Intensiv (eBook)
192 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-44097-4 (ISBN)
Ricardo Lange, Jahrgang 1981, wuchs in einer Plattenbausiedlung in Berlin-Hellersdorf auf, »in den Neunzigern das härteste Pflaster«. Um sich gegen Übergriffe von Jugendgangs zu wappnen, betrieb er Kampfsport und Bodybuilding. Nach diversen Stationen, u. a. als Fitnesstrainer und bei der Polizei, fand er schließlich seine Berufung: Er ließ sich zum Intensivpfleger ausbilden und arbeitet heute als Leasingkraft in unterschiedlichen Berliner Kliniken. Deutschlandweite Berühmtheit erlangte er, als er von Jens Spahn zur Bundespressekonferenz eingeladen wurde und dort vom Krankenhausalltag berichtete. Zu Fragen rund um die Pflege äußert er sich als pfleger.ricardo kritisch bei Instagram, als RicardoLange4 bei Twitter.
Ricardo Lange, Jahrgang 1981, wuchs in einer Plattenbausiedlung in Berlin-Hellersdorf auf, »in den Neunzigern das härteste Pflaster«. Um sich gegen Übergriffe von Jugendgangs zu wappnen, betrieb er Kampfsport und Bodybuilding. Nach diversen Stationen, u. a. als Fitnesstrainer und bei der Polizei, fand er schließlich seine Berufung: Er ließ sich zum Intensivpfleger ausbilden und arbeitet heute als Leasingkraft in unterschiedlichen Berliner Kliniken. Deutschlandweite Berühmtheit erlangte er, als er von Jens Spahn zur Bundespressekonferenz eingeladen wurde und dort vom Krankenhausalltag berichtete. Zu Fragen rund um die Pflege äußert er sich als pfleger.ricardo kritisch bei Instagram, als RicardoLange4 bei Twitter. Jan Mohnhaupt, geboren 1983, lebt als freier Journalist und Autor mehrerer Sachbücher in Magdeburg. Er schreibt regelmäßig für Magazine und Zeitungen wie ›Spiegel Online‹, ›Zeit Online‹ und ›P.M. History‹.
1 NACHTSCHICHT
Als ich das Zimmer betrete, fällt mein Blick sofort auf meine Kollegin aus der Spätschicht. Mit erhobenen Händen steht sie am Bett und drückt eine Blutkonserve fest zusammen. Der Stress ist ihr deutlich anzusehen, und der Überwachungsmonitor zeigt mir auch sofort den Grund dafür: Der Blutdruck der Patientin ist so extrem niedrig, dass die normale Verabreichung der Konserve am Ständer – Tropfen für Tropfen – nicht ausreicht. Die Kollegin presst das Blut regelrecht in den Körper, weil es die Patientin so schnell wie nur möglich braucht.
Zum Zuschauen ist keine Zeit. Ich ziehe mir Latexhandschuhe über, packe sofort mit an und lasse mich nebenbei auf den aktuellen Stand bringen: Die Patientin ist Mitte sechzig und ihr Zustand hoch kritisch. Der Hämoglobinwert sinkt stetig, irgendwo im Bauchraum blutet sie stark. Mir ist sofort bewusst: Das wird eine harte Nacht. Die lebensbedrohliche Situation der Patientin wird meine permanente Anwesenheit an ihrem Bett erfordern. Damit der fortlaufende Blutverlust ausgeglichen werden kann, wird sie in dieser Nacht noch viele Transfusionen benötigen. Zusätzlich ist sie kontinuierlich auf die Gabe von hoch dosiertem Noradrenalin angewiesen, ein sehr potentes, blutdrucksteigerndes Mittel. Kontinuierlich heißt: Die Spritzen in den Perfusoren – Pumpen, die das Medikament in einer von mir gesteuerten Geschwindigkeit injizieren – müssen nahtlos gewechselt werden, damit die Zufuhr nicht unterbrochen wird. Das würde den sicheren Tod der Patientin bedeuten. Zudem sind noch viele weitere Medikamente im Einsatz, wie das Narkosemittel Propofol, Elektrolyte und Insulin, die ich ebenfalls wechsle und immer wieder neu einstelle. Und zu allem Überfluss arbeiten auch ihre Nieren nicht mehr, weshalb sie an einer Dialyse angeschlossen ist. Fast stündlich nehme ich ihr Blut ab, um das Hämoglobinlevel und andere wichtige Werte im Auge zu behalten.
