Lost & Found (eBook)
304 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491597-5 (ISBN)
Kathryn Schulz, geboren 1973 und aufgewachsen in Cleveland, Ohio, ist Journalistin und Schriftstellerin. Sie studierte an der Brown University und war Literaturkritikerin beim »New York Magazine«, bevor sie 2015 als Redