Krisenkinder (eBook)
416 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-28837-2 (ISBN)
Schulen geschlossen, Spielplätze abgesperrt, Treffen mit Freunden und Besuche bei den Großeltern kaum möglich: Nach zwei Jahren Pandemie beginnt sich abzuzeichnen, welche Folgen der lange Ausnahmezustand für Kinder und Jugendliche hat. Hier erzählen sie selbst, wo sie sich allein gelassen und abgehängt fühlen, aber auch, welche Chancen sich für sie ergeben haben. Untermauert mit zahlreichen aktuellen Studien, Expertenaussagen und Best-Practice-Beispielen ist dieses Buch ein Wegweiser für Eltern, Erzieher und Lehrer, wie wir unsere Kinder unterstützen können, und zugleich ein Appell an die Politik, ihre Haltung zu Kindern grundsätzlich zu überdenken.
Silke Fokken, Jahrgang 1972, ist Redakteurin im SPIEGEL-Ressort Deutschland/Panorama, Schwerpunkt Bildung. Sie hat Neuere deutsche Literatur, Publizistik und Politikwissenschaft in Münster und Berlin studiert (mit Zwischenaufenthalt in Großbritannien). Nach einem Volontariat beim SFB arbeitete sie zunächst beim RBB-inforadio, danach viele Jahre als freie Journalistin, unter anderem für die Deutsche Presse-Agentur und die ZEIT. 2016 fing sie bei Spiegel Online an. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.
Die Krise als Risiko für die kindliche Entwicklung
Menschen sind nicht dafür geschaffen, allein zu sein, Kinder schon gar nicht. Hätte es eines Experiments bedurft, um diese These zu beweisen, hätte sich die Wissenschaft kaum ein überzeugenderes Setting ausdenken können als monatelange Kita- und Schulschließungen, zusätzlich massive Kontaktbeschränkungen. Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen, Großeltern, Freunde, Nachbarn, die Erzieherin, den Lehrer, die Fußballtrainerin oder den Physiotherapeuten, bitte alle nicht treffen. Die Kleinfamilie möge unter sich bleiben.
Von Cocooning – auf Deutsch: verpuppen, sich einspinnen – ist in der Biologie die Rede, wenn Raupen einen Kokon um sich herum bilden, um dann später, vollständig verwandelt, als Schmetterling in die Welt zu fliegen. Den Begriff »Cocooning« prägten aber auch Trendforscher6 und meinten damit, dass sich Menschen vermehrt in die eigenen vier Wände zurückziehen, die unter Umständen als bedrohlich wahrgenommene Umwelt aussperren, ihr gar Gleichgültigkeit entgegenbringen, es sich drinnen gemütlich machen.
Schon vor Corona war in Teilen der Bevölkerung immer mal wieder eine Tendenz zum Cocooning zu beobachten. Während der Pandemie jedoch zogen sich Millionen Menschen zurück. Der Rückzug wurde von der Politik über weite Strecken verordnet, mindestens angemahnt. #zuhausebleiben galt für die gesamte Bevölkerung zwecks Eindämmung der Infektionsgefahr als Leben rettende Maßnahme.
Zu den unfreiwilligen Heldinnen und Helden gehörten in diesem Szenario Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern, die mit der Isolation, mit dem Verzicht auf ihr normales Leben, einen wesentlichen Beitrag leisten sollten, damit sich das Coronavirus nicht weiter in der Bundesrepublik ausbreitete. Von Anfang an war jedoch absehbar, Kinder und Jugendliche würden von dem »Kampf gegen die Pandemie«, wie es im Politikerjargon hieß, Verletzungen davontragen.
»Eine gesunde Entwicklung ist im Idealfall eben nicht reduziert auf den Mikrokosmos Kleinfamilie, sondern eingebettet in mehrere Systeme, die gut aufeinander abgestimmt sind«, sagt Claudia Friedrich, Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Tübingen. Eltern, Familie, Kita, Schule, Freunde – alle bilden das berühmte »Dorf«, das es laut einem afrikanischen Sprichwort braucht, um ein Kind großzuziehen. Fällt dieses Dorf weg, steigt das Risiko für eine ungesunde Entwicklung erheblich. Der Münchner Kindermediziner Johannes Hübner warnte: »Die Kollateralschäden für Kinder durch die Schulschließungen sind enorm.« So entstünden Defizite durch verpassten Schulstoff, es gebe negative Auswirkungen auf die Entwicklung. Man beobachte zudem eine »erschreckende Zunahme von Kindesmisshandlung und – missbrauch«7.
