährig war. In seinen letzten Amtsjahren schien dieser große behäbige Familienpatron für mich so ewig Kanzler zu sein, dass ich zwischen Amt und Person kaum noch unterscheiden konnte.

Es war die Zeit der Wende, auch wenn ich später bei dem Wort nie an den Anfang der 80er-Jahre dachte. Ganz so klar war es nicht, wohin genau die Gesellschaft sich »geistig-moralisch« neu ausrichten sollte, wie es Helmut Kohl versprach, und am Ende des Jahrzehnts okkupierte dann eine noch größere Wende das Wort für sich. Ein anderer Umbruch aber war deutlich zu sehen: Das Misstrauensvotum hatte nicht nur Schmidt als Kanzler gestürzt, sondern auch die Politik selbst Vertrauen gekostet. Bei der FDP, die ihren Koalitionspartner ungnädig abserviert hatte, ließ sich beispielhaft beobachten, wie die Partei intern zerstritten und mit Austritten einiger prominenter Delegierter zurückblieb. Der deutsche Sozialliberalismus war damit Geschichte, und die politische Glaubwürdigkeit hatte insgesamt Schaden erlitten. Der FDP-Politiker Gerhart Baum hatte vor der Abstimmung zum Misstrauensvotum noch gewarnt: »Und die Politik von morgen braucht deshalb vor allem eines: Übereinstimmung von Reden und Handeln, von Person und Sache. Das Verfahren, das zur beantragten Abwahl des Bundeskanzlers Helmut Schmidt geführt hat, so befürchten wir, kann eine Veränderung der politischen Kultur in diesem Lande bewirken.«1

Am Ende meines ersten Lebensjahrs interessierte ich mich allerdings mehr für die Marx-Engels-Werkausgabe als für Misstrauensvoten und Kanzlerschaften. Da es in den Bänden kaum Bilder gab, nur ein, zwei Landkarten pro Buch, tröstete ich mich mit den vielen farbigen Zettelchen, die ich sorgsam von den Seiten schüttelte und auf den Teppich patschte. Wie es meinem Vater gelungen war, sie danach wieder halbwegs zusammenhangsvoll in die Bände zu legen, ist mir ein Rätsel, jedenfalls finde ich heute den Vermerk »Das Kapital als Kommando über unbezahlte Arbeit« im Abschnitt »Der Arbeitslohn« und eine Notiz »gelbe Filzstifte, Quelle-Fotos, DAK, Zahnarzt« in »Der Sozialismus des Herrn Bismarck«. Der unter Schmidt begonnene, unter Kohl fortgeführte Annäherungskurs an den Sozialismus des Herrn Honecker und an unseren östlichen Nachbarn DDR imponierte mir derweil wenig, und nach dem Grund für die Spannungen zwischen DDR und BRD würde ich mich erst Jahre später erkundigen.

Im Sommer 1986 glaubten meine Eltern die Wolken von Tschernobyl endlich so weit zerstoben, dass ich wieder im Garten spielen durfte. Auf den Stufen unserer schmalen Terrasse versuchte ich, einen Regenwurm in einen hohlen Schlumpfbaum zu locken, und wollte wissen, wie die Menschen in China lebten. Da viele der Spielsachen, die besonders weich und quetschbar waren – Plastikpuppen, Gummilandschaften, aufgeplusterte Fantasietiere –, den Aufdruck Made in China trugen, genoss dieses Land bei mir ein hohes Ansehen, bei meinen Eltern erstaunlicherweise nicht.

Mein Vater war am Fensterputzen, wrang den Lappen über dem Eimer aus und erklärte mir, die Menschen dort hätten weniger Freiheiten als wir. Ich bohrte mit der zermürbenden Fragemethode kleiner Kinder (Warum? Warum?) so lange nach, bis wir schließlich beim Kern des Konflikts angelangt waren.

Es gab laut meinem Vater jenseits des Eisernen Vorhangs, den ich mir wie bei einem überdimensionierten Kasperletheater vorstellte, eine andere Idee davon, wie Arbeit und Besitz funktionierten. Das betraf neben China auch die Sowjetunion und die DDR. Grundsätzlich lehnten wir in Westdeutschland alle drei Länder aus demselben Grund ab, es herrschte dort nämlich Kommunismus, und zwar eine eher trübe Form davon. Man nannte sie »real existierend«.

Was das bedeutete, wollte ich wissen. Den Regenwurm hatte ich mittlerweile aus den Augen verloren, und so wusste ich nicht, ob er sich so weit in den hohlen Baum verkrochen hatte, dass ich ihn nicht mehr sah, oder ob er ins Gras entkommen war.

»Im Kommunismus gehört allen alles«, erklärte mein Vater, »und kein Mensch wird zur Arbeit gezwungen, weil keiner über dem anderen steht.«

»Ist doch viel besser als hier«, fand ich. Mein Spielzeug müsste ich zwar teilen, aber dafür stünden mir alle nur erdenklichen Errungenschaften der Spielzeugerfinder offen, wie in der Werkstatt des Weihnachtsmanns, und meine Eltern hätten mehr Zeit für mich, weil sie nicht ständig Turngruppen unterrichten oder in Sozialeinrichtungen Sägearbeiten mit ihren Klienten machen müssten.

