Die Produktion von Gesellschaft (eBook)
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491565-4 (ISBN)
Ernst-Wilhelm Händler, 1953 geboren, lebt in Regensburg und München. Er ist Autor der Romane »Das Geld spricht«, »München«, »Der Überlebende«, »Welt aus Glas«, »Die Frau des Schriftstellers«, »Wenn wir sterben«, »Sturm«, »Fall« und »Kongress« sowie des Erzählungsbandes »Stadt mit Häusern«. Mit »Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument« und »Die Produktion von Gesellschaft« hat Ernst-Wilhelm Händler eigene Kulturtheorien vorgelegt. Darüber hinaus schreibt er Essays über ökonomische, gesellschaftliche und künstlerische Themen. Für seine von der Kritik hochgelobten Romane erhielt er den Erik-Reger-Preis, den Preis der SWR-Bestenliste, den Kulturpreis der Stadt Regensburg und den Hans-Erich-Nossack-Preis.
Ernst-Wilhelm Händler, 1953 geboren, lebt in Regensburg und München. Er ist Autor der Romane »Das Geld spricht«, »München«, »Der Überlebende«, »Welt aus Glas«, »Die Frau des Schriftstellers«, »Wenn wir sterben«, »Sturm«, »Fall« und »Kongress« sowie des Erzählungsbandes »Stadt mit Häusern«. Mit »Versuch über den Roman als Erkenntnisinstrument« und »Die Produktion von Gesellschaft« hat Ernst-Wilhelm Händler eigene Kulturtheorien vorgelegt. Darüber hinaus schreibt er Essays über ökonomische, gesellschaftliche und künstlerische Themen. Für seine von der Kritik hochgelobten Romane erhielt er den Erik-Reger-Preis, den Preis der SWR-Bestenliste, den Kulturpreis der Stadt Regensburg und den Hans-Erich-Nossack-Preis.
0 Vorbemerkung
Die Gesellschaften der Gegenwart sind zuallererst dadurch gekennzeichnet, dass auf allen Ebenen und unablässig produziert wird. Das geschieht ohne ein übergeordnetes Ziel und ohne Gesamtsinn. Gesellschaft besteht aus Produktionsumgebungen: Die hier vorgeschlagene Gesellschaftstheorie betrachtet Gesellschaft als eine je nach den historischen Gegebenheiten strukturierte Ansammlung beziehungsweise Abfolge von Produktionsumgebungen.
Wenn wir über Produktion sprechen, heißt das keineswegs, dass wir etwa gegenüber der kapitalistischen Ökonomie als Praxis und Theorie bedingungslos die weiße Flagge zeigen. Nichts liegt uns ferner, als einem Primat der Ökonomie das Wort zu reden, schon gar nicht in Bezug auf die Gesellschaftstheorie. Der Gedanke der Produktion ist in allen Gliederungen und Untergliederungen der Gesellschaft gegenwärtig. Er wirkt im Kleinen wie im Großen. Unser Ziel ist, den Gedanken der Produktion zu isolieren und seinen grundsätzlichen Einfluss auf Gesellschaft zu erkunden. Produktion ist nicht an ein spezifisches ökonomisches Regime gebunden. Weder an ein dezentralisiert kapitalistisches noch an ein sozialistisch zentralisiertes. Nicht an eine klassische Wettbewerbsökonomie mit Preissystem, aber auch nicht an andere Koordinationsmodelle wie zum Beispiel Matching Markets ohne Preise. Der Gedanke der Produktion ist völlig unabhängig von den Modellen der Profitmaximierung durch Firmen und der Nutzenmaximierung durch Konsumenten. Ökonomische Theorie bedeutet immer auch Optimierung, als Nahziel, Fernziel oder, wie bei Behavioral Economics, zumindest als Referenzpunkt. In der Gesellschaftstheorie können optimierende Modelle höchstens Spezialfälle darstellen.
Produktion und Optimierung müssen entkoppelt werden. Produktion meint nicht automatisch Optimierung. Produktion bedeutet: In einer Produktionsumgebung gibt es Handlungsalternativen, Pläne und realisierte Pläne. In einer Produktionsumgebung kann etwas produziert werden, in einer Produktionsumgebung werden Pläne gemacht, in einer Produktionsumgebung wird tatsächlich etwas produziert. Die Entscheidungsinstanz kann ein einzelner Mensch sein, eine Gruppe von Menschen oder auch Software. Innerhalb einer Produktionsumgebung gibt es Ziele und Sinn. Optimierung ist lediglich eins von unendlich vielen möglichen Zielen. Ökonomischer Sinn für einzelne Produktionsumgebungen oder für eine Ansammlung von Produktionsumgebungen ist nur eine Sorte von unendlich vielen möglichen Sinngebungen.
