Philosophieren im Islam -  Souleymane Bachir Diagne

Philosophieren im Islam (eBook)

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2020 | 1. Auflage
172 Seiten
Passagen Verlag
978-3-7092-5034-1 (ISBN)
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<div>Im Islam zu philosophieren, bedeutet, die von der muslimischen Tradition überlieferten Texte den Ansprüchen der Vernunft auszusetzen. Das muslimische kulturelle Universum hat seit Avicenna, Averroes und Ghazali nicht aufgehört, diesen anspruchsvollen Dialog zwischen dem offenbarten Wort und einer Vernunft zu führen, die zu freier Interpretation aufruft.</div><div>In einer Zeit, in der überall die Versuchung der Verschließung und Absonderung lockt und die Gefahren von Kulturkonflikten wachsen, spricht dieses Werk deutlich die Einladung aus, an die alte Tradition des Austauschs anzuknüpfen und die Arbeit an den Fragen unserer Gegenwart damit zu befruchten. Eine Lehre der Vernunft und der Hoffnung.</div>

Souleymane Bachir Diagne, 1955 im senegalesischen Saint-Louis geboren, ist Professor für Französisch und Philosophie an der Columbia University in New York.

Souleymane Bachir Diagne, 1955 im senegalesischen Saint-Louis geboren, ist Professor für Französisch und Philosophie an der Columbia University in New York.

1. Ist es möglich, nicht zu philosophieren?


Im Jahr 632 unseres Zeitalters stirbt Mohammed in Medina. Er wurde zweiundsechzig Jahre alt. Mit vierzig Jahren, im Jahr 610, wurde er zum Propheten, als er mit seiner Mission, den Glauben an einen einzigen Gott zu verbreiten, erklärte, dass er der Träger einer Botschaft sei, Träger des ihm offenbarten Korans, des Wortes Gottes selbst. Aus diesem Wort ist trotz der Verfolgungen, der Verbannung, des erzwungenen Exils und der Versuche, ihn militärisch zu vernichten, eine Religion entstanden, der Islam, der darauf abzielte, die alten Stammesverbindungen aufzulösen und stattdessen eine Gemeinschaft zu errichten, die auf radikal anderen Regeln des individuellen und kollektiven Lebens gründet als das bisher Dagewesene. Der Koran wurde als Inspiration verstanden, aus der diese Gemeinschaft entstand und sich entwickelte. Doch das von Mohammed offenbarte Wort, in dem Gott sagt, wer er ist und welche Bedeutung seine Schöpfung hat, welchen Ursprung und Zweck der Mensch hat, bildet keine Abhandlung über das Regieren oder ein Rechtssystem. Man braucht übrigens nur einen Blick auf die Gestalt des Korantextes zu werfen – der 6236 Verse enthält (oder 6219, je nach Aufteilung), die unterschiedliche Themen behandeln, die wiederum nach ihrem Umfang in 114 Kapitel unterteilt sind, die nach dem Tod des Propheten von seinen engsten Vertrauten zusammengestellt wurden –, um sich davon zu überzeugen, dass man in diesen Versen, bei denen man von einer Erzählung zu einer Ermahnung, von einer Gesetzgebung zu mystischen Vergleichen übergeht, weder eine Abhandlung noch ein System finden kann. Dazu kommt, dass der Korantext, der sehr oft über sich selbst spricht, darauf hindeutet, dass manche seiner Stellen nichts Explizites haben für diejenigen, die sich an ihre bloß buchstäbliche Bedeutung halten wollen, sondern da sind, um diejenigen zum Denken zu bringen, die nachdenken können.

