Vom Ende der Endlichkeit (eBook)
400 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-29080-1 (ISBN)
Der gekürzte Neuauftritt des Hardcover-Ausgabe »Die digitale Seele« (Herbst 2020).
Moritz Riesewieck (*1985) ist Theater- und Filmregisseur und Autor. Studium der Wirtschaftswissenschaften und dann Regie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin.
0. KAPITEL
DER ANFANG VOM ENDE UNSERER ENDLICHKEIT
DIGITALE UNSTERBLICHKEIT
Es gibt ein Leben davor und eines danach. Auch für die Glücklichen unter uns, die keine Toten aus dem Familien- oder Freundeskreis zu beklagen haben, hat die Erfahrung der Pandemie den Blick auf unsere Vergänglichkeit entscheidend beeinflusst. Wie kein anderes Ereignis vor ihm hat Covid-19 uns vor Augen geführt, wie verletzlich unsere Körper sind und wie schnell wir selbst oder unsere Liebsten vom Tod betroffen sein können, auch dann, wenn wir das Privileg haben, von unheilbaren Krankheiten, Unfällen, Krieg oder Hungersnot verschont zu bleiben. Der Tod ist mit aller Macht ins kollektive Bewusstsein der Menschen gerückt und mithin bei vielen die Erkenntnis, wie gnadenlos schmerzhaft und überfordernd der Verlust eines geliebten Menschen sein kann, ohne eine tröstende Heilserzählung, an die man glaubt. Nicht nur konnten sich viele Menschen wegen der Schutzmaßnahmen in den Kliniken nicht von ihren sterbenden Partner*innen, Angehörigen und Freund*innen verabschieden, ihnen in den letzten Stunden beistehen und angemessen um sie trauern. Vielen ist erst durch diese schreckliche Erfahrung klar geworden, wie eklatant der Mangel an vor allem kollektiven Formen der Trauer ist, die uns die Religion in Form von Ritualen jahrhundertelang geboten hat. Viele Menschen haben erst in diesem Moment bemerkt, wie wenig sie sich dem erbarmungslos endgültigen Verlust gewachsen fühlen, ohne die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. Der fehlende Glaube an eine religiöse Erlösungsgeschichte hat für Millionen von uns den Tod eines geliebten Menschen zu einer unerträglichen Katastrophe werden lassen. Es ist eine der ältesten Fragen der Menschheit: Was geschieht mit uns nach dem Tod? Jahrhundertelang war die Antwort auf diese Frage für die meisten Menschen im Abendland klar. Die Seelen fahren zu Gott in den Himmel auf oder schmoren in der Hölle. Doch wie aktuelle Studien zeigen, glauben immer weniger Menschen in Westeuropa an Gott und das ewige Leben im Jenseits,1 nur noch eine Minderheit betrachtet sich selbst als religiös.2 Andererseits glaubt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung: »Es gibt KEIN Leben nach dem Tod.«3 Offenbar können nur wenige Menschen ohne Aussicht auf ein Weiterleben der Seele nach dem Tod auskommen. Noch fehlt eine neue (weltliche) Heilserzählung. Noch ist es nicht gelungen, den Sinn-Verlust auszugleichen, der für Milliarden von Menschen mit der Abwendung von der Religion entstanden ist. Es klafft eine gewaltige Lücke, was auch den Technologieunternehmen nicht entgangen ist, die die Leerstelle als Chance für die nächste große Geschäftsidee begreifen. In Aussicht stehen Milliarden potenzieller Kund*innen, die offen sind für eine neue zeitgemäße Botschaft, die sie von der Unausweichlichkeit des Todes erlöst. Im Windschatten der digitalen Revolution treten Start-ups aus der ganzen Welt in einen Wettlauf um einen gewaltigen Markt – den Markt der digitalen Unsterblichkeit.