Wir werden einen Vorschlag machen, wie Produktion und Gesellschaft zweckmäßig formal modelliert werden können. Uns ist bewusst, dass formale gesellschaftstheoretische Modelle in der Soziologie nur geringen und in der Gesamtgesellschaft gar keinen Rückhalt haben. Die zur Begleitung bereiten Leser und Leserinnen mögen die Bemühung als ein Gedankenspiel sehen, das zu Denkwegen führt, die auf den ersten Blick abwegig erscheinen, die jedoch überraschende Anschlussmöglichkeiten bieten.
Die Versuche zu klären, ›was das Soziale eigentlich ist‹, sind Legion. Ein Forschungsprojekt, das alle Sozialtheorien katalogisiert, die in der Geschichte der Menschheit eine Rolle gespielt haben beziehungsweise vorgeschlagen wurden, wäre ein Unterfangen, das nie an ein Ende kommen würde. Zur Nomenklatur: Wir unterscheiden zwischen Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie. Alle Gesellschaftstheorien sind auch Sozialtheorien, aber nicht jede Sozialtheorie stellt auch eine Gesellschaftstheorie auf.
Jede Gesellschaft und jede Subgesellschaft bastelt sich ihre eigene mehr oder weniger komplexe Gesellschaftstheorie. Wir berücksichtigen in diesem Buch die Systeme Niklas Luhmanns, die Netzwerke von Harrison White und Bruno Latour, die verschiedenen Soziologien Pierre Bourdieus, die Handlungstheorie von Gabriel Tarde und die Sinnüberschuss-Theorie von Dirk Baecker. Wir gehen ausschließlich auf Ansätze ein, die ein Minimum an formaler Entschlossenheit aufweisen.
Luhmanns Ziel ist ein klassisches: Er will klären, was Gesellschaft ist. Gesellschaften und Subgesellschaften sind soziale Systeme. Die Netzwerke von White und Latour sind soziale Situationen. Gesellschaft kann als ein besonderer Typ von Netzwerk oder als eine Zusammenballung von Netzwerken aufgefasst werden. Aber weder White noch Latour sind wirklich daran interessiert, einen Gesellschaftsbegriff zu definieren. Man könnte formulieren: Sie bieten Gesellschaftstheorien ohne Gesellschaften an. Wir glauben, dass das ein Fehler ist. Ein Gesellschaftsbegriff ist nötiger denn je: Die Bedrohung der Ökologie des Planeten erfordert Gegenmaßnahmen, über die sich möglichst viele Verursacher einigen müssen. Es geht hier nicht um den Konflikt zwischen Zusammenballungen von Menschen, zwischen sozialen Systemen oder sozialen Netzwerken. Alle Zusammenballungen von Menschen, alle sozialen Systeme und alle sozialen Netzwerke sehen sich der Möglichkeit des Untergangs gegenüber, wenn die Ökologie des Planeten weiter in die lebensfeindliche Richtung umgestaltet wird. Der einen Bedrohung muss einheitlich begegnet werden, dazu gehört auch eine prononcierte Gesellschaftstheorie. Eine in der gegenwärtigen Situation adäquate Theorie des sozialen Lebens muss einen Beitrag leisten, die Zersplitterung der Ursachen für die ökologische Bedrohung nicht zu maximieren, sondern zu reduzieren.
Die in diesem Buch aufgestellte Gesellschaftstheorie schlägt in Bezug auf zwei sehr heterogene Tendenzen des soziologischen Gegenwartsdenkens die Gegenrichtung ein: Gesellschaftliche Dynamik und nicht Stasis bildet den Orientierungspunkt. Unabhängig davon wird angestrebt, dass sich die Gesellschaftstheorie der Philosophie annähert, anstatt den Abstand zwischen den beiden weiter zu vergrößern.
