Expedition zur Mitte (eBook)

Über die Eigenschaften der Wählerschaft zwischen links und rechts
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
120 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45062-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Expedition zur Mitte -  Helmut Klages
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Wenn Politiker_innen sich der gesellschaftlichen »Mitte« zuwenden, die sie repräsentieren möchten, bleibt gewöhnlich offen, wer damit gemeint ist. Im Grenzfall handelt es sich dabei um alle Wahlfähigen. Helmut Klages unternimmt in seinem Buch eine Expedition in die zerklüftete Landschaft der sogenannten »Mitte«. Auf Basis umfangreicher Daten des Politbarometers beleuchtet er die Gruppe von Wähler_innen, indem er sich denjenigen Menschen widmet, die sich weder links noch rechts verorten wollen. Die Frage, wer sie sind und welche Eigenschaften sie haben, führt zu überraschenden Einsichten.

Helmut Klages ist Professor für Soziologie an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer.

Helmut Klages ist Professor für Soziologie an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer.

Überraschungen bei der Erkundung der sozialstrukturellen Platzierung der politischen Mitte


Andrang bei der Selbstpositionierung in der politischen Mitte


Wir denken, dass wir unseren Leser/innen hiermit eine umfangreiche Einführung geboten haben und beginnen nunmehr ohne weitere Umschweife mit der Darstellung unserer Untersuchungsergebnisse. Wir verwenden für den Einstieg eine Grafik die, wie anzunehmen ist, für unvorbereitete Betrachter eine Überraschung darstellt und die unter anderem die Bedeutung unserer zuvor erwähnten methodischen Entscheidungen drastisch verdeutlicht.

Grafik 1: Politische Selbsteinschätzung in der BRD von 1997–2019

Quelle: kumuliertes Politbarometer und eigene Berechnungen

Diese Grafik gibt die über mehrere Jahre hinweg kumulierte Verteilung der deutschen Befragungsteilnehmer/innen auf sämtliche elf Punkte des Links-rechts-Kontinuums des »Politbarometers« wieder. Wie sich auf den ersten Blick erkennen lässt, wird das gesamte Bild von der enormen – und im Zeitablauf relativ veränderungslos bei zirka 40 Prozent verharrenden – Zahl von Befragungsteilnehmer/innen beherrscht, welche sich über die gesamten einbezogenen Jahre hinweg immer wieder für denjenigen Punkt der Skala entschieden, der deren exakte Mitte – und somit gewissermaßen ihre »neutrale« Zone – angibt. Wenn man von einigen Unregelmäßigkeiten absieht, mit denen wir uns anschließend noch zu beschäftigen haben, kann man davon ausgehen, dass sich die eingezeichnete Hüll-Linie der Gestalt einer »Normalverteilungskurve« mit einem in großer Höhe angesiedelten Mittelpunkt und nach beiden Seiten steil abfallenden Flügeln annähert, in die sich die übrigen Befragungsteilnehmer/innen teilen. Dabei fällt auf, dass die Anteile – mit Ausnahme der äußersten Endpunkte, zu denen wir uns gleich noch gesondert äußern werden – mit relativ ausgeprägter Regelmäßigkeit umso geringer ausfallen, je mehr sie sich vom Mittelpunkt entfernen.

Überlegen wir kurz – mit dem Blick auf die einführende Grafik – was zu erwarten gewesen wäre, wenn wir zum Beispiel von der Annahme einer die Mitte einschließenden politischen »Spaltung« in der Bevölkerung Deutschlands ausgegangen wären. Wir würden mit großer Wahrscheinlichkeit eine Verteilung mit ansteigenden Anteilen nach beiden Seiten, das heißt also zu den Rändern hin, oder vielleicht auch die abgeschwächte Version zweier nebeneinanderliegender, entgegengesetzte Einstellungen verkörpernder Gipfel erwartet haben. Die Mitte hätten wir konsequenterweise als eine eher schwach besetzte Zwischenzone erwartet gehabt. Eine sich genau in der »exakten« Mitte hoch und steil auftürmende »eingipflige« Verteilung, deren Seitenflügel – mit Ausnahme der Links- und Rechtsaußen-Positionen – umso schwächer besetzt sind, je mehr sie sich den Rändern annähern, wie sie das obige Schaubild präsentiert, hätten wir mit Sicherheit zuallerletzt erwartet.

Weder links noch rechts ist gleich neutral?


Wir nutzen den Überraschungseffekt, den die einführende Grafik vermittelt, um eine erste sehr fundamentale Erkenntnis festzuhalten, welche der eingeschlagene empirische Forschungsweg ermöglicht: Die politischen Einstellungen der Bevölkerung Deutschlands sind – mit einer Links-Rechts-Skala gemessen – zahlenmäßig umso gewichtiger, gleichzeitig aber inhaltlich umso gemäßigter, je mehr man sich der Mitte der Skala annähert. Die Links- und Rechtspositionen, die – unserem Ansatz zufolge – mit allen ihren inhaltlichen Implikationen eine wesentliche gesellschaftliche Spannungslinie verkörpern und die somit auch entscheidende Ansatzpunkte für mögliche Spaltungsentwicklungen in der Bevölkerung darstellen, sind somit – von den äußersten Endpunkten einmal abgesehen – quantitativ umso schwächer ausgebildet, je eindeutiger und stärker sie inhaltlich ausgeprägt sind.

