Die Grenzen der Verwaltung (eBook)

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2021 | 1. Auflage
200 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76982-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Grenzen der Verwaltung -  Niklas Luhmann
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Nach mehrjähriger Tätigkeit in der niedersächsischen Ministerialverwaltung und einem Aufenthalt bei Talcott Parsons in Harvard wechselte der studierte Jurist Niklas Luhmann Anfang der 1960er Jahre an die Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Dort entstand der Entwurf einer allgemeinen Theorie der Verwaltung, welche die Verwaltungswissenschaft auf ein neues Fundament stellen sollte. Er wird nun unter dem Titel Die Grenzen der Verwaltung erstmals publiziert.

In souveräner Argumentation bestimmt Luhmann darin zunächst, was er als die Aufgabe einer Verwaltungsorganisation sieht: das Erzeugen verbindlicher Entscheidungen, um sich dann der wesentlichen Herausforderung zuzuwenden, der sich ein solches soziales System gegenübersieht: dem Management seiner eigenen Grenzen. Mit wenigen systemtheoretischen Begriffen und angereichert durch die eigene praktische Erfahrung, zeigt er, wie Verwaltungen die unterschiedlichen Erwartungen ihrer Umwelten so ausbalancieren, dass ihre Grenzen stabil und ihre Strukturen funktionsfähig bleiben. Auch knapp 60 Jahre nach der Niederschrift erweist sich dies als ein höchst origineller Zugriff auf die Verwaltung - das Rückgrat der modernen Gesellschaft.



<p>Niklas Luhmann wurde am 8. Dezember 1927 als Sohn eines Brauereibesitzers in Lüneburg geboren und starb am 6. November 1998 in Oerlinghausen bei Bielefeld. Im Alter von 17 Jahren wurde er als Luftwaffenhelfer eingezogen und war 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Von 1946 bis 1949 studierte er Rechtswissenschaften in Freiburg und absolvierte seine Referendarausbildung. 1952 begann er mit dem Aufbau seiner berühmten Zettelkästen. Von 1954 bis1962 war er Verwaltungsbeamter in Lüneburg, zunächst am Oberverwaltungsgericht Lüneburg, danach als Landtagsreferent im niedersächsischen Kultusministerium. 1960 heiratete er Ursula von Walter. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Seine Ehefrau verstarb 1977. Luhmann erhielt 1960/1961 ein Fortbildungs-Stipendium für die Harvard-Universität. Dort kam er in Kontakt mit Talcott Parsons und dessen strukturfunktionaler Systemtheorie. 1964 veröffentlichte er sein erstes Buch <em>Funktionen und Folgen formaler Organisation.</em> 1965 wird Luhmann von Helmut Schelsky als Abteilungsleiter an die Sozialforschungsstelle Dortmund geholt. 1966 wurden <em>Funktionen und Folgen formaler Organisation</em> sowie <em>Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung</em> als Dissertation und Habilitation an der Universität Münster angenommen. Von 1968 bis 1993 lehrte er als Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. 1997 erschien sein Hauptwerk, das Resultat dreißigjähriger Forschung: <em>Die Gesellschaft der Gesellschaft</em>.</p>