Mohammed brachte prophetische Klarheit in die Fragen, die entstehen konnten, solange er im Kreise seiner Gefährten lebte, die er selbst ausbildete, an der Spitze jener ersten muslimischen Gemeinschaft, deren Anführer er dreiundzwanzig Jahre lang war, in denen die Offenbarung sich in Versen enthüllte, die oft den Umständen geschuldet waren, um ihre Bedeutung zu erhellen, aber auch über sie hinaus gingen. „Wie soll man diese Koranstelle verstehen?“, fragte ein Gefährte. Mohammed machte es deutlich. Was soll man in dieser Situation tun? Er antwortete. Aber er hatte verboten, ihm Probleme reiner Spekulation vorzulegen, sich Situationen in einer Kasuistik auszudenken und zu fabrizieren, die sich selbst zum Gegenstand nimmt und somit von der Bewegung des Lebens löst, das allein die wirklichen Fragen aufwirft. Der Sinn dieses Verbotes ist klar: Man muss die Zukunft offen lassen und darf nicht versuchen, sich Möglichkeiten nur deshalb auszumalen, um sie zu erschöpfen und somit zu verschließen.

Der Tod des Propheten bedeutete gerade die beängstigende Erfahrung dieser Offenheit. Es blieben zwar seine Deklarationen, die manche gesammelt hatten, und die Taten, die er unter vielen Umständen gesetzt hatte; all das bildete seine Tradition, seinen Brauch: seine Sunna, wie der Araber sagt. Wenn man eine Entscheidung, eine Interpretation, eine Meinung bestätigen konnte, indem man auf einen Ausspruch des Propheten (Hadith) zurückgriff, war es, als habe dieser selbst gesprochen. Doch es musste auch einen Ausspruch geben, der auf den in Frage stehenden Fall anwendbar war, und dieser Hadith musste auch authentisch sein. (Als später die Wissenschaft der Traditionen, der Hadithe sich ausbildete, waren die Fragen, für die man Antworten finden musste, um zu entscheiden, ob ein Hadith gut etabliert sei oder nicht, von folgender Art: Welche mündliche Überlieferungskette besteht für diesen Hadith? Ist sie glaubwürdig? Bis zu welchem Punkt?) Und wenn es keinen Hadith gab? Und wenn mehrere Aussprüche, die auf den fraglichen Fall angewandt werden können, in unterschiedliche Richtungen führten? Der Botschaft des Propheten treu zu bleiben, indem man seine Sunna, seinen Brauch weiterführt und somit jede Erneuerung vermeidet, die eine Abweichung von dem Weg darstellt, den er vorgezeichnet hatte, war natürlich das, was es zu tun galt. Doch wenn das Leben selbst ohne Unterlass in Erneuerung begriffen war, wie galt es, diese Treue zu verstehen? Was verlangte sie unter den ständig sich erneuernden Umständen, die die Bewegung des Lebens mit sich bringt?

Der Prophet war noch nicht begraben, als die fürchterliche Erfahrung der Optionen, die sein Tod offenhielt, sich der Gemeinschaft, die er um den Koran und seine eigene Person zusammengeschweißt hatte, auferlegte. Hatte er, als er in seinen letzten Tagen krank gewesen war und seinen Freund und treuen Gefährten Abu Bakr gebeten hatte, die gemeinschaftlichen Gebete zu leiten, nicht damit anzeigen wollen, dass dieser sein Nachfolger (Kalif) an der Spitze der neuen Nation sein solle? Es sei denn, die zahlreichen Bezeugungen der Zuneigung gegenüber seinem Cousin, Adoptivsohn und Schwiegersohn Ali bedeuteten, dass ihm und seiner Nachkommenschaft mit der jüngsten Tochter des Propheten, Fatima, die Rolle des Imams (Führer) der Gläubigen zukomme? Hatte er nicht seine Beziehung zu ihm mit der zwischen Aaron und Moses verglichen? Diejenigen, die erklären, die Partei Alis zu bilden, die Schia Ali, anders gesagt, die Schiiten, standen somit in der Frage, wem es zukommt, die islamische Gemeinschaft zu leiten, denjenigen gegenüber, die entschieden, an ihre Spitze Abu Bakr zu stellen (von 632 bis 634), dann Umar (von 634 bis 644), einen anderen Freund und Gefährten des Propheten, dann Uthman (von 644 bis zu seiner Ermordung 656), ebenso ein Getreuer, der zwei Mal sein Schwiegersohn war, dann Ali selbst (von Uthmans Tod bis zu seiner eigenen Ermordung 662). Jene, die später daran festhielten, dass diese vier ersten Kalifen des Islam alle „rechtgeleitet“ (raschidin) auf dem Weg der Sunna des Propheten waren, nannten sich Sunniten. Die Hauptspaltung im Islam, diejenige zwischen den mehrheitlichen Sunniten und den minderheitlichen Schiiten, war also durch eine politische Frage, die auch zu einer theologischen werden sollte, entstanden, durch die Frage nach dem „Befehlshaber der Gläubigen“. Und doch hielt jede Partei die Frage durch die Treue zum Propheten und zur von ihm verkündeten Botschaft für gelöst. Man wollte, dass die Entscheidung der Diskussion, der Kontroverse, der Spekulation entzogen sei, dass sie sozusagen automatisch aus dem Koran und der Tradition folge. Die Treue erwies sich jedoch selbst als Gegenstand der Spekulation. Wie sollte man vor diesem Hintergrund nicht philosophieren?