Es ist diese eine Erkenntnis, welche die Möglichkeit, von einer maßgeblichen politischen »Spaltung« in der Bevölkerung zu sprechen, grundsätzlich sehr weitgehend einengt, das heißt auf die Ebene weniger bedeutsamer Entwicklungen in kleineren Bevölkerungsgruppen und spezielleren Themenbereichen verweist. Auch die angstvolle Frage, was unsere Gesellschaft eigentlich noch zusammenhält, die bereits vor einer Reihe von Jahren die Tagungssäle füllte und die da und dort auch heute noch nachklingt, verliert damit bereits eine ihrer wesentlichen Stützen.

Natürlich irritiert hierbei die Tatsache, dass die durch einen speziellen Punkt auf der Skala markierte »exakte« politische Mitte der Bevölkerung anscheinend – in diametralem Gegensatz zu ihrer unerwarteten quantitativen Stärke – einen absoluten Tiefpunkt inhaltlicher Stärke, Entschiedenheit und Eindeutigkeit zu verkörpern scheint, was jedenfalls dann nicht auszuschließen ist, wenn man von der ihr zuzurechnenden Stellung jenseits von Links und Rechts ausgeht und hierfür die Bezeichnung »Neutralität« verwendet, wie wir es eben bereits getan haben.

In der Tat definieren wir mit der letzteren Feststellung eine Fragestellung, die uns im gesamten weiteren Verlauf dieses Textes begleiten wird und die uns zu seinen hauptsächlichen Erkenntnissen führen wird.

Eine Überraschung für sich: Linksradikalismus verbreiteter als Rechtsradikalismus


Für den Augenblick wollen wir aber festhalten, dass das Schaubild eins noch eine zweite bedeutsame Meinungskorrektur ermöglicht. Nehmen wir die äußeren Endpunkte auf der linken und rechten Seite näher in Augenschein, können wir erkennen, dass die linke Seite deutlich stärker ausgeprägt ist als die rechte und am äußersten Ende einen Schwenk nach oben macht, der eindeutig stärker ausfällt als sein Gegenstück auf der rechten Seite. Unter anderem bedeutet dies, dass Linksextremismus in der Bevölkerung stärker verbreitet ist als Rechtsextremismus – ein Sachverhalt, welcher der Schwerpunktbildung in den medialen Erörterungen, wie auch in politischen Verlautbarungen und programmatischen Erklärungen sehr deutlich widerspricht.

Diese Feststellung bedeutet keinen Widerspruch gegen die Tatsache, dass sich Rechtsextremismus in auffälligeren und brutaleren Formen äußert als Linksextremismus und insofern auch in Statistiken, die sich auf Gewalttaten beziehen, häufiger auftaucht. Dennoch verbindet sich mit dieser Feststellung ein Hinweis auf ein Problem, das nicht verschwiegen werden soll: Dass sich in Deutschland vor dem Hintergrund des einschneidenden Traumas des Nationalsozialismus eine vorherrschende Abwehrhaltung nach rechts entwickelt hat, ist zwar aus zeitgeschichtlichen Gründen verständlich. Die einseitige Herausstellung dieses Sachverhalts wird jedoch dem ganzheitlich analysierten Systemzustand insofern nicht gerecht, als sie die eigentlich wünschenswerte umfassende und tabufreie politische Erörterung, Selbstverständigung und Standortbildung in der Bevölkerung nicht ausreichend zum Zuge kommen lässt.

Politische Übereinstimmungen in West- und Ostdeutschland


Die Erkenntnisse, die aus der eingeleiteten empirischen Kontaktaufnahme mit dem Untersuchungsfeld ableitbar sind, lassen sich aufschlussreich ergänzen, indem die im Schaubild eins zunächst vernachlässigte Gegenüberstellung der alten und der neuen Bundesländer in die Betrachtung einbezogen wird (vgl. hierzu das nachfolgende zweiteilige Schaubild zwei):

Grafik 2: Politische Selbsteinschätzung der Befragten nach Bundesgebiet

Quelle: Politbarometer und eigene Berechnung

Beide Grafiken sind inhaltlich weitestgehend deckungsgleich, was insofern sehr überraschend ist, als in den Medien, wie auch in Stellungnahmen von politischer Seite, von einer stationären oder sogar noch zunehmenden Sonderstellung der politischen Einstellungen der Bevölkerung der neuen Bundesländer berichtet wird. In diametralem Gegensatz hierzu ist im Schaubild »Ost« erstens ebenso wie im Schaubild »West« eine überraschende quantitative Dominanz der »exakten« Mitte erkennbar, der auf beiden Seiten ein praktisch identischer zahlenmäßiger Anteil von 41 Prozent zukommt. Zweitens lässt sich im Schaubild »Ost« ein wesentlich deutlicher als im Westen ausfallendes Übergewicht des linken gegenüber dem rechten Flügel erkennen. Drittens offenbart das Schaubild »Ost« ebenso wie das Schaubild »West« einen auf der rechten Seite schwächeren, auf der linken Seite dahingegen stärker ausfallenden Anstieg der Besetzungszahlen an den extremen Flügel-Enden. Der empirische Ost-West-Vergleich vermittelt somit an wesentlichen Punkten ein...

Erscheint lt. Verlag 19.1.2022
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Gesellschaftliche Spaltung • Gesellschaftliche Stabilität • Linksdrift • Ökonomie • Politik • Politikwissenschaften • politische Mitte • Pragmatische Grundeinstellung • sozialtypus • Wertesynthese
ISBN-10 3-593-45062-3 / 3593450623
ISBN-13 978-3-593-45062-9 / 9783593450629
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