1. Kapitel:
Stand und Entwicklungsmöglichkeit der Verwaltungswissenschaft


Eine Studie über Verwaltungswissenschaft findet sich heute, Mitte der 60er Jahre, in einer in doppeltem Sinne ungemütlichen Situation: In allerjüngster Zeit sind eine Reihe von glänzenden theoretischen Ansätzen bekannt geworden, die vielversprechende Aussichten eröffnen, freilich Aussichten von einer Kompliziertheit, über die sich in Deutschland weder akademische Kreise noch die Verwaltungspraxis bisher hinreichend Rechenschaft geben. Andererseits ist so wenig sicherer Grund, so wenig konsistente Theorie, geschweige denn empirisch gesicherter Erkenntnisbesitz vorhanden, daß jeder Schritt ins Ungewisse geht. Beides hängt natürlich eng zusammen. Der Kompliziertheitsgrad der Materie, die verwirrende Fülle der empirischen Fakten, die eine Deutung verlangen, die Funktionalisierung aller Maßstäbe und die Variabilisierung aller Konstanten lassen ein Gefühl des Schwindels aufkommen. Je stärker man sich dem konkreten, faktischen Verwaltungshandeln zu nähern, je praxisnäher man zu denken sucht, desto vielfältiger werden die Beziehungs‐ und Deutungsmöglichkeiten, desto abstraktere Denkmittel sind nötig, will man zu sachgerechten Aussagen kommen. Weder im gesetzten Recht noch in einigen übersehbaren Organisationsprinzipien, weder in einer vorgegebenen politischen Ordnung, die allseits Vertrauen genießt, noch in einer unwandelbaren Aufgabenstruktur finden sich letzte und gültige Ansatzpunkte für die Beurteilung des Verwaltungsgeschehens. Und wenn man zuweilen auf Tagungen nachdrücklich vorgehalten bekommt, daß der Mensch im Mittelpunkt aller Dinge stehen müsse, so ist bei der Vielzahl der Menschen, die mittlerweile den Erdball bevölkern, weder diese Vorstellung vollziehbar, noch wird einem mitgeteilt, wo sich dieser Mittelpunkt befindet. Das Tagungspathos bedient sich begreiflicherweise einer Abstraktionshöhe, die eine Aussage zustimmungssicher und unschädlich macht. Abstraktionen werden auch wir nicht vermeiden können. Ist aber über angenehme, weil vertraute Banalitäten hinaus eine Abstraktion möglich, die nicht nur unschädlich, sondern auch nützlich ist?

Trotz des raschen Anwachsens der Forschungen und Theorieversuche in den letzten Jahren, das mit einer Explosion verglichen worden ist,1 besitzen wir keinen theoretischen Bezugsrahmen, der den Verwaltungsvorgang als solchen zum Thema hätte. Es gibt im Grunde nur angelehnte Verwaltungswissenschaften. Ihr jeweiliger Ausgangspunkt liegt in einer der traditionell anerkannten Disziplinen, deren Methode und Begriffe sie auf das Verwaltungsgeschehen übertragen. Daher findet, wer einen Überblick über das Schrifttum zu gewinnen sucht, mehrere Verwaltungswissenschaften, die einander im Stile guter akademischer Arbeitsteilung Respekt bezeugen, sich aber nicht miteinander im Gespräch befinden.2

Darunter leidet auch das Studium der Verwaltungswissenschaft. Man kann nicht sämtliche Wissenschaften studieren, die zum Verständnis des Verwaltungsgeschehens beitragen können. Die Lehre der Verwaltungswissenschaft muß sich daher praktisch auf den Boden einer bestimmten Fachwissenschaft begeben, deren Kenntnis sie bei den Studierenden voraussetzen kann. So bekommt sie auch von den Unterrichtsproblemen her den Charakter einer angelehnten, mit praktischen Spezialproblemen befaßten, »angewandten« Disziplin. Dadurch wird die theoretische Besinnung auf die Eigenart des Verwaltungsvorganges gehemmt.

Diese Situation erschwert die Konsolidierung einer einheitlichen Verwaltungswissenschaft, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in der dafür sehr viel stärker aufgeschlossenen amerikanischen Forschung. In der abendländischen Wissenschaftstradition haben sich neue Wissenschaften zumeist durch Ausgliederung, durch eine Art Zellteilung der vorhandenen, gebildet. Man schied Teilkomplexe aus, deren Selbständigkeit im Fortschreiten einer Mutterwissenschaft erkennbar geworden war – ein Prozeß zunehmender Abstraktion, Differenzierung und Spezialisierung. Die Begründung einer Verwaltungswissenschaft scheint dagegen das umgekehrte Verfahren der Integration zu verlangen. Sie kann, da viele Wissenschaften an der Zeugung beteiligt sind, nicht durch bloße Absonderung geschehen. Sie muß aus mehreren Disziplinen das für sie Brauchbare herausdestillieren und – will sie nicht bei einer eklektischen Ansammlung heterogener Vorstellungen stehenbleiben – daraus eine einheitliche Theorie bilden. Das ist, wenn überhaupt, nur auf dem Wege scharfer Abstraktion möglich. Daß dieser Vorgang sehr viel größere Schwierigkeiten bereitet als der einer einfachen Ausdifferenzierung, liegt auf der Hand. Allein die Orientierung in den verschiedenen Grundwissenschaften überfordert den einzelnen Forscher, zumal der Zug der Zeit zur Spezialisierung und zu wachsenden Genauigkeitsanforderungen geht.