Wer soll regieren? Was bedeutet es, eine Gemeinschaft als Nachfolger eines Propheten zu leiten, das heißt eines Gesetzgebers, der im Namen Gottes gesprochen hatte? Eine philosophische Reflexion hatte sich also um diese Fragen zu kümmern. Führen wir sie weiter, bis zu uns heute, wo sie unseren Problemen begegnen, und wir ziehen die Konsequenzen daraus, dass die Frage „Wer soll regieren?“ vom Gesetzgeber offengelassen worden war. Handelt es sich also nicht um eine ausschließlich menschliche Angelegenheit, die als solche in allen ihren Aspekten zu behandeln ist? Wenn nämlich die ursprüngliche muslimische Gemeinschaft ihre vier ersten Kalifen gemäß vier unterschiedlichen Verfahren gewählt hatte (den ersten durch Konsens einer Versammlung der wichtigsten Gefährten, den zweiten durch das Testament des ersten, den dritten durch die „Wahlmänner“, die von seinem Vorgänger bestimmt worden waren, und der letzte war gleichsam gezwungen worden, das Amt des Kalifen in einer Zeit des Aufruhrs und des Bürgerkriegs anzunehmen), dann kann die Lehre daraus gezogen werden, dass es den muslimischen Gesellschaften freisteht, die Form ihrer Staaten und die Verfahren zu entwickeln, denen gemäß sie ihre Vertreter bestimmen. Woher nimmt man nur die Vorstellung, dass man im Islam Religion und Staat nicht trennen könne?! Die Vorstellung, dass die Demokratie nicht als Organisationsform muslimischer Gesellschaften vorstellbar sei?!

Aber auch andere Fragen stellten sich, die mit dem Verständnis des Korantextes selbst verbunden sind, wie etwa die Frage der Prädestination bzw. des freien Willens. Handelt der Mensch gemäß seinem freien Willen oder ist er im Gegenteil von Gott determiniert und also prädestiniert, eher die eine Richtung einzuschlagen als die andere? Ich habe nicht von selbst gehandelt, erklärt al-Chidr3 Moses, als er, bevor er ihn verlässt, ihm die Bedeutung der Handlungen erklärt, die Moses völlig unverständlich, unmoralisch oder völlig unsinnig erschienen waren: Nur wer, indem er den Standpunkt Gottes einnimmt, die weit in der Zukunft liegenden Konsequenzen der unternommenen Handlungen sehen kann, erfasst, wie alles in der unendlichen göttlichen Weisheit vorher angeordnet wurde. Andererseits scheint gerade die koranische Erzählung des Erscheinens des Menschen anzuerkennen, dass er über einen Schatz verfügt, den nur er an den Tag bringen kann: die Freiheit. Die Möglichkeit, die die Engel erschreckt, die fürchten, dass durch die Ankunft des Menschen...

Erscheint lt. Verlag 15.10.2020
Reihe/Serie Passagen Thema
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Peter Engelmann
Übersetzer Richard Steurer-Boulard
Verlagsort Wien
Sprache englisch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Islam
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Austausch • Islam • Offenbarung • Philosophie • Vernunft
ISBN-10 3-7092-5034-X / 370925034X
ISBN-13 978-3-7092-5034-1 / 9783709250341
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