Hello, Stranger (eBook)
Angesichts der Erfahrungen aus der Pandemie und der damit erzwungenen Einsamkeit, aber auch im Lichte der globalen Migrationsströme bringt Will Buckingham in seinem Buch eine Vielzahl an Erkenntnissen aus Philosophie, Anthropologie, Geschichte und Literatur zusammen. Er zeigt uns, wie unsere Traditionen der Begegnung mit anderen die Probleme unserer Zeit entschärfen können. Mit großer Lust am Erzählen und berührenden Geschichten über Einsamkeit, Exil und Freundschaft - von der Antike bis in unsere Zeit, von Birmingham bis Myanmar - fragt er sich, wie wir unsere instinktive Fremdenfeindlichkeit beiseitelegen und stattdessen unserer ebenso angeborenen Neugier auf das Andere, das Fremde, das Neue, Geltung verschaffen können.
Will Buckingham, Jahrgang 1971, ist ein wandernder Akademiker. Er trägt einen Doktortitel in Philosophie, einen Mastertitel in Anthropologie und bei Gelegenheit auch einen Rucksack. Er lebte lange Zeit zu gleichen Teilen in Südostasien und Großbritannien. Er hat bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht, erzählerische, philosophische, und solche, von denen man gemeinhin glaubt, sie seien »nur für Kinder«. Derzeit ist er in Bulgarien unterwegs.
Einleitung
Es war ein wolkenverhangener Tag Anfang August. Am Vormittag kam ich zurück nach Hause, betrat den Flur und rief nach dem Kater, der mich mit einem Miauen begrüßte und auf mich zu tappte. Ich beugte mich zu ihm hinab und streichelte ihn. In der zurückliegenden Woche hatte ich mich kaum um ihn gekümmert. Die letzten sieben Tage hatte ich bei Elee im Hospiz verbracht und war nur hin und wieder nach Hause gefahren, um ihn zu füttern. Jetzt hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn so vernachlässigt hatte. Ich schloss die Haustür und ging in die Küche. Der Kater folgte mir, neugierig und hungrig.
Auf der Arbeitsfläche stand eine große Plastikschüssel mit vegetarischem Kedgeree; ein Freund hatte es vorbeigebracht, der einen Schlüssel für das Haus besaß. Damals hatten viele unserer Freunde einen Schlüssel, ich wusste schon gar nicht mehr, wer alles. Auf dem Deckel lag ein Zettel mit einer handschriftlichen Notiz: Falls du keine Lust hast zu kochen.
Ich sah hinaus in den Garten hinter dem Haus. Die Sonne schob sich allmählich zwischen den Wolken hindurch. Ich dachte daran zurück, wie Elee gut eine Woche zuvor unser gemeinsames Heim in aller Eile verlassen hatte, ohne irgendetwas mitzunehmen. Wir hatten geglaubt, sie wäre nach ein paar Stunden im Krankenhaus wieder zu Hause. Wir hatten gedacht, uns blieben noch viele Tage, ja sogar Wochen, bevor es zu Ende gehen würde. Doch als wir im Krankenhaus ankamen, brachte man sie direkt auf die Aufnahmestation. Von dort wurde sie ins Hospiz verlegt, und Elee kam nie wieder zurück.
Nach der Woche im Hospiz war ich völlig erschlagen. Ich hatte auf einem Stuhl neben ihrem Bett geschlafen, ihre Hand gehalten, sie betrachtet, während ihre Gedanken wanderten und sich verloren, und auf das Ende gewartet. Jetzt war sie nicht mehr da, ich war wieder zu Hause, und das Haus war leer. Ich war zu erschöpft, um zu weinen. Ich brauchte Schlaf. Dreizehn Jahre gemeinsamen Lebens, und jetzt diese Leere. Noch kannte ich die Trauer nicht, die Wogen, in denen sie kommt und geht. Ich konnte nur abwarten, was sie in mir auslösen würde, was für einen Menschen sie aus mir machen würde.
Am Nachmittag informierte ich unsere Freunde und Familien. Auch auf Facebook postete ich, dass Elee gestorben war. Eine Flut an Nachrichten war die Folge, von Freunden, aber auch von Leuten, die ich nicht kannte. Ich war dankbar für so viel Anteilnahme, aber es war zu viel. Ich antwortete auf einige der Nachrichten, klappte den Laptop zu und fragte mich, was ich jetzt mit mir anfangen sollte.