Wie schwer die Verletzungen der Pandemie bei einzelnen Kindern und Jugendlichen sind, fällt in der Bilanz sehr verschieden aus und hängt stark von den Menschen und ihren Lebensumständen ab. Meine Gespräche mit Kindern und Jugendlichen zeigen ebenso wie Studien, dass einige von ihnen die Belastungen besser abfedern konnten, manche sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen, während andere unter den Folgen leiden, teils massiv.
Bisher lässt sich nur ahnen, welchen Abdruck Corona in ihrem späteren Leben hinterlässt und was die Krise gesamtgesellschaftlich verändert hat. Fest steht schon jetzt, dass die Pandemie soziale Unterschiede und Ungerechtigkeiten offenbart und verschärft hat und dass sie – unabhängig davon – stark in die altersgerechte Entwicklung aller Kinder und Jugendlichen eingegriffen hat.
Exkurs: Die Entdeckung der Kindheit
Mit Blick auf die Menschheitsgeschichte ist die Erkenntnis, die frühen Jahren seien besondere im Leben eines Menschen, noch neu. Über Jahrtausende wurden Kinder als kleine Erwachsene gesehen und als Arbeitskräfte eingesetzt. Im Mittelalter ging man davon aus, dass die frühen Jahre eine »Übergangszeit waren, die schnell verging und die man schnell vergaß«, wie Philippe Ariès in Geschichte der Kindheit8 schrieb. Erst ab dem 15./16. Jahrhundert bildete sich demnach langsam die »Familie«, wie wir sie heute kennen, als Lebensgemeinschaft von Eltern und Kindern mit engen Beziehungen aus.
Eine moderne Vorstellung von Kindheit, wonach Kinder besonderen Schutz benötigen und Raum, um sich frei zu entwickeln, entstand etwa ab dem 17. Jahrhundert. Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau schuf dazu mit Émile oder Über die Erziehung ein Werk, auf dem viele spätere Gedanken aufbauten. Er betonte darin, dass Kindheit eben »kein bloßes Durchgangsstadium zum Erwachsensein ist«9.
Rousseau rief dazu auf, der kindlichen Entwicklung möglichst ungestörten Lauf zu lassen, frei von den Zwängen der Erwachsenen. Bei der Erziehung sei »an den kindlichen Zustand zu denken«, aus dem der Mensch sich erst allmählich entwickele.10 Danach schufteten zwar zahlreiche Kinder weiter in Bergwerken und Fabriken, aber der Gedanke an die Besonderheit des »kindlichen Zustandes« war gepflanzt.
Im 18. und 19. Jahrhundert rückten Kinder und die Kindheit verstärkt in den Fokus. In der Folge setzten sich zahlreiche Reformpädagoginnen und – pädagogen wie die Italienerin Maria Montessori (1870–1952) mit der kindlichen Entwicklung auseinander. Die Medizinerin ging etwa von einer von der Tierwelt auf den Menschen übertragenen Theorie »sensitiver Perioden« aus, wonach in Kindern eine Art innerer Konstruktionsplan angelegt ist: Ihr Interesse richte sich auf Gegenstände, die sie jeweils gerade für ihr geistiges Wachstum brauchen. Erwachsene sollten die nötigen Impulse liefern.11
Der Schweizer Jean Piaget (1896–1980) stellte später ebenfalls Thesen auf, wonach kindliches Lernen in Stadien verläuft. Die Entwicklung vollzieht sich demnach im Austausch des Kindes mit seiner Umwelt. Die jeweils höhere Stufe setzt die vorangehende voraus, kann also nicht übersprungen werden.12 Piaget gilt als Pionier der Entwicklungspsychologie, die bis heute grundsätzlich an solchen Modellen festhält.
Man muss sich dies in Erinnerung rufen, weil zu Beginn der Corona-Pandemie von vielen Menschen nicht verstanden wurde, warum Kinder angesichts der massiven Kontaktbeschränkungen eine »vulnerable Gruppe« sein und warum sie Schaden davon tragen könnten, nur weil sie für längere Zeit auf das Leben mit ihren Eltern zurückgeworfen waren. In manchem Leserbrief an den SPIEGEL klang völliges Unverständnis durch, mitunter sogar der Vorwurf, den Eltern sei einfach die Betreuung zu anstrengend. Man ignorierte, dass Kinder in einer besonderen Lebensphase getroffen wurden.
