Bildung und soziale Ungleichheit (eBook)

Deutungen und Erfahrungen von Lehrer:innen an Gesamtschulen
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
441 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45060-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Bildung und soziale Ungleichheit -  Laura Behrmann
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Lehrer:innen sind zentrale Akteure im Bildungssystem: Sie vermitteln Inhalte, gestalten Bildungsprozesse und bewerten Leistungen. Aber spielen sie auch eine Rolle für die Reproduktion sozialer Ungleichheiten im deutschen Schulwesen? Dieser weitgehend ungeklärten Frage geht die vorliegende Grounded-Theory-Studie anhand von Interviews mit Lehrer:innen an drei Gesamtschulen in Ost- und Westdeutschland nach. Die ungleichheitsreproduzierenden und -transformierenden Handlungsstrategien der Lehrer:innen werden rekonstruiert und die soziokulturellen, organisationalen und biografischsozialisatorischen Bedingungen ihres Auftretens erläutert. Die Studie füllt nicht nur eine Leerstelle in der Bildung- und Ungleichheitsforschung, sondern sie hält auch den bildungspolitischen Bedingungen für ein chancengerechtes Handeln von Lehrer:innen einen Spiegel vor.

Laura Behrmann, Dr. phil., ist akademische Rätin für qualitative Methoden am Institut für Soziologie an der Universität Wuppertal.

Laura Behrmann, Dr. phil., ist akademische Rätin für qualitative Methoden am Institut für Soziologie an der Universität Wuppertal.

1.Lehrer:innen als Akteure mit Definitionsmacht?


Lehrer:innen haben eine zentrale Position im schulischen Geschehen inne. Sie beurteilen, was eine hervorragende oder schlechte Leistung ist, und kommunizieren diese Bewertungen an Schüler:innen, Eltern und Kolleg:innen (Ditton 2007; Terhart 2011). Sie selektieren, entscheiden über Bildungswege und prägen Vorstellungen von Erfolg und Misserfolg. Sie sind von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, vermitteln Wissen an die nachwachsende Generation, wirken an der Gestaltung von Bildungsprozessen mit, engagieren sich für Bildung und Schule und übernehmen als Staatsbedienstete eine grundlegende sozialisatorische Funktion hinsichtlich demokratischer Bildung. Kurzum, sie sind »mit den Privilegien institutioneller Macht ausgestattet« und somit »etablierte Personen, die durch ihre Position in der Lage sind, ihre Version der Wirklichkeit offiziell durchzusetzen« (Goffman 1994: 103 f.).

Was verstehen Lehrer:innen unter Bildung? Wie beschreiben sie selbst ihre Aufgabe und ihr Handeln im schulischen Alltag? Inwiefern wirken sie an der Herstellung sozialer Chancengleichheit mit? Diesen Fragen geht die vorliegende Studie nach, indem sie die Selbstbeschreibungen von Lehrer:innen, ihren Alltag und die Wahrnehmung ihrer Handlungsmöglichkeiten und -grenzen zum Ausgangspunkt macht.

