Konflikt (eBook)

Von der Dringlichkeit, Probleme von morgen schon heute zu lösen | Der Starphilosoph zu den Herausforderungen unserer Zeit
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
272 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2688-7 (ISBN)

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Konflikt -  Armen Avanessian
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»Eine der wichtigsten Stimmen der linken Theorie« Philosophiemagazin Unsere Welt, wie wir sie kennen, droht zu verschwinden. Doch statt uns aktiv mit den Herausforderungen auseinanderzusetzen, winden wir uns aus ihnen heraus. Armen Avanessian fordert: Wir müssen die Gegenwart aus der Zukunft betrachten. Nur wenn wir heute zu Konflikten bereit sind, wird es ein Morgen geben. Unser Zeitalter ist geprägt von völlig neuen Konfrontationen, die die gesellschaftliche Ordnung bedrohen und uns überfordern. Kaum ein Bereich, der nicht voller Konflikte beschrieben wird: zwischen den Geschlechtern und Generationen, zwischen Zivilisationen und Kulturen - und natürlich sind wir auch mit uns selbst uneins. Gelichzeitig macht sich eine zunehmende Konfliktscheu oder gar Konfliktverdrängung breit. Mehr noch: Schon längst formen die Konflikte der Zukunft die Gegenwart und rasen achronologisch und exponentiell auf uns zu. Armen Avanessian gibt dieser Dynamik erstmals einen wissenschaftlichen Rahmen. Er entwickelt konkrete Anleitungen für einen Umgang mit ihr und nimmt die Zukunft in den Fokus. Denn es braucht den Blick auf das, was kommt, um schon heute zu intervenieren.

Armen Avanessian, geboren 1973 in Wien, ist Philosoph, Literaturwissenschaftler und politischer Theoretiker. Er war Gastprofessor an verschiedenen Kunstakademien und Universitäten, u.a. in Nürnberg, Hamburg, Kopenhagen und Paris. Von 2017 bis 2021 leitete er die beliebte Veranstaltungsreihe »Armen Avanessian & Enemies« im Roten Salon der Berliner Volksbühne. Seit August 2021 ist er Professor für Medientheorie an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen.

Armen Avanessian, geboren 1973 in Wien, ist Philosoph, Literaturwissenschaftler und politischer Theoretiker. Er war Gastprofessor an verschiedenen Kunstakademien und Universitäten, u.a. in Nürnberg, Hamburg, Kopenhagen und Paris. Von 2017 bis 2021 leitete er die beliebte Veranstaltungsreihe »Armen Avanessian & Enemies« im Roten Salon der Berliner Volksbühne. Seit August 2021 ist er Professor für Medientheorie an der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen.

1.

Von Autoimmun- bis Zivilisationskrankheiten: Konfliktbiologie und Konfliktmedizin

Wo sonst sollte eine Untersuchung der These einer Allgegenwärtigkeit von »Konflikten« beginnen als mit einem Blick auf die elementaren Vorgänge des Lebens überhaupt? Nicht erst in Zeiten von Pandemien deutet schon unsere alltägliche Erfahrung mit uns selbst und unserer eigenen Körperlichkeit darauf hin, dass in der Welt nicht immer alles harmonisch zugehen kann. Zwei unsere moderne Welt besonders prägende Beispiele sind hier einerseits die sogenannten »Zivilisationskrankheiten«, bei denen ein Körper in Spannung mit seinen kulturellen Bedingungen gerät, sowie andererseits Autoimmunerkrankungen, in denen ein Körper gegen sich selbst agiert. So kann nämlich einerseits unsere evolutionäre Disposition quer stehen zu unseren zeitgenössischen Lebensgewohnheiten, andererseits sind es (Auto-)Immunprozesse, mittels derer zuallererst so etwas wie Identität hergestellt, also Fremdes von Eigenem unterschieden wird.

Verschärft tritt das naturgemäß dort auf, wo sich überhaupt erst neues Leben herausbildet. So stehen auch die Vorgänge um Schwangerschaft und Geburt im erweiterten Spannungsfeld der Immunologie. Grund genug, uns zunächst einmal Klarheit über den Begriff der »Immunität« zu verschaffen. Denn während der Begriff aus der Biologie heraus eine Metapher für die Beschreibung sozialer und politischer Verhältnisse liefert, schwankt seine Verwendung innerhalb der Medizin selbst zwischen verschiedenen Paradigmen, grob gesagt einem eher harmonischen und einem nicht selten mit kriegerischer Metaphorik belegten. Dabei wird es am Ende bei der Frage nach der Bedeutung der Autoimmuntoleranz für die Vorstellung von Selbstidentität vor allem darum gehen, diese Grenzen gerade nicht mit voller Schärfe zu ziehen, sondern vielmehr Selbst und Anderes, Eigenes und Fremdes auf produktive Weise ineinanderfließen zu lassen.