Ich bin vierzig Jahre alt und arbeite seit fast zehn Jahren als Intensivpfleger. In dieser Nacht bin ich auf der internistischen Intensivstation eines Berliner Krankenhauses eingesetzt. Von meinem Zuhause am Stadtrand sind es rund fünfundzwanzig Kilometer über Autobahn und Landstraße bis zur Klinik. Seit einer guten Stunde bin ich unterwegs, zuvor habe ich noch einen Energydrink zu mir genommen. Andere Pflegekräfte trinken Kaffee, bevor sie ihren Dienst antreten, jeder hat so seine Methode, um wach zu bleiben – denn die Verpflichtungen des Alltags lassen es meist nicht zu, tagsüber so viel zu schlafen, dass man einigermaßen ausgeruht ist. Das macht sich mit jeder weiteren Nachtschicht stärker bemerkbar.
Um 21:45 Uhr komme ich auf dem Parkplatz der Klinik an, wo Marc schon auf mich wartet. Marc ist sechs Jahre jünger als ich, ein guter Freund von mir und der Kollege, mit dem ich am liebsten zusammenarbeite. Wir kennen uns schon seit elf Jahren, er hat mit der Ausbildung ein Jahr nach mir angefangen. Als er noch Pflegeschüler war, habe ich ihn bei seinem ersten Einsatz im Rahmen des Projekts »Schüler leiten Schüler« begleitet und eingewiesen. Wir begrüßen uns und laufen gemeinsam vom Parkplatz zur Klinik, in der wir schon öfter eingesetzt waren. (Marc und ich arbeiten in einer Leiharbeitsfirma für Pflegekräfte. Warum wir das tun und nicht fest an einem Krankenhaus angestellt sind, werde ich später noch erklären.) Wir melden uns am Eingang. Im Umkleideraum legen wir den mintgrünen Kasack an, desinfizieren unsere Hände und gehen zur Station. Als externe Zeitarbeiter müssen wir dort klingeln. »Ja, bitte?«, ertönt es aus dem Lautsprecher. »Leasing Marc und Ricardo hier«, sage ich. »Okay, kommt rein.« Die Tür öffnet sich.
In der Regel führt uns unser Weg zunächst in den Aufenthaltsraum, wo der Spätdienst schon auf uns wartet, um die »große Übergabe« zu machen. Hierbei werden wir über alles unterrichtet, was in den letzten Stunden vorgefallen ist, was akut ansteht, wie viele Patienten wir betreuen müssen und was deren Befunde sind: wer eine Bluttransfusion bekommt, wer beatmet werden muss, wer an eine Dialyse angeschlossen ist. Und auch, wer aufgrund einer Patientenverfügung nicht mehr reanimiert oder beatmet werden darf. Aber an diesem Abend ist mal wieder alles anders. Auf der Station ist so viel zu tun, dass der Spätdienst noch beschäftigt ist und die große Übergabe ausfällt. Nur die allerdringlichsten Informationen werden ausgetauscht, dann muss jeder von uns sofort zu seinen ihm zugeteilten Patienten.
Außer für die Frau mit der Blutung im Bauch bin ich noch für zwei weitere Patienten verantwortlich: einen älteren Mann mit einem operierten Bauchaortenaneurysma, der ebenfalls kreislaufinstabil ist, und einen Patienten mit einer Pankreatitis, einer schweren Entzündung der Bauchspeicheldrüse. Seine Leber ist auch nicht mehr die beste, weil er sie über die Jahre hinweg durch Alkohol zerstört hat. Zudem leidet er an einer Blutvergiftung. Alle drei Patienten liegen im künstlichen Koma, alle drei werden beatmet und sind an die Dialyse angeschlossen, bei allen ist der Zustand höchst kritisch.
Ich bin entsetzt. »Wie sollen wir bei dem wenigen Personal alle Patienten lebend durch die Nacht bringen? Was sollen wir machen, wenn der nächste Notfall eingeliefert wird?«, frage ich meine Kollegin aus der Spätschicht. Sie ist nach acht Stunden völlig durch und hat die Nase voll, weil sie immer noch hier am Bett steht, obwohl sie längst Feierabend hätte. Sie weiß, dass auch die kommende Nacht schwierig wird: »Ja, was willste machen?«, blafft sie mich an. »Mehr als arbeiten kannste nicht. Wenn einer stirbt, dann ist es eben so«, sagt sie und verschwindet. Das klingt hart. Und es ist hart. Aber manchmal fällt es einfach verdammt schwer, unter den gegebenen Umständen, das heißt, wenn man selbst am Anschlag ist, mitfühlend zu sein und zu bleiben.
Das Leben dieser drei Menschen liegt jetzt mit in meinen Händen. Nun heißt es, für die bevorstehende Nacht alles effizient vorauszuplanen und mit der Ärztin abzustimmen. Welche Maßnahmen haben die höchste Priorität, welche können noch etwas warten? Bei welchen Patienten ist welches Medikament wann zu wechseln? Ich muss all das im Kopf behalten. Am Monitor stelle ich die jeweiligen Alarmgrenzen ein, damit ich ein Signal bekomme, wenn etwa der Puls oder der Blutdruck zu hoch oder zu niedrig ist. Die meiste Aufmerksamkeit erfordert die blutende Patientin.