»In der Theorie: Ja. In der Praxis wartest du ewig auf das, was allen gehört, und dann funktioniert es nicht mal«, erklärte mein Vater.

»Das glaube ich nicht«, setzte ich mit der Autorität einer Vierjährigen dagegen.

»Haben wir etwa Spielzeug aus der DDR?«

»Aber aus China!«

Mein Vater murmelte irgendwas von Holzbausteinen und verschwand im Haus.

Hana Gründler erzählte mir von dem Moment, als sie zum ersten Mal in den frühen 80er-Jahren die »Gefahr des Politischen« spürte, wie sie es nennt. Gründler ist eine der Gesprächspartnerinnen, die ich im Frühjahr 2021 traf, um über unsere Generation zu diskutieren. Die studierte Philosophin lehrt heute als Professorin für Kunstgeschichte in Florenz und forscht zur Verschränkung von Politik und Ästhetik. Durch ihre tschechische Mutter sind die Diktaturen des ehemaligen Ostblocks Teil ihres Forschungsinteresses geworden. Gründler war damals noch ein Kind, und das Gefühl der Gefahr setzte an der Grenze zur damaligen Tschechoslowakei mit einer Veränderung der Sprache ein. Sie betraf nicht das Tschechische an sich, die Sprache ihrer Mutter, die Gründler auch verstand, sondern die Art, wie gesprochen wurde. Wenn überhaupt jemand sprach.

»Ich betrat einen öffentlichen Raum, der durch Nichtsprache gekennzeichnet war«, erzählt Gründler. Plötzlich schied sich die private Sphäre, in der ein kritisches Sprechen über die herrschenden Verhältnisse in der CSSR normal war, von der öffentlichen, in der man auf keinen Fall etwas Falsches sagen durfte. »Während wir in der U-Bahn saßen, hatte meine Mutter Angst, dass ich aussprechen würde, was zu Hause geredet wurde. In der Schweiz war ich nicht so erzogen worden, dass ich diese Vorsicht kannte. Ich war wie ein Fremdkörper, weil ich aus einem demokratischen Land kam. Damals konnte ich es nicht einordnen. Aber ich erinnere mich: In der U-Bahn sprach niemand.«

So legt sich das Schweigen in die Diktatur, wenn niemand mehr sicher weiß, wer mit welcher Absicht mithört. Dass mein Vater im Sommer 1986 so entschieden die marxistischen Ideen ablehnte, die er immerhin einmal gründlich studiert hatte, hing aber nicht nur mit dem Schweigen jenseits des Eisernen Vorhangs zusammen. Der Soziologe Andreas Reckwitz analysiert die westliche Nachkriegsära anhand von politisch-gesellschaftlichen Paradigmen, die für einige Jahrzehnte im linken wie im rechten politischen Milieu leitend gewesen seien, in ihrer konservativen Ausprägung auf der einen und in ihrer progressiven auf der anderen Seite. Teils aufgrund ihres eigenen Erfolgs, so Reckwitz, gerieten die Paradigmen irgendwann in eine Krise und gäben nicht mehr die richtigen Antworten auf neue Herausforderungen.

An solch einem Punkt befanden wir uns Mitte der 80er-Jahre, mit einem Fuß bereits im »apertistischen«, also sich öffnenden Liberalismus, mit dem anderen noch im sozial-korporatistischen Wohlfahrtsstaat, der seit der unmittelbaren Nachkriegszeit prägend war. Antiautoritäre Studentenproteste der späten 60-Jahre, dann in den 70er-Jahren die Ölkrise und das Ende von Bretton Woods, der durch den US-Doller stabilisierten Währungsordnung der Nachkriegszeit, hatten im Westen die politischen und ökonomischen Schwächen des alten Systems offengelegt. Doch auch in sozialistischen Ländern zeigten sich immer deutlicher Risse.2

In jenen Jahren, in denen Kohl und Genscher die Bundesrepublik auf einen wirtschaftsliberalen Kurs brachten und in Großbritannien der Thatcherism die Gesellschaft umstrukturierte, die überregulierenden Strukturen aufbrach und abbaute, glaubte auch mein Vater nicht mehr an die Versprechen des Marxismus. Nicht einmal von den Ideen des Eurokommunismus...

Erscheint lt. Verlag 24.2.2022
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 9/11 • AfD • Baerbock • Baerböck • Bundesregierung • CDU • Corona • CSU • FDP • Grüne • Harbeck • Kriege • Krise • Lindner • Merkel • Party • PEN • SPD • Überforderung
ISBN-10 3-8437-2705-8 / 3843727058
ISBN-13 978-3-8437-2705-1 / 9783843727051
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