Wenn wir trauern, so die Dichterin Naja Marie Aidt, setzen wir »keine Hoffnungen in die Zukunft, wir können uns keine Zukunft mehr vorstellen oder sie spüren. Wir können nicht eine Stunde, Viertelstunde, Minute vorausschauen. Wir können nichts planen. Wir befinden uns in einer zukunftslosen Zeit.«1 Die Trauer lähmt uns, sie raubt uns die Zukunft. Was tun, wenn die Welt in Trümmern liegt? Mein erster Impuls war, mich zurückzuziehen. Mich in meine Trauer einzurollen wie ein wundes Tier. Sie der Welt vorzuenthalten, als wäre diese Trauer etwas Einzigartiges, etwas Außergewöhnliches, als müsste sie gehütet werden wie ein Schatz – und als gehörte sie nur mir allein. Ich wollte mich zusammenkauern und mich in der Muschelschale des Verlusts verkriechen.
Am Abend kochte ich mir etwas und spielte mit dem Gedanken, mich zu betrinken. Auf dem Sideboard stand eine halb volle Flasche Single-Malt-Whisky. Das sollte reichen. Doch mir war nicht nach Trinken. Ich machte mir ein Glas heiße Milch und ging ins Bett. Der Kater schlich mir nach und schmiegte sich an mich. Am frühen Morgen hatte er genug von meinem Schluchzen und meiner Unruhe und ging wieder nach unten.
Am nächsten Tag saß ich nach einer halb durchwachten Nacht wieder am Esstisch. Ich dachte daran, wo Elee und ich im Lauf der Jahre überall zusammen gewohnt hatten, an die vielen Gäste, die wir empfangen hatten, Freunde, aber auch Fremde. Ich dachte daran, wie Menschen gekommen und gegangen waren, wie durchlässig unser Zuhause immer gewesen war, wie es geatmet hatte.
»Mein Zuhause ist durchscheinend, aber nicht aus Glas«, schreibt der Dichter Georges Spyridaki. »Es hat eher die Natur von Nebelschwaden. Seine Wände ziehen sich zusammen und dehnen sich aus, ganz nach meinen Wünschen. Manchmal hole ich sie ganz nah zu mir heran, wie eine schützende Rüstung … Dann wieder lasse ich die Wände meines Hauses in ihrem eigenen Raum aufblühen, der sich unendlich weit erstreckt.«2
Ich brauchte Raum zum Atmen. Jetzt mehr denn je. Ich musste die Wände um mich herum zusammenziehen und sie sich dann wieder öffnen lassen. Das Einatmen und das Ausatmen des Lebens.
Ich klappte den Laptop auf und postete eine kurze Nachricht. Ich schrieb, dass ich verwundet war. Und wie weh das tat. Aber dass ich mich nicht abkapseln wollte. Sondern mit anderen zusammen sein. Wieder Verbindung aufnehmen.
Kommt vorbei, schrieb ich. Ich koch was.
Ein Verlust reißt ein Loch in die Welt. Er macht uns verwundbar, hinterlässt eine Scharte, eine Lücke. Wir verlieren die Orientierung, die Nadel unseres Kompasses irrlichtert herum. Ein Verlust negiert die Zukunft, denn er blickt nur in die Vergangenheit. Doch kein Verlust raubt uns alles. Und manchmal weht durch diese Lücke, diese Scharte, eine Brise der Erneuerung. Während wir spüren, dass unser Innerstes zerbrochen ist, und unsere eigene Schwachheit erkennen, kommt ein Fremder auf uns zu und umarmt uns, und diese Umarmung stellt die Brücke zu etwas Neuem dar. Die Beziehung zu einem anderen Menschen, schreibt der Philosoph Emmanuel Levinas, ist eine Beziehung, die auf die Zukunft gerichtet ist.3
Einige Tage, nachdem Elee gestorben war, ging ich zu Fuß durch die Stadt. Mein Fahrrad, das ich vor dem Bahnhof abgestellt hatte, war mir gestohlen worden, und ich kochte innerlich angesichts des rücksichtslosen Timings. (»An den Dieb, der mein Fahrrad geklaut hat«, schrieb ich auf Facebook. »Du hättest dir einen besseren Zeitpunkt aussuchen können. Und auch ein besseres Rad.«)
Auf der Straße sprach mich eine fremde Frau an. Sie sammelte Spenden für einen wohltätigen Zweck. Sie war Mitte zwanzig und wirkte offenherzig und gut gelaunt. »Hallo«, sagte sie. »Sie sehen aus, als wären Sie ein netter Mensch. Haben Sie eine Minute Zeit?«
Ich zögerte. Auf ihrer Weste trug sie ein Logo. Sie sammelte Spenden für die Brustkrebsforschung.