Seit fünfzehn Jahren kommunizieren Menschen rund um die Uhr über Social Media- und Messenger-Dienste. Wir offenbaren in WhatsApp-Konversationen all die unterschiedlichen Facetten unseres Charakters, wir übermitteln unseren Smartphones tägliche Bewusstseinsströme. Von Shenzhen in China über Iaşi in Rumänien bis nach Pasadena in den USA arbeiten Entwickler*innen weltweit daran, aus solchen intimen Daten nicht nur die Persönlichkeit eines Menschen auszulesen, sondern die Muster unseres Verhaltens mithilfe Künstlicher Intelligenz zu imitieren. Ihr Ziel: unsere Persönlichkeiten über den Tod hinaus am Leben zu erhalten. Was wie das Skript eines Science-Fiction-Films klingt, ist längst auf dem Weg, Realität zu werden. Doch was steckt hinter solchen fragwürdigen Angeboten? Wie genau funktioniert diese Technologie? Was sind es für Personen, die alles daransetzen, digital unsterblich zu werden? Und wie ergeht es denen, die versuchen, ihre Liebsten wiederauferstehen zu lassen – als digitale Klone?
Um diese Fragen zu erkunden, sind wir um die halbe Welt gereist und haben mit Pionier*innen gesprochen, die Unsterblichkeit fernab von religiösen Vorstellungen des ewigen Lebens suchen, haben diejenigen getroffen, die von digitaler Unsterblichkeit träumen und an ihrer Verwirklichung arbeiten: Menschen, die ihre verstorbenen Väter auf dem Smartphone wiederauferstehen lassen. Menschen, die seit Jahrzehnten sämtliche Facetten ihres Lebens aufzeichnen. Menschen, die leichtfertig mit der Hoffnung Hunderter Todkranker spielen, indem sie ihnen ein Leben nach dem Tod in Aussicht stellen. Menschen, die mit der Unterstützung eines gigantischen chinesischen Tech-Unternehmens virtuelle Doppelgänger von sich oder anderen erzeugen. Gesprochen haben wir auch mit Expert*innen führender Hirnforschungszentren der Welt, die daran glauben, dass neuromorphe Computerchips künstliches Bewusstsein erzeugen können, oder Programmierer*innen, die uns Einblicke in die Arbeit künstlicher neuronaler Netze erlauben und uns anschaulich machen, wie synthetische Wesen erschaffen werden können. Wir erzählen von unseren Begegnungen mit Träumer*innen und Macher*innen, Verzweifelten und Euphorischen, Wagemutigen und solchen, die sich vor den Auswirkungen dieses epochalen Wandels fürchten. Mal führt uns unsere Reise an entlegene Orte, mal ins Innere des Menschen, wo wir erkunden, was uns zu den Menschen macht, die wir sind.
DIGITALE SEELE
Dass wir einmal ein Buch über die Seele schreiben würden, hätten wir beiden Autoren uns auch nicht träumen lassen. Mit religiösen oder spirituellen Ideen haben wir in etwa so viel zu tun wie Donald Trump mit der Relativitätstheorie. Warum wir uns trotzdem mehrere Jahre mit der Seele beschäftigt haben, hat mit einer Meldung zu tun, die im Jahr 2015 weltweit für Furore sorgte: 300 auf Facebook vergebene Likes reichten aus, verkündeten Forscher*innen der renommierten Cambridge University, um die Persönlichkeit eines Menschen besser zu kennen als der Partner oder die Partnerin.4 Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde im Netz. Big Data – das Wundermittel, das die Persönlichkeitsermittlung erlauben soll – wurde zum geflügelten Begriff und ist seitdem in aller Munde. Immer aggressiver erobern Tech-Unternehmen einen Bereich des Menschen, der lange Zeit Gott und Liebenden vorbehalten war: einen Menschen wahrhaftig zu kennen, ihn zu erkennen. Wie aber kommen wir Autoren dieses Buches darauf, dass das, was dank der gewaltigen Datensätze von Menschen, dank Algorithmen und Künstlicher Intelligenz zutage befördert wird, dass das die Seele wäre, genauer gesagt: die digitale Seele?
