Wo bin ich? (eBook)

Lektionen aus dem Lockdown

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
180 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77042-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo bin ich? -  Bruno Latour
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Als im März 2020 wegen des Corona-Virus Ausgangsbeschränkungen verhängt wurden, fanden sich viele Menschen wie verwandelt. Sie saßen zwischen ihren wohlbekannten Wänden und fragten sich: Was ist mit mir, was ist mit uns geschehen? Die wechselseitige Abhängigkeit von anderen wurde ihnen ebenso bewusst wie die von einer Umwelt, die längst keine natürliche mehr ist.
In Bruno Latours Essay steht Kafkas Figur Gregor Samsa allegorisch für unsere Situation im Angesicht von Pandemie und Klimawandel. Wir sind auf dem Erdboden der Tatsachen gelandet und haben realisiert, dass es kein Zurück in die alte, von grenzenloser Mobilität und Ressourcenraubbau geprägte Normalität geben kann. Stattdessen müssen wir uns neu in jener hauchdünnen Kritischen Zone verorten, die Leben auf dem Planeten Erde ermöglicht.


<p>Bruno Latour, geboren 1947 in Beaune, Burgund, Sohn einer Winzerfamilie. Studium der Philosophie und Anthropologie. Bruno Latour war Professor am Sciences Politiques Paris. F&uuml;r sein umfangreiches Werk hat er zahlreiche Preise und Ehrungen erhalten, darunter den Siegfried Unseld Preis und den Holberg-Preis. Latour verstarb am 09. Oktober 2022 in Paris.</p>

111. Ein Termite-Werden


Es gibt viele Möglichkeiten anzufangen. Zum Beispiel wie ein Romanheld, der, aus einer Bewusstlosigkeit erwachend, sich die Augen reibt und verstört murmelt: »Wo bin ich?« Gar nicht so leicht für ihn, sich klarzumachen, wo er sich befindet, vor allem wenn er nach einem so langen Lockdown mit einer Maske vor dem Gesicht das Haus verlässt und von den seltenen Passanten nur einen scheuen Blick erhascht.[1] 

Vor allem entmutigt, nein, entsetzt ihn, dass der Mond – seit gestern Abend ist er voll und hell – das Einzige ist, was er noch betrachten kann, ohne sich elend zu fühlen. Die Sonne? Unmöglich, ihre Wärme zu genießen, ohne sofort an den Klimawandel zu denken. Die Bäume, die sich im Wind biegen? Bei ihrem Anblick quält ihn die Furcht, dass sie vertrocknen oder unter der Säge enden. Selbst der Regen vermittelt ihm Schuldgefühle: »Sie wissen doch, dass wir bald überall 12Wassermangel haben werden!« Sich am Anblick einer Landschaft erfreuen? Wo denken Sie hin – wir sind doch für diese ganzen Verschmutzungen verantwortlich, und wenn Sie sich noch für den goldenen Weizen begeistern, dann nur, weil Sie vergessen haben, dass die Agrarpolitik der Europäischen Union den Klatschmohn ausgerottet hat; dort, wo die Impressionisten noch ein schönes Gewimmel malten, sehen Sie bloß die Auswirkungen der Gemeinsamen Agrarpolitik vor sich, die das bestellte Land in Wüsten verwandelt hat … Wahrhaftig, nur noch der Anblick des Monds kann seine Sorgen dämpfen: Zumindest für seine Umlaufbahn, für seine Phasen fühlt er sich in keiner Weise verantwortlich; das ist das letzte Schauspiel, das ihm geblieben ist. Wenn sein Glanz dich derart bewegt, dann deswegen, weil du weißt, dass du an seiner Bahn unschuldig bist. Wie du es früher warst, wenn du dir Felder, Seen, Bäume, Flüsse und Berge angeschaut hast, Landschaften, ohne an die Auswirkungen zu denken, die noch dein geringstes Tun und Lassen auf sie hat. Früher. Es ist gar nicht so lange her.