»Was wissen Sie über Brustkrebs?«, fragte sie.
Ich hätte lügen können. Oder die Frau einfach stehen lassen. Ich spürte einen Kloß im Hals. Doch dann dachte ich mir: Warum soll ich ihr nicht die Wahrheit sagen? »Viel«, antwortete ich. »Meine Freundin ist vor Kurzem daran gestorben. Sie hat ihre letzten Tage im Hospiz verbracht.«
Die Frau sah mich eine Weile schweigend an. Dann fragte sie: »Wie hieß sie?«
Die Frage überraschte mich. Es war die denkbar einfachste Frage, und ich empfand sie als Geschenk. »Elee«, sagte ich.
Die Frau lächelte und berührte mich am Arm. »Ich glaube, eine Umarmung würde Ihnen guttun«, sagte sie. Dann umarmte sie mich und drückte mich so fest an sich, dass ihre Plastikweste knisterte. Eine Umarmung, die Mitgefühl bekundete, eine gemeinsame Vergewisserung, welche Bürde das Leben sein kann.
»Danke«, sagte ich weinend, den Kopf auf ihre Schulter gelegt. Ich war völlig überwältigt. »Danke vielmals.«
*
In den Tagen und Wochen nach Elees Tod hatte ich die unterschiedlichsten Bedürfnisse. Ich brauchte die Einsamkeit. Ich brauchte meine Freunde, die Menschen, die mir am nächsten standen und ebenfalls einen Verlust erlitten hatten. Ich musste meine eigenen vier Wände wie eine schützende Rüstung ganz nah zu mir heranholen. Und ich musste sie sich ausdehnen lassen, damit Menschen hereinkommen konnten. Zu meiner Überraschung brauchte ich jedoch auch in hohem Maß fremde Leute um mich, Menschen, die noch nie von Elee gehört hatten und weder Ursache noch Beschaffenheit meiner Trauer kannten. Ohne mir dessen bewusst zu sein, hatte ich mein ganzes Leben lang immer wieder den Kontakt zu fremden Menschen, fremden Gedanken und fremden Situationen gesucht. Ich hatte Menschen in mein Haus eingelassen, die ich nie zuvor gesehen hatte, und selbst viel Zeit bei Fremden verbracht. Diese Zusammenkünfte hatten mein Leben nachhaltig geprägt, aber erst nach Elees Tod erlebte ich, dass der Kontakt zu Fremden ein wirksames Gegengift gegen die lähmende Kraft der Trauer sein kann. Die Bedienung im Café, die mich fragte, wie es mir ging (meine Antwort war natürlich gelogen). Die Obsthändlerinnen auf dem Markt (»Na, Schätzchen, wie geht’s, wie steht’s?«). Die anderen Fahrgäste auf dem Bahnsteig, mit denen ich verschwörerische Blicke wechselte, als auf der Anzeige der Hinweis aufleuchtete, dass der Zug ausfiel. Die Männer, die kamen, um den Fußboden einzulassen (und die wir schon Wochen zuvor bestellt hatten). All das waren Kleinigkeiten. Aber in den Tagen, Wochen und Monaten nach Elees Tod zeigten mir solche Begegnungen mit Fremden auf beruhigende Weise, dass die Welt sich weiterdrehte und nicht nur aus Trauer bestand.
Der Fremde, so der Soziologe Georg Simmel, ist zugleich nah und fern. Dieses von Nähe und Ferne bestimmte Verhältnis ist, so ergänzt er zuversichtlich, »natürlich eine ganz positive Beziehung«4. Offenbar hatte Simmel nie erleben müssen, dass ihm ein Fremder zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt das Fahrrad stiehlt. Und obwohl keine Beziehung ausschließlich positiv ist...
Erscheint lt. Verlag | 11.7.2022 |
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Übersetzer | Felix Mayer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Hello, Stranger |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2022 • eBooks • Fremdenfeindlichkeit • Gastfreundlichkeit • Lebenshilfe • Neuerscheinung • Neues Leben • Philosophie • Selbstheilung • Trauerarbeit • Umgang mit Verlust • Vielfalt • Weltreise |
ISBN-10 | 3-641-26438-3 / 3641264383 |
ISBN-13 | 978-3-641-26438-3 / 9783641264383 |
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