Die Stärke der Frauen (eBook)
432 Seiten
C. Bertelsmann Verlag
978-3-641-29014-6 (ISBN)
Denis Mukwege, weltbekannter kongolesischer Gynäkologe und Menschenrechtsaktivist, hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Opfern sexueller Gewalt zu helfen. Als Gründer des Panzi-Hospitals in Bukavu erhielt er 2018 den Friedensnobelpreis für seinen Einsatz für die Gesundheit und Rechte von Frauen in der Demokratischen Republik Kongo. In seinem Buch verwebt er seine eigene dramatische Lebensgeschichte mit den Schilderungen einzelner Frauenschicksale. Auf das Drängen seiner Patientinnen hin, macht der Chirurg deren Leiden öffentlich und betont dabei die Willensstärke, mit der die Frauen sich ins Leben zurückkämpfen. Er fordert eine systemische Veränderung im Rollenverständnis, eine »positive Männlichkeit« für eine gleichberechtigte Gesellschaft, und belegt die Gewinne, die es bringt, wenn Frauen als Entscheidungsträgerinnen in wirtschaftliche und politische Prozesse eingebunden sind.
Die Stärke der Frauen ist der Bericht eines beeindruckenden Menschen, der sich nicht von seinem Weg abbringen lässt. Ein Bericht, der die Kraft der Frauen in den Vordergrund stellt und beweist, was das Engagement von Einzelnen bewirken kann.
Dr. Denis Mukwege wurde 1955 in Belgisch-Kongo geboren. Der Chirurg ist weltweit bekannt als der führende Experte in der operativen Behandlung von Vergewaltigungsopfern. Dieser Tätigkeit und dem unermüdlichen Einsatz für die Rechte seiner Patientinnen hat er sein Leben verschrieben, wofür er 2018 den Nobelpreis erhielt - gemeinsam mit der jesidischen Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad.
EINLEITUNG
Es ist ungewöhnlich, wenn ein Mann für die Rechte der Frauen kämpft. Das weiß ich. Ich habe es häufig bemerkt, wenn ich mich mit Freunden unterhalten habe, bei gesellschaftlichen Anlässen und mitunter auch bei professionellen Zusammenkünften. Die verständnislosen Blicke und die skeptischen Mienen sind mir nicht entgangen. Hin und wieder ist mir sogar, offen oder unausgesprochen, eine gewisse Feindseligkeit begegnet. Manche finden meine Entscheidungen verdächtig oder sogar bedrohlich.
Ich erinnere mich gut an Abendgesellschaften im Kongo und in Europa zu Beginn meiner Karriere: Wenn ich an der Reihe war, über meine Arbeit zu sprechen, erklärte ich meist, ich sei Gynäkologe und leitete ein Krankenhaus, das insbesondere Verletzungen behandele, die durch Vergewaltigungen verursacht worden seien. Und dass ich mich außerdem für die Rechte von Frauen engagierte. Danach wurde die Runde am Tisch im Allgemeinen recht still. Vielleicht stellte noch jemand höflichkeitshalber eine Frage, aber dann wechselte man rasch das Gesprächsthema.
In diesen Augenblicken betretenen Schweigens nahm ich jedoch auch Mitgefühl in den Augen der anderen Gäste wahr und stellte mir vor, was sie wohl über mich denken mochten: Was für einen schrecklichen Beruf ich hatte, und wie furchtbar das für mich sein musste. Ich entwickelte daher eine Art Gegenstrategie und betonte immer ausdrücklich, dass ich glücklich verheiratet sei und selbst Kinder hätte, als würde ich dadurch »normaler« wirken oder es den anderen leichter machen, meine Entscheidung nachzuvollziehen.
Wenn ich dann abends im Hotelzimmer oder zu Hause auf dem Bett lag, ärgerte ich mich jedes Mal über mich selbst. Warum empfand ich immer dieses Bedürfnis, mein Tun zu rechtfertigen? Jeder, der das Gefühl kennt, dass er »nicht so richtig dazupasst«, sei es aufgrund seiner Herkunft, Identität oder Erfahrung, wird wissen, was ich meine.
Aber nicht jeder hielt mit seiner Meinung hinter dem Berg. Ich erinnere mich an die Unterhaltung mit einem alten Freund, einem Klassenkameraden aus der Schulzeit, der in meiner Provinz Politiker geworden war. Noch jetzt, Jahre später, habe ich seine Worte nicht vergessen: »Seit du dich mit sexueller Gewalt beschäftigst, denkst du wie eine Frau«, sagte er. Das könnte man auch als Kompliment auffassen, aber so war es keineswegs gemeint.