Wenn ich aufwache, fühle ich mich von Qualen heimgesucht, wie sie der Held von Kafkas Erzählung Die Verwandlung empfand, der sich im Schlaf in eine Schabe, einen Krebs oder eine Kakerlake transformiert hat. Zu seinem Entsetzen ist es ihm von einem Tag auf den anderen unmöglich geworden aufzustehen, um wie gewöhnlich arbeiten zu gehen; er verkriecht sich unter sein Bettzeug; er hört seine Schwester, seine Eltern, seinen Chef an die Schlafzimmertür klopfen, die 13er sorgfältig abgeschlossen hat; er kann sich nicht mehr erheben; sein Rücken ist hart wie Stahl; er muss lernen, seine zappelnden Beinchen oder Scheren zu beherrschen; er merkt nach und nach, dass keiner mehr versteht, was er sagt; sein Körper hat neue Ausmaße angenommen; er empfindet sich als ein »ungeheueres Ungeziefer«.

Mir ist, als hätte auch ich eine wirkliche Verwandlung durchgemacht. Ich erinnere mich noch, wie unschuldig ich früher mitsamt meinem Körper herumreisen konnte. Jetzt spüre ich einen langen CO2-Schweif, den ich hinter mir herziehen muss, der mir verbietet, ein Flugticket zu kaufen und wegzufliegen, und der inzwischen alle meine Bewegungen einschränkt, so dass ich kaum wage, meine Tastatur zu benutzen, aus Furcht, ich könnte irgendeinen fernen Gletscher zum Schmelzen bringen. Aber seit Januar ist es noch schlimmer geworden, denn außerdem treibe ich, wie man mir unablässig wiederholt, eine Aerosolwolke vor mir her, deren feine Tröpfchen winzige Viren verbreiten, die in die Lungen geraten und meine Nachbarn töten können – sie würden in den Betten der überfüllten Krankenhäuser ersticken. Ich muss lernen, vorn und hinten gewissermaßen einen Panzer täglich schlimmer werdender Konsequenzen mit mir herumzuschleppen. Wenn ich mich, unter meiner Operationsmaske mühsam atmend, anstrenge, die Abstandsregeln einzuhalten, komme ich fast nicht voran und nicht sehr weit, denn sobald ich meinen Einkaufswagen zu füllen versuche, wird mir noch elender: Diese Tasse Kaffee zer14stört in den Tropen ein Stück Boden; dieses T-Shirt bringt in Bangladesch ein Kind in Not; von dem blutigen Steak, das ich immer so gerne aß, steigen Methanwolken auf, die die Klimakrise weiter beschleunigen. Ich stöhne, winde mich, fassungslos von dieser Verwandlung – wann werde ich endlich aus diesem Albtraum aufwachen, wieder werden, was ich früher war: frei, anständig, mobil? Ein Mensch alten Schlags, zum Teufel! Im Lockdown meinetwegen, aber bloß für ein paar Wochen; nicht für immer, das wäre wirklich zu grauenvoll. Wer möchte schon wie Gregor Samsa enden, der zur großen Erleichterung seiner Eltern in einem Winkel vertrocknet ist?

Und doch, eine Verwandlung hat durchaus stattgefunden, und es sieht nicht so aus, als könne man, aus diesem Albtraum erwachend, weitermachen wie zuvor. Einmal Lockdown, immer Lockdown. Das »ungeheuere Insekt« muss lernen, in schiefer Lage voranzukommen, sich mit seinen Nachbarn, seinen Verwandten zusammenzuraufen (vielleicht wird ja auch die Familie Samsa anfangen zu mutieren?), alle peinlich berührt von ihren Fühlern, ihren Ausdünstungen, ihren Virus- und Gasschwaden, alle mit ihren Prothesen klappernd, grässlich mit ihren aufeinanderprallenden Stahlflügeln lärmend. »Aber wo bin ich denn?«: Anderswo, in einer anderen Zeit; ein anderer, Angehöriger eines anderen Volks. Wie soll ich mich daran gewöhnen? Tastend natürlich – wie sonst?