Das Bildungssystem ist der zentrale Ort der Verteilung von Titeln, der Verhandlung von Ansprüchen und Rechten des Einzelnen und der Teilhabe (Boudon 1973; Bourdieu/Passeron 1971). Und obwohl Bildungserfolge auf Leistungskriterien basieren sollen, konstatiert die Forschung für Deutschland ein beharrliches Bild: Im deutschen Schulsystem sind wiederkehrend bestimmte Gruppen erfolgreicher als andere (OECD 2016; K. Maaz u.a. 2013; R. Becker/Lauterbach 2007; Blossfeld/Shavit 1993). Mädchen erlangen häufiger gute Bildungsabschlüsse als Jungen (Hadjar/Lupatsch 2010; Helbig 2010), Kinder ohne Migrationshintergrund sind erfolgreicher als Kinder mit Migrationshintergrund (Alba u.a. 2017; El-Mafaalani 2011; Diefenbach 2007), Arbeiterkinder haben es schwerer als Akademikerkinder (K. Maaz u.a. 2013; Geißler 2005; Truschkat 2002). Immer wieder wird konstatiert: Das deutsche Schulsystem ist sozial selektiv, und zwar in höherem Maße als in den meisten anderen westlichen Länder (OECD 2016). Demnach wird die Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die Schule stetig aktualisiert und sogar verfestigt (Gomolla/Radtke 2009). Wir wissen über die Bedeutung der Familie (Brake/Büchner 2003), der Peers (Amling 2015; Deppe 2015; H.-H. Krüger u.a. 2007) und der Herkunft der Schüler:innen (R.-T. Kramer u.a. 2014; Dunkake u.a. 2012; Brake/Büchner 2006; Breidenstein 2006; Dravenau/Groh-Samberg 2005) in diesem Zusammenspiel – nur die Lehrer:innen wurden bislang vernachlässigt. Dabei spielen Lehrer:innen mit der Aktivierung sozialer Kategorien in diesem Reproduktionsprozess eine nicht unbedeutende Rolle (Koevel et al. 2021; Horvath 2019; Lange-Vester u.a. 2019; Lange-Vester 2015; 2013; Behrmann 2013; Hollstein 2008; Schumacher 2002) – sie sind sogar, so die Zuschreibung, »Reproduktionsakteure« (Ostermann/Neugebauer 2021; R.-T. Kramer 2015). Das Interesse an der Klärung der Mechanismen und Prozesse schulischer Reproduktion sozialer Ungleichheit führt diese Studie zu einer – bislang vernachlässigten – Perspektive auf die zentralen Akteure1 schulischen Alltags, in der Lehrer:innen als »Transformationsakteure«, als »Change Agency« verhandelt werden (Vähäsantanen 2015; Fullan 1993). Vor allem im deutschsprachigen Raum ist die Aufmerksamkeit, welche in der Forschung und Literatur der Handlungsträgerschaft und den Handlungsmöglichkeiten, den Deutungen und Vorstellungen der Lehrer:innen im Umgang mit sozialen Ungleichheiten zukommt, überraschend gering. Diese Lücke innerhalb der Bildungsforschung nimmt meine Betrachtung zum Anlass, Lehrer:innen in den Mittelpunkt zu stellen. Aus den Selbstbeschreibungen ihrer Handlungen und Tätigkeiten lässt sich ihre Rolle als institutionell und gesellschaftlich eingebettete Transformations- und/oder Reproduktionsakteure erfassen. Dabei liegt dieser Arbeit eine interpretative Annahme der Konstitution sozialer Wirklichkeit zugrunde: Bildung, schulischer Erfolg, Leistung und soziale Unterschiede sind soziale Konstrukte, welche von Akteuren im Alltag interaktiv ausgehandelt werden. Was Lehrer:innen unter Bildung und Erfolg verstehen, setze ich nicht voraus, sondern rekonstruiere es. Diese Studie geht anhand erzählgenerierender Interviewtechniken, ethnografischer Methoden und interpretativer Auswertungsverfahren den (Selbst-)Positionierungen der Lehrer:innen nach. Dabei kommen subjektive Sichtweisen und gesellschaftliche Deutungsmuster, Konventionen und Legitimationen zum Tragen, die Auskunft über die Gestaltung und Ordnung der sozialen Welt der Lehrer:innen geben.