Ich weiß auch noch genau, wie sehr ich mich bestätigt fühlte, als ich das Schreiben und die Arbeit von Stephen Lewis kennenlernte, kanadischer Diplomat, Aktivist und unermüdlicher Streiter für AIDS/HIV-Opfer in Afrika und Frauenrechte im Allgemeinen. Endlich hatte ich eine verwandte Seele gefunden. Durch Stephen habe ich begriffen, dass auch andere Männer so denken wie ich, und inzwischen ist er mir ein lieber Freund.
Ich betreue und behandele mittlerweile seit zwei Jahrzehnten Opfer sexueller Gewalt. Man könnte also meinen, ich müsste meine Entscheidung nicht mehr erklären. Das ist jedoch ein Irrtum. Nicht nur Männer haben Mühe, meine Entscheidung zu verstehen.
Vor einigen Jahren nahm ich an einem Treffen mit einer hochrangigen Vertreterin der Vereinten Nationen in New York City teil. Sie erklärte sich einverstanden, mich gemeinsam mit Mitstreitern zu treffen, die ebenfalls für Frauenrechte und Konfliktlösungen in meiner Heimat, der Demokratischen Republik Kongo, kämpften. Wir begaben uns in eines der oberen Stockwerke und wurden in ihr Büro gebeten, in dem ein langer Konferenztisch stand. Die Aussicht über den East River nach Queens und Brooklyn war atemberaubend.
Ihre aggressive Frage erwischte mich kalt. »Warum sind Sie hier, um über Frauenrechte im Kongo zu reden, und keine Frau aus Ihrem Land?«, fuhr sie mich an. »Sind die Frauen im Kongo nicht in der Lage, für sich selbst zu sprechen?«
Nun war ich ja gerade angereist, um die Unterstützung der Vereinten Nationen für Initiativen zu fördern, die der Stimme der Frauen im Kongo mehr Gehör verschaffen wollten. Mein Krankenhaus und meine Stiftung hatten Überlebenden geholfen, in der Gemeinschaft Stärke zu finden, und wir unterstützten Frauen dabei, ihre Fähigkeit zum Reden in der Öffentlichkeit zu entwickeln und eigene Interessen besser zu vertreten. In diesem Buch werden Sie viele dieser inspirierenden Frauen kennenlernen.
Man könnte jetzt einwenden, dass die Beamtin zu Recht auf der Hut vor einem Mann war, der den Platz auf einer Bühne einnahm, die doch den Frauen zustehen sollte. Diese berechtigte Frage spreche ich immer gern an.
Was mich selbst betrifft, so verweise ich, sobald mir diese Frage auf Dinner-Partys oder in den Büros der Vereinten Nationen gestellt wird, auf meine Grundüberzeugungen. Ich setze mich für Frauen ein, weil wir Gleichgestellte sind. Frauenrechte sind Menschenrechte, und es empört mich zutiefst, welche Gewalt meinen Mitmenschen angetan wird. Wir müssen gemeinsam für Frauen kämpfen.
Meine Rolle besteht seit jeher darin, denjenigen eine Stimme zu verleihen, die aufgrund ihrer marginalisierten Lebensbedingungen keine Möglichkeit haben, ihre Geschichten mitzuteilen. Ich stehe neben, aber niemals vor ihnen.
Wie Sie lesen werden, bin ich mehr oder weniger zufällig zum Feministen und Aktivisten geworden. Dieser Weg war mir keinesfalls in die Wiege gelegt. Ursprünglich wollte ich einfach Arzt werden, und auch das war schon ein recht hochfliegender Plan für jemanden, der in einer Baracke zur Welt kam, als der Kongo noch belgische Kolonie war. Aber Ereignisse, auf die ich keinen Einfluss hatte, haben mein Leben geprägt. Das gilt insbesondere für die Kriege, die seit 1996 den Kongo verwüsteten und gerade für Frauen fatale Folgen hatten – unter den meist gleichgültigen Blicken der restlichen Welt.
Die Umstände haben mir keine andere Wahl gelassen, als mich auf die Behandlung von Misshandlungsopfern zu spezialisieren. Und die Geschichten meiner Patientinnen gaben letztlich den Ausschlag dafür, dass ich mich dem noch größeren Kampf gegen Unrecht und Grausamkeit, die Frauen erleiden, anschloss. Die Anerkennung meiner aktivistischen Arbeit hat dazu geführt, dass ich mich auf diesen Seiten an Sie wende.