Der Kontakt zu Gleichaltrigen etwa ist »nicht nur für das Wohlbefinden von Kindern zentral«, sagt die Entwicklungspsychologin Friedrich, »sondern auch für ihre altersgerechte Entwicklung.«
Schmerzlich vermisst:
Freundinnen und Freunde
Eine Doppelhaushälfte in Frankfurt am Main: Ludwig, 9, erzählt, dass sein allererster und bester Freund aus der Kindergartenzeit sich während der Pandemie fast nur noch mit einem anderen Jungen getroffen habe. »Wegen Corona.« Man merkt, wie schwer Ludwig das gefallen ist. Er sitzt neben seiner Schwester Felicitas, 7, auf dem Sofa, wenige Wochen nachdem das neue Schuljahr in Hessen wieder angefangen hat, und lässt mit ihr die Corona-Zeit Revue passieren.
Felicitas sagt, sie habe ihre beiden besten Freunde nur noch »sehr, sehr selten« gesehen, obwohl die in der Nähe wohnen. Sie hätte gerne zu dritt gespielt, so wie sonst, »zum Beispiel dass wir draußen sind, und der Boden ist aus Wasser, und überall sind Haie«. Im Distanzunterricht habe sie zwar oft Pause machen können, »aber ohne Freunde. Da war ja keiner.« Felicitas guckt weg, als sie das sagt. Sie habe ihre Freunde schon sehr vermisst. Das ist für sie im Rückblick auf die bisherige Corona-Zeit der wundeste Punkt.
Sich vor Haien in Sicherheit bringen macht allein keinen Spaß, wie so vieles andere. Was besser geht, ist Barbie spielen. Puppen miteinander sprechen, streiten und lachen lassen. Das war Felicitas liebstes Spiel während der Corona-Zeit und ist es immer noch, wie sie sagt. In einem extra Spielzimmer steht ihr Barbie-Haus, fast genauso groß wie sie selbst. Zwei große Barbies und eine kleine sollen hier wohnen. Mutter, große Schwester und kleine Schwester. »Ich habe zwar auch Ken, aber der spielt nicht mit«, erklärt Felicitas, zeigt den Barbie-Mann kurz her, wirft ihn dann wieder in die Spielkiste.
Sie hat neben Ludwig noch zwei Brüder, Maximilian, 5, und Leopold, 10. Der Kleine sitzt zwei Meter von seiner Schwester entfernt vor einer Playmobilburg. Die beiden Großen lesen oben in ihrem Kinderzimmer Comics. Ob sie sich gut mit ihren Brüdern versteht? »Ja, und so stören sie ja nicht.« Dass sie Geschwister hat, findet Felicitas gut. Sie spiele schon manchmal mit ihnen. Sie selbst wolle später mal acht Kinder haben. Nur, Brüder sind eben Brüder. Freundinnen und Freunde können sie nicht ersetzen.
In allen Gesprächen mit den Kindern und Jugendlichen ist die Trennung von den Freunden, die Sorge um Freundschaften die schmerzlichste Erinnerung im Rückblick auf die Corona-Maßnahmen. Das gleiche Bild zeigt sich in Umfragen: Dass...
Erscheint lt. Verlag | 21.3.2022 |
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Zusatzinfo | mit ca. 10 Grafiken |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2022 • Bewegungsmangel • Bildungspolitik • Buch Pandemie • Bundesschülerkonferenz • Copsy-Studie • Corona-Krise • Digitalisierung der Schulen • Distanzunterricht • eBooks • Homeschooling • Jutta Allmendinger • Kindergarten • Kinderpsyche • Kinderrechte • Krisenbewältigung • Lerndebatte • Lerndefizite • Lernrückstand • lockdown • Medienkonsum • Neuerscheinung • Pädagogik • Präsenzunterricht • Psychische Auffälligkeiten • Psychologie • Ratgeber Kinder Corona • schlafstörungen kinder • Schulabstinenz • Schulangst • Schüler • Schulkonzepte • Schulschließungen • sozialer Rückzug • Tagesstruktur • Wechselunterricht • Zukunftsangst |
ISBN-10 | 3-641-28837-1 / 3641288371 |
ISBN-13 | 978-3-641-28837-2 / 9783641288372 |
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