Wie so häufig ist die heutige Nacht ein Dienst ohne Pause, mir bleibt höchstens mal ein kurzer Moment, in dem ich ein, zwei Schlucke trinke. Dann muss ich auch schon zurück ans Bett. Sich einfach mal hinzusetzen und durchzuatmen, das ist nicht drin. Ich komme nicht mal auf die Toilette, um zu pinkeln. Das ist aber nicht das Schlimmste. Was mich wirklich fertigmacht, ist das ständige Gefühl, nicht zu genügen, irgendetwas schuldig zu bleiben. Dass ich den Bedürfnissen meiner Patienten nicht vollends gerecht werden kann, passt nicht zu meinem eigenen Anspruch. Aber meine Aufmerksamkeit lässt sich nicht unendlich teilen. Das geht im Grunde allen Pflegekräften und auch Ärzten so. Viele von uns entwickeln klassische Berufskrankheiten wie eine Magenentzündung, weil wir selten in Ruhe essen können, sondern meist nur nebenbei schnell etwas in uns hineinstopfen. Rückenschmerzen und Nackenverspannung sind an der Tagesordnung – bis hin zum Bandscheibenvorfall. Kein Wunder: Zeitdruck und Personalmangel führen oft dazu, dass wir Patienten ohne zusätzliche Hilfe lagern müssen, obwohl dazu eigentlich mindestens zwei Leute benötigt werden. Das macht sich bei Patienten mit Übergewicht natürlich besonders stark bemerkbar.
Rund zwei Stunden sind seit meinem Schichtbeginn vergangen, doch die Patientin blutet immer noch. »Wir müssen ins CT«, sagt die zuständige Ärztin. Die Computertomografie wird meist in einem anderen Trakt des Krankenhauses durchgeführt, endlose Flure, schmale Gänge und den ein oder anderen Fahrstuhl entfernt. Für mich bedeutet das jetzt: die Patientin von der Dialyse abstöpseln, alle Kabel, Schläuche und überlebenswichtigen Geräte so im Bett verstauen, dass sich nichts verheddert, und die Patientin an das mobile Atemgerät anschließen. Den Monitor, der die Vitalwerte anzeigt, muss ich ebenfalls mitnehmen sowie einen Rucksack, der alle Medikamente und sonstiges Equipment enthält, das man für einen eventuellen Notfall braucht. Die Ärztin packt mit an, denn andere helfende Hände gibt es nicht.
Dieses Mal haben wir Glück, dass das CT nicht, wie so häufig, durch Schwerverletzte aus der Rettungsstelle belegt ist, sodass wir sofort aufbrechen können. Meine anderen beiden Patienten muss ich dafür zurücklassen. Der Kollegin aus dem Nachbarzimmer, die selbst mit ihren drei intensivpflichtigen Patienten schwer beschäftigt ist, rufe ich im Vorbeigehen noch die wichtigsten Informationen zu. Sie trägt jetzt bis zu meiner Rückkehr die Verantwortung für fünf Patienten.
Endlich im CT angekommen, ziehen wir die Patientin mit all den Gerätschaften auf den CT-Tisch. Unterstützt werden wir hier von den zwei MTAs, den medizinisch-technischen Assistenten. Beim Umlagern ist absolute Vorsicht geboten, sämtliche Zugänge und vor allem der Beatmungsschlauch dürfen auf keinen Fall herausrutschen. Das Kommando gibt die Ärztin, die den Kopf und den Tubus sichert. Nachdem die CT-Bilder gemacht sind, hieven wir die Patientin gemeinsam wieder zurück ins Bett und treten den Rückweg zur Intensivstation an, wo meine Kollegin schon sehnsüchtig auf uns wartet. Im Zimmer bleibt mir nichts anderes übrig,...
Erscheint lt. Verlag | 20.1.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Applaus • Arbeitsbedingungen • Belastung • Bezahlung • Corona • Covid-19 • Frühschicht • Gesundheitspolitik • Gesundheitspolitik Deutschland • Gesundheitssystem • gesundheit und krankenpflege • Gesundheit und Pflege • I'm a nurse • Intensivbetten • Intensivpflege • Intensivstation • Inzidenz • Klinik • Krankenhaus • Krankenpflege • Krankheit • Maske • Medizin • Metin Dogru • Nachtdienst • Narkose • Pandemie • Patient • Personalmangel • Pflege • Pflegeausbildung • Pflegeberuf • Pflegefachkraft • Pflegekraft • Pflegers Diary • Pflegestation • Sachbuch Neuerscheinung 2022 • Schutzkleidung • Spätschicht • Unterbesetzung • Verantwortung • Wertschätzung |
ISBN-10 | 3-423-44097-X / 342344097X |
ISBN-13 | 978-3-423-44097-4 / 9783423440974 |
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