Mein Leben ist eng mit meiner vom Krieg zerrissenen Heimat verflochten. Die stürmische Geschichte des Kongo, geprägt von Ausbeutung und Konflikten, bedarf dringend eines breiteren Verständnisses. Die Unruhen der vergangenen 25 Jahre, der tödlichste Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg mit über 25 Millionen Toten oder Vermissten, metastasieren seit dem Jahr 1996 ungehindert. Ich schreibe von der Tragödie des Kongo in der Hoffnung, Politiker in der westlichen Welt und anderswo zu ermutigen, sich für dieses Land, für Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen, die das kongolesische Volk so verzweifelt herbeisehnt. Doch dies ist keine Autobiografie und noch weniger ein Buch, das die Kriege im Kongo umfassend zu erklären sucht.
Das Buch ist vielmehr eine Hommage an die Stärke aller Frauen und insbesondere an diejenigen, die mich großgezogen, erzogen und inspiriert haben. Wie Sie in den ersten Kapiteln erfahren werden, fange ich ganz am Anfang an, mit jener Frau, die sich der Gefahr und Unsicherheit stellte, mich zur Welt zu bringen – und die nur wenige Tage später die Aufgabe meisterte, mich vor einer lebensbedrohlichen Erkrankung zu retten. Die Zähigkeit und Tapferkeit, die meine Mutter während meiner Geburt bewies, wurde nur durch ihren lebenslangen Einsatz für mich und alle ihre Kinder übertroffen. Sie hatte maßgeblichen Einfluss auf meine Einstellungen als Heranwachsender und junger Mann und sie war es auch, die, unter gelegentlicher Zuhilfenahme mütterlicher Manipulation, entscheidend dazu beitrug, dass ich trotz aller Widerstände meinen Wunsch, Arzt zu werden, verwirklichte. Sie war meine erste Heldin.
Viele andere Frauen werden sich auf diesen Seiten zu ihr gesellen. Sie alle haben mich mit ihrem Mut, ihrer Freundlichkeit, ihrer Widerstandskraft und Energie beeindruckt. Es sind Aktivistinnen, Anwältinnen oder Akademikerinnen, aber auch meine Patientinnen oder Überlebende sexueller Gewalt, denen ich während meiner jahrelangen Arbeit im Kongo und auf meinen Reisen nach Korea, in den Kosovo, in den Irak, nach Kolumbien, in die Vereinigten Staaten oder an andere Orte begegnet bin.
Vielleicht mag dieser Hintergrund etwas düster erscheinen, denn die Leben vieler Frauen in diesem Buch sind, genau wie mein eigenes, von Gewalt überschattet. Dennoch ist jede dieser Frauen ein Zeichen des Lichts und der Inspiration, und sie haben mir gezeigt, dass die besten Instinkte des Menschen – zu lieben, zu teilen und andere zu beschützen – auch unter den denkbar schlimmsten Umständen triumphieren. Sie sind der Grund dafür, dass ich so lange durchgehalten habe. Nur ihretwegen habe ich niemals meinen Glauben und meinen Verstand verloren, selbst dann nicht, als meine Arbeit, die sich mit den Folgen des Bösen auseinandersetzt, mich manchmal zu überwältigen drohte.
Bevor ich fortfahre, noch ein kurzes Wort zu meinem Sprachgebrauch. Das ist ein heikles Thema, denn die Begriffe und Bezeichnungen, mit denen wir Menschen beschreiben, die sexuelle Gewalt erlebt haben, sind ebenso bedeutsam wie unvollkommen. Sie werden feststellen, dass ich die Begriffe »Patientin«, »Opfer« und »Überlebende« verwende, um viele der Frauen in diesem Buch zu beschreiben.
»Patientin« ist neutral und muss nicht eigens erklärt werden. Jede Frau, die ich behandelt habe, ist meine Patientin.
Das Wort »Opfer« (engl.: victim) ist schon schwieriger, denn es wird grundsätzlich mit Schwäche verbunden und begünstigt eine mitleidige Haltung. Das Subjekt erscheint schnell als passiv...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2022 |
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Übersetzer | Sabine Reinhardus, Cornelia Stoll |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Power of Women |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 2022 • Afrika • Aufklärung sexueller Missbrauch • Biografie Mukwege • Christina Lamb • Der Mann, der Frauen repariert • eBooks • Emazipation • feminismus buch • Frauenrechte • Frauenschicksal • Friedensnobelpreis • Gewalt gegen Frauen • Gynäkologe • Kongo • Kongo Kampagne • Kriegsgewalt • Männer als Feministen • Medizin • Menschenrechte • Menschenrechtspreis der Vereinten Nationen • Nadia Murad • Neuerscheinung • Oprah Winfrey • Sexuelle Gewalt • Vergewaltigung als Kriegswaffe • Vergewaltigungsopfer • Weltfrauentag • Zivilcourage |
ISBN-10 | 3-641-29014-7 / 3641290147 |
ISBN-13 | 978-3-641-29014-6 / 9783641290146 |
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