Als Grunddisziplinen der Verwaltungswissenschaft stehen heute namentlich die Rechtswissenschaft (1), die Wirtschaftswissenschaft (vor allem Betriebswissenschaft) (2), die Politische Wissenschaft (3), die Soziologie (4) und die Psychologie (5) in Konkurrenz. Wir müssen auf diese verschiedenen Möglichkeiten in aller Kürze eingehen, um uns ein Bild über ihre Tragweite zu verschaffen.

(1) Die Rechtswissenschaft hat, zunächst in Frankreich, dann auch in Deutschland, das Gebiet der öffentlichen Verwaltung mit nahezu ausschließender Wirkung annektiert. Damit ist die Frage der Richtigkeit der Verwaltungsentscheidung in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, und dies unter ganz speziellen, nämlich juristischen Gesichtspunkten.

Die Kriterien der Richtigkeit einer Verwaltungsentscheidung werden dem gesetzten Recht und der Rechtsprechung entnommen und auf dieser Grundlage rational durchgearbeitet. Der Problemstil ist durch das Streben nach Konsistenz von Normauslegungen bestimmt. In begrenztem Umfange, bei der Auswahl unter sich anbietenden Problemlösungen, spielt der Gedanke an die praktischen Folgen dieser oder jener dogmatischen Variante eine Rolle. Aber es ist nicht Sache der Rechtswissenschaft, diese Folgen als empirische Fakten eigens zu erforschen.

Außerdem kann die Rechtswissenschaft, die davon ausgeht, daß Recht sein soll, nicht nach der Funktion des Rechts für die Verwaltung fragen; denn die Frage nach der Funktion eines Gegenstandes impliziert, daß dieser Gegenstand als ersetzbar behandelt wird. Weil nicht nach der Funktion des Rechts gefragt werden kann, kommt auch nicht deutlich zutage, daß Privatverwaltungen nicht nur von anderen Normen, sondern überhaupt nicht im gleichen Sinne vom Recht beherrscht sind wie öffentliche Verwaltungen, daß die Funktion des öffentlichen Rechts dort anders erfüllt wird. Um diese sprengende Einsicht zu umgehen, isoliert sich die Verwaltungsrechtswissenschaft als Wissenschaft vom öffentlichen Recht auf den Bereich der öffentlichen Verwaltung und schließt Vergleiche mit Privatverwaltungen und erst recht deren thematische Erfassung aus ihrer Zuständigkeit aus. Ihre Sicht auf die »Verwaltungslehre« bleibt, milde gesagt, egozentrisch.3

Bezeichnend dafür sind zwei typische Einstellungen zum Verhältnis von Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungswissenschaft, die man unter Juristen immer wieder vertreten findet: Die eine meint, die Verwaltungsrechtswissenschaft könne sich die rechtlich relevanten Verwaltungshandlungen reservieren, die Verwaltungswissenschaft sei auf die übrigbleibenden Verwaltungshandlungen beschränkt – als ob alle Gegenstände, die farbig sind, deshalb nur von der Optik behandelt werden könnten. Selbst wenn man einsieht, daß es keinen rechtsfreien Raum der Verwaltung gibt, wird daraus nur die ebenso fehlgehende Schlußfolgerung gezogen, die Verwaltungswissenschaft müsse deshalb auf der Verwaltungsrechtswissenschaft aufbauen und von dort her ihre Grundbegriffe beziehen.4 Beide Ansichten verkennen den analytischen Charakter einer Wissenschaft in ihrem Verhältnis zur konkreten Wirklichkeit. Das Verwaltungsrecht, und infolgedessen auch die Verwaltungsrechtswissenschaft, befaßt sich mit den gleichen Tatbeständen...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Allgemeine Soziologie
Schlagworte Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • buch bestseller • Hegel-Preis der Stadt Stuttgart 1988 • Sachbuch-Bestenliste • Sachbuch-Bestseller-Liste • Soziologie • Systemtheorie • verwaltungssoziologie
ISBN-10 3-518-76982-0 / 3518769820
ISBN-13 978-3-518-76982-9 / 9783518769829
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