Die aktuellen Formalisierungsvorschläge soziales System, Network und Actor-Network sind ihrer verbalen Intention nach dynamisch, in ihrer tatsächlichen Performance jedoch statisch. Sie haben nur geringe Anstöße zur empirischen Untersuchung der Dynamik sozialer Entwicklung gegeben. Das im Folgenden vorgeschlagene Begriffsgerüst, die Produktionstheorie der Gesellschaft, versucht dezidiert, der gesellschaftlichen Dynamik den ihr zukommenden Raum zu geben. Eine tragende Rolle spielen hier Ersetzbarkeit und Ersetzung. Die Ersetzbarkeit von Individuen ist eine der besonders eingängigen Eigenschaften des Begriffes Gesellschaft. Gesellschaftliche Differenzierung führt dazu, dass auch ganz andere Entitäten Kandidaten für Ersetzungen werden. Ersetzbarkeit wird zum Kern unseres Begriffsgerüsts zählen.
In der Gegenwart ist die Kommunikation zwischen der Philosophie und der Sozialtheorie durchaus prekär. Bis zum Aufstieg der Analytischen Philosophie im 20. Jahrhundert waren Philosophie und Gesellschaftstheorie untrennbar verbunden. Ziel der Analytischen Philosophie war, philosophische Probleme möglichst durch den Rückgriff auf mengentheoretische und entsprechende logische Methoden zu lösen. Weil Mathematik und Logik essenziell zeitlos sind, koppelte sich die Analytische Philosophie von der Position der Beobachterin in der Zeit und ihrer Vorgeschichte ab. Da eine zeitlose gesellschaftliche Position keinen Sinn macht, war damit eine Absage der Analytischen Philosophie an die Gesellschaftstheorie verbunden. Der Verzicht wurde von der Analytischen Philosophie mit einem generellen physikalischen Reduktionismus verbunden, der Beschäftigung mit Gesellschaftstheorie weitgehend überflüssig machen sollte. Alle biologischen und sozialen Phänomene sollten auf physikalische zurückgeführt werden, der Akt der Rückführung wurde als eine reine Fleißaufgabe betrachtet. Angesichts der unzähligen Emergenzphänomene bereits in der Physik erscheint diese Geisteshaltung nicht erst heute unbegreiflich. Als Folge des Schismas zwischen Gesellschaftstheorie und Analytischer Philosophie fanden wichtige Einsichten der Analytischen Philosophie über die Sprache, über das interne Funktionieren von wissenschaftlichen Theorien und über die Kognition von Individuen keinen Eingang in die Sozialtheorie.
In der Gegenwart hakt die Kommunikation zwischen Sozialtheorie und Philosophie sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene. Auf der Makroebene stehen sich der neue philosophische Realismus und der Konstruktivismus der Gesellschaftstheoretiker und Gesellschaftstheoretikerinnen unversöhnlich gegenüber. Die neuen Realisten des 21. Jahrhunderts unter den Philosophen und Philosophinnen insistieren auf der Existenz einer vom Beobachter unabhängigen Wirklichkeit. Dagegen nimmt es die überwiegende Mehrzahl der Gesellschaftstheoretiker und Gesellschaftstheoretikerinnen als gesichert, dass der Beobachter oder die Beobachterin die jeweilige Wirklichkeit konstruieren. Auf der Mikroebene herrscht eine Berührungsphobie zwischen den Detailuntersuchungen der neuen Analytischen Philosophen und den philosophischen Anstrengungen der Physiker und Physikerinnen auf der einen Seite und den soziologischen Studien des Wissenschaftsbetriebs auf der anderen Seite. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in ständig größer werdendem Ausmaß Philosophie innerhalb der Naturwissenschaften betrieben wird. Physiker und Physikerinnen, Philosophen und Philosophinnen blenden gleichermaßen aus, dass hinter Formeln Scientific Communities stehen. Soziologen und Soziologinnen behandeln Scientific Communities als Stammesgesellschaften, die unzugängliche Sprachen sprechen.
Indem die Produktionstheorie der Gesellschaft Möglichkeiten und realisierte Möglichkeiten immer unter einem Handlungsgesichtspunkt betrachtet, ist sie in der Lage, die Kommunikationsstörungen zwischen Sozialtheorie und Philosophie wirkungsvoll...
Erscheint lt. Verlag | 9.3.2022 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Agency • Bruno Latour • constraints • Dirk Baecker • Harrison White • Komplexität • Netzwerk • Niklas Luhmann • Pierre Bourdieu • Produktionsumgebung • Sinnüberschuss • Subgesellschaften • Systeme • Systemtheorie • Transformation • Zerstörung |
ISBN-10 | 3-10-491565-2 / 3104915652 |
ISBN-13 | 978-3-10-491565-4 / 9783104915654 |
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