Kurzes ABC der Konfliktkrankheiten

Adipositas, Aids, Allergien, Anämie, Anorexie, Bandscheibenvorfälle, Bluthochdruck, Blinddarmentzündung, Bulimie oder neuerdings diverse Coronavirus-Erkrankungen wie SARS, MERS und zuletzt Covid-19 – diese alphabetische Liste an Krankheiten, die allesamt auch als »Zivilisationskrankheiten« identifiziert worden sind, ließe sich noch lange fortsetzen. Was sie alle teilen sollen, ist der Ausdruck einer notwendigen Unvereinbarkeit zwischen unserer evolutionär herausgebildeten genetischen, anatomischen oder biologischen Disposition und unseren modernen Lebens-, Reise- und Konsumgewohnheiten. Die Volkskrankheiten Kurzsichtigkeit oder Rückenschmerzen wären somit nicht einfach das Resultat einer räumlichen Veränderung oder Verengung (von der Steppe in enge Wohn- und Büroräume), sondern auch Symptom gänzlich unvermittelbarer oder konfligierender Zeitlichkeiten. Wir verfügen demnach schlichtweg nicht über eine ausreichend schnelle anatomische Anpassungsfähigkeit, um mit den von uns produzierten gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen auch biologisch Schritt halten zu können. Damit kommt es zu einer Kollision unvereinbarer Temporalitäten. Dem Humangenetiker Werner Buselmaier zufolge tragen wir »archaische Gene in uns, die in Konflikt geraten mit den Erfordernissen« der gegenwärtigen und »zukünftigen Welt«.25 Wir sehen uns mit unserem steinzeitlichen Genom also einer kulturellen Entwicklung ausgesetzt, die eine fundamentale Veränderung unserer Ernährungs-, Arbeits- und sonstigen Lebensgewohnheiten mit sich gebracht und uns von »steinzeitlichen« Lebensverhältnissen weit entfernt hat.

Im Zuge der Corona-Pandemie scheint außerdem allmählich die Aufmerksamkeit dafür sensibilisiert worden zu sein, dass wir sowohl mit einer stetigen Zunahme an Infektionskrankheiten konfrontiert sind als auch mit der Rückkehr von Krankheiten wie Tuberkulose, die einst als (fast) vollständig besiegt erachtet wurden.26 Und nicht nur in linken oder systemkritischen Kreisen führen Epidemien regelmäßig dazu, dass die Selbstverständlichkeiten unserer globalisierten Existenz und die mit ihr verbundenen Lieferketten, Massentierhaltung und Zerstörung von Lebensräumen infrage gestellt werden.

Zu diesen Diskrepanzen auf der Makroebene kommen analoge im mikroskopischen Bereich, wofür wiederum Covid-19 ein eindringliches Beispiel darstellt. Bekanntlich besteht eine tückische Eigenschaft von Coronaviren darin, dass sie sich lange vor den Abwehrmechanismen eines infizierten Körpers »verstecken« können. Fast noch gravierender ist eine Verwirrung von Eigenem und Fremdem, die sowohl zu Überreaktionen als auch damit verbunden zu Schäden einzelner Organe (im Fall von Covid-19 etwa von Lunge und Herz) führen kann. Der Immunapparat wird auf eine Weise getäuscht und überlistet, dass er sich bisweilen sogar gegen sich selbst wendet. Der Mechanismus dieser Umprogrammierung und innerkörperlichen Eskalation wurde oft im Kontext von HIV / Aids thematisiert, ist aber auch das Muster von vergleichsweise harmlosen Zivilisationskrankheiten wie Allergien. Auch bei Allergikern kommt es aus medizinischer Sicht »zu einer überschießenden Reaktion gegen neue Feinde, in unserer doch so hygienisch und sauber angelegten Umgebung durch ein System, das evolutionär eigentlich für Parasiten, insbesondere Würmer angelegt ist. Dies ist ein Beleg dafür, dass sich das Immunsystem über viele Millionen Jahre gebildet hat, in welchen der Mensch eben unter schmutzigeren Bedingungen überleben musste. Ausgerechnet unsere heutigen Hygienestandards können uns also auch krank machen.«27