Kafka lag ganz richtig: Wenn ich lernen will, mich zu orten und heute eine Bilanz zu ziehen, ist das Schabe-15Werden ein recht guter Ausgangspunkt. Die Insekten sind überall im Aussterben begriffen, aber Ameisen und Termiten gibt es immer noch. Warum nicht ihren Fluchtlinien folgen, um zu sehen, wohin das uns führt?

Die pilzzüchtenden Termiten befähigt ihre Symbiose mit Pilzen, die auf die Verdauung von Holz spezialisiert sind – den berühmten Termitomyces –, aus zerkauter Erde weitläufige Nester zu errichten, in denen sie für eine Art Klimatisierung sorgen. Ein tönernes Prag, in dem jeder Brocken Nahrung in wenigen Tagen den Verdauungskanal jeder Termite durchläuft. Die Termite hat Ausgangssperre, sie lebt sogar in einem exemplarischen Lockdown: Sie verlässt ihren Bau nie! Allerdings hat sie ihn, Krume um Krume bespeichelnd, selbst hergestellt. Daher kann die Termite auch überallhin – wenn sie nur ihren Bau ein wenig weiter ausdehnt. Sie umhüllt sich damit, rollt sich in den Termitenbau ein, der zugleich ihr Inneres und ihre Art ist, eine Außenwelt zu haben, gewissermaßen eine Erweiterung ihres Körpers; Wissenschaftler würden von einem zweiten »Exoskelett« sprechen, das das erste ergänzt (den Panzer, die Segmente und die gelenkigen Beinchen).

Das Adjektiv »kafkaesk« hat eine unterschiedliche Bedeutung, je nachdem, ob damit eine einsame, ohne Nahrung in einem kerkerhaften Universum aus trockenem, braunem Lehm isolierte Termite gemeint ist oder ein Gregor Samsa, der schließlich rundum zufrieden sein Erdhaus verdaut, das Hunderte von Millionen seiner Verwandten und Landsleute aus ver16zehrtem Holz errichtet haben, ein kontinuierlicher Strom, von dem er sich im Vorübergehen einige Moleküle angeeignet hat. Das wäre, nach vielen anderen, eine weitere Verwandlung der berühmten Erzählung Die Verwandlung. Aber dann würde ihn keiner mehr als »Ungeheuer« betrachten; keiner würde mehr versuchen, ihn, Papa Samsas Beispiel folgend, wie eine Kakerlake zu erschlagen. Vielleicht muss ich ihn mit anderen Gefühlen ausstatten, wie man es, freilich aus ganz anderen Gründen, mit Sisyphos getan hat, und verkünden: »Man muss sich Gregor Samsa als glückliches Insekt vorstellen …«

Dieses Insekt-Werden, Termite-Werden würde das Entsetzen dessen zu besänftigen erlauben, der, um sich zu beruhigen, nur den Mond betrachten kann, weil der das einzige ihm nahe Wesen ist, um das er sich keine Sorgen zu machen braucht. Wenn dir angesichts der Bäume, des Windes, des Regens, der Dürre, des Meeres, der Flüsse – und natürlich der Schmetterlinge und der Bienen – derart elend wird, weil du dich verantwortlich für sie fühlst, ja im Grunde schuldig, ihre Zerstörer nicht bekämpft zu haben; weil du in ihre Sphäre eingedrungen bist, ihre Bahn gekreuzt hast. Es ist wahr: Auch du, tu quoque, hast sie verdaut, verändert, verwandelt; hast aus ihnen deine Innenausstattung gemacht, deinen Termitenbau, deine Stadt, dein Prag...

Erscheint lt. Verlag 1.11.2021
Sprache deutsch
Original-Titel Où suis-je?
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Anthropozän • Carolin Emcke • Corona • DONNA HARAWAY • edition suhrkamp 2771 • ES 2771 • ES2771 • Green New Deal • Klima • Klimawandel • lockdown • Nachhaltigkeit
ISBN-10 3-518-77042-X / 351877042X
ISBN-13 978-3-518-77042-9 / 9783518770429
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