Anhand der Interviews lassen sich vier Handlungsstrategien typisieren, deren divergierende Implikationen für die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten abschließend diskutiert werden. Diese Studie zielt darauf, die Lehrer:innen, ihre Orientierungen und ihr Handeln in der Komplexität, ihrer sozio-historischen und biografischen Genese zu verstehen. Dazu sind sie als Beschäftigte eines Staates, Landes und einer Organisation in einem Kollegium zu begreifen aber auch als Akteure mit biografischen und lebensweltlichen Erfahrungen außerhalb der Schule. Zentral ist das für Ost- und Westdeutschland sozio-kulturell vergleichend angelegte Forschungsdesign. Denn erst der Vergleich ermöglicht es, Bedingungen für die Positionierung und die Handlungsbefähigung der Lehrer:innen in einer transformatorischen oder reproduzierenden Rolle herauszuarbeiten. Nur dieser weite Blick macht es möglich, Hinweise darauf zu gewinnen, wo und wie die Handlungsorientierungen der Lehrer:innen beeinflusst wurden und unter welchen Bedingungen Lehrer:innen ihr Handeln auf soziale benachteiligte Schüler:innen beziehen oder nicht. Nur eines der vier Muster zielt auf die aktive Herstellung von Chancengleichheit: das »sozial informierte Unterstützungshandeln«. Ein weiteres Muster, »Schüler:innen im Kontext« als pädagogischer Auftrag, kann zur aktiven Herstellung beitragen, die anderen beiden Muster aber verweisen auf Handlungsstrategien die soziale Ungleichheiten reproduzieren. Anhand der Befunde kann der Umgang der Lehrer:innen mit dem Wissen um die soziale Herkunft in Hinblick auf seine Bedeutung im pädagogischen Arbeiten und der Leistungswahrnehmung präzisiert sowie in seinem Auftreten ursächlich erklärt werden. Die Studie und ihre Befunde leisten einen grundlegenden Beitrag zur Erklärung der Genese sozialer Ungleichheiten im schulischen Alltag.

Im Anschluss an diese einleitenden Bemerkungen gibt das Kapitel 2 einen Überblick zu aktuellen Fragen der Bildungsforschung. Es liegen nur wenige, über verschiedene Forschungsfelder zerstreute Befunde zur Lehrperson und ihrer Rolle in der Genese sozialer Ungleichheiten im Schulsystem vor (vgl. Kapitel 2.3.). Den bestehenden Bedarf an Analysen, die die Selbstsicht der Lehrer:innen zum Ausgangspunkt machen und in ihrer sozialen Verfasstheit ausweisen, greift die vorliegende Untersuchung auf, indem sie die Grundannahmen des Symbolischen Interaktionismus fruchtbar macht (Kapitel 3) und angeregt durch das Konzept der »Sozialen Sensibilität« nach der Rolle der Lehrer:innen in der Herstellung, Reproduktion und Veränderung sozialer Ungleichheiten fragt. Zentrale Befunde des Forschungsstandes zur Bedeutung von gesellschaftlich tradierten Bildungskonzepten und der Einbettung des Handelns in organisationale Zusammenhänge informieren das Design dieser komparativen Studie. Im Kapitel 4 wird der sozio-historische Vergleichshorizont eines neuen und alten deutschen Bundeslandes eröffnet, in Kapitel 5 kommen die Spezifika der »chancengerechten« Gesamtschulen empirisch informiert für die ausgewählten Schulen zur Sprache. In Kapitel 6 erläutere ich das von der Grounded-Theory-Methodologie instruierte methodische Vorgehen, in dem neben narrativen Interviews egozentrierte Netzwerkkarten zum Einsatz kommen. Die Befunde werden in vier Kapiteln präsentiert: Im Zentrum des Kapitels 7 stehen das Selbstverständnis der Lehrer:innen, ihre Vorstellungen von Bildung, ihr Umgang mit den Schüler:innen und der Praxis des Bewertens. In den divergierenden Verständnissen sind unterschiedliche Trägerschaften des Lehrerhandelns angelegt, welche ich in Kapitel 8 vorstelle. Die Selbstverständnisse des Lehrerhandelns und ihre Handlungsziele haben Konsequenzen für die Zurechnung von Erfolg und Scheitern und den Umgang mit sozial divergierenden Ausgangslagen der Schüler:innen; vier Muster von Handlungsstrategien lassen sich identifizieren (Kapitel 9). Kapitel 10 wendet sich den Bedingungen für die Strategien und damit den...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2022
Reihe/Serie SOCIUM
SOCIUM
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Bildungsforschung • Bildungsungleichheit • Lehramtstudium • Ostdeutschland • Soziale Ungleichheit • Westdeutschland
ISBN-10 3-593-45060-7 / 3593450607
ISBN-13 978-3-593-45060-5 / 9783593450605
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