Schon einige Jahrzehnte zuvor hatte der postmoderne Provokateur Jean Baudrillard diesen Gedanken bereits zu einer gattungs- und kulturgeschichtlichen Prophezeiung ausgeweitet, die gar keinen Unterschied mehr macht zwischen Pollenallergien und Vireninfektionen, sozialen und technologischen Systemen: »In der viralen Dimension wird man von den eigenen Antikörpern zerstört. Das von der Leukämie befallene Wesen verschlingt seine eigenen Abwehrkräfte, eben weil es keine Bedrohung, keine Gegnerschaft mehr gibt. Die absolute Prophylaxe ist tödlich. […] Solchermaßen sind wir alle dabei, unsere Abwehrkräfte zu verlieren: virtuell Immunschwache zu sein.«28 Gemäß diesem desinfektionspathologischen Paradox laufen wir also Gefahr, unter der Herrschaft des Virus von den eigenen Antikörpern zerfleischt zu werden. Die imaginäre Auslöschung aller Viren, der obsessive Ausschlussversuch biologischer oder innerkörperlicher Konflikte, das Ansinnen, möglichst sämtliche Krankheiten präventiv zu vermeiden, erhöht aus dieser Perspektive nachgerade ihre Wahrscheinlichkeit oder schwereren Verlauf. Und zwar zunächst einmal deshalb, weil die »natürlichen« immunologischen Abwehrkräfte schwinden, in der Folge aber auch, weil etwa die vorschnelle Verabreichung von Antibiotika, die unter anderem die für die Immunabwehr des Körpers lebenswichtige mikrobiotische Darmflora schädigen, zunehmend zu einer entsprechenden Resistenz von bakteriellen Erregern führt – die wiederum den durch Viren oder überhaupt Krankheiten geschwächten Körper leichter angreifen können. (Zu ergänzen ist hier freilich, dass neben einer exzessiven Prophylaxe auch ein ungesunder Lebenswandel oder schädliche Umwelteinflüsse die Immunabwehr schwächen und Autoimmunerkrankungen begünstigen können.)

Während der Covid-Pandemie wurde das sogenannte Präventionsparadox diskutiert: die Tatsache, dass wir, gerade weil die Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung des Virus Erfolg hatten, daran zweifeln, ob diese Maßnahmen wirklich notwendig waren.29 Auf der Ebene unseres Immunsystems kommt das hinzu, was wir als Präemptionsparadox bezeichnen können: Durch exzessive Präventionsanstrengungen wird das zu Verhindernde gerade hergestellt.30 Je größer der medizinische Aufwand, um eine Person oder Gesellschaft »künstlich« gesund zu erhalten, umso anfälliger für Krankheiten wird diese. Oder mit Blick auf das uns interessierende Paradox einer gleichzeitigen Ubiquität von Konflikten und Konfliktscheu formuliert: Das vorschnelle Ausweichen sowie das Phantasma einer (vollständigen) Vermeidbarkeit angstbesetzter Situationen produziert oft gerade jene Situationen, die verhindert werden sollten, bzw. steigert ihre Vehemenz.

(Auto-)Immunität: die Geburt des Menschen im Zeichen des Konflikts

Die Biolog:innen zufolge fundamentale Bedeutung von Konflikten ist aber nicht auf das Verständnis von Krankheit als einem alltäglichen »Konflikt zwischen Spezies« (Mensch gegen Pathogen)31 beschränkt, sondern sie zeigt sich auch in den wissenschaftlichen Debatten über die Genese der Spezies selbst und ihrer einzelnen Individuen. Auch die ersten Monate von Kindern oder ihre spätere Integration in komplexe soziale Gebilde sowie alles mit der Entstehung von Menschen Zusammenhängende wurde schon als Konfliktgeschehen beschrieben. Dazu zählen die Zeit der Schwangerschaft ebenso wie der Vorgang der Geburt und selbst die Menstruation, die Barbara Ehrenreich zufolge das genaue Gegenteil eines sanften »Vergießens« darstellt.32 Aus Sicht der feministischen Theoretikerin gilt, dass »sich der Konflikt im Körper – zwischen Zellen und deren Geschwistern im selben Organismus – nicht auf krankhafte Veränderungen wie Krebs- oder Autoimmunerkrankungen beschränkt, wo er auf eine Mutation zurückgeführt oder als ›Fehler‹ bezeichnet werden kann.«33 Vielmehr kommt dieser biologischen...

Erscheint lt. Verlag 27.10.2022
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Ambivalenzunfähigkeit • Asymetrische Kriegsführung • cancel culture • Freud • Georg Simmel • Hegel • Identitätspolitik • Kant • Klimawandel • Konflikt • Konfliktbewältigung • Konfliktfähigkeit • Konfliktherde der Gegenwart • Konfliktphobie • Konfliktsoziologie • Konfliktverständnis • Max Weber • Nietzsche • Ralf Dahrendorf • Rassenkonflikt • Umgang mit Konflikten
ISBN-10 3-8437-2688-4 / 3843726884
ISBN-13 978-3-8437-2688-7 / 9783843726887
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