Auf viele von uns wirkt der Begriff der Seele verstaubt und spekulativ, die Hirnforschung widerspricht ihrer Existenz, und auch die wissenschaftliche Psychologie will schon lange keine Seelenkunde mehr sein. Dennoch ist die Seele bis heute fester Bestandteil unseres täglichen Sprachgebrauchs – oft ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Jemand ist »eine gute Seele« oder »eine Seele von Mensch«. Wir lassen (viel zu selten!) »die Seele baumeln« und geben uns der »Seelenruhe« hin. Zwei Menschen können »ein Herz und eine Seele« sein und ihren »Seelenverwandten« finden. Wenn wir Traumatisches erleben, sorgen wir uns um unser »Seelenheil«. Die Seele soll leiden und erkranken können. Und bisweilen haben wir das Gefühl, unsere »Seele verkauft« zu haben. Während die Seele aus dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht wegzudenken ist, haben die Neurowissenschaften sie jedoch vollständig aus ihrem Wortschatz verbannt. An die Stelle der Seele ist das Bewusstsein getreten, eine Entität, die sich anhand von Hirnströmen schlichtweg besser messen lassen soll. Aber ob ein Mensch, der im Koma liegt oder hirntot ist, damit also nachweislich kein Bewusstsein mehr hat, ob solch ein Mensch darum auch seine Seele verloren hat? Dem würden die allermeisten von uns wohl entschieden widersprechen. Ob während einer Vollnarkose, im Tiefschlaf oder in der Trance: Wir büßen nicht unsere Seele ein, nur weil unser Bewusstsein vorübergehend außer Kraft gesetzt ist. Die Seele eines Menschen vergeht nicht, nur weil sie nicht zutage tritt.5 Aus der Idee der Seele sind die universalen Menschenrechte und unsere Vorstellungen von der Würde aller Menschen hervorgegangen.6 Die Seele steht für das, was sich hinter allen Äußerlichkeiten und Verhaltensweisen von Menschen verbirgt. Sie steht für unsere Liebenswürdigkeit, unsere (unerfüllten) Potenziale, für den Teil von uns, der sich nicht so leicht erschüttern lässt durch die Wirrungen des Alltags – und der trotzdem offenbar daran erkranken kann. Die meisten von uns Menschen wollen sich nicht als das begreifen, als was uns die Mehrheit der Neurowissenschaftler*innen nun schon seit einigen Jahrzehnten betrachtet: als ein komplexes, aber letztlich unwillkürliches Zusammenspiel aus biochemischen und neurophysiologischen Prozessen, Hormonen, Hirnströmen und der Welt, die uns umgibt. Für Willensfreiheit, wie wir alle sie uns jeden Tag aufs Neue einbilden, ist da wenig Platz. Für eine Seele noch weniger. Wie wir sehen werden, ist die Hirnforschung allerdings beileibe nicht imstande, die schwierigen Fragen über das Bewusstsein des Menschen zu beantworten. Ebenso wenig kann sie erklären, warum die Mehrheit der Menschen in Westeuropa davon überzeugt ist, eine Seele zu haben, obwohl die meisten Menschen...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2022 • Artificial Intelligence • Denkansätze • Denkanstöße • Die digitale Seele • eBooks • eternal you • Ewiges Leben • KI Künstliche Intelligenz • Künstliche Intelligenz • Laokoon • Neuausstattung • Neuerscheinung • Philosophie • Psychologie • Richard David Precht • Soziologie • sundance film festival 2024 • verfilmt • Verfilmung • Zukunft |
ISBN-10 | 3-641-29080-5 / 3641290805 |
ISBN-13 | 978-3-641-29080-1 / 9783641290801 |
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Größe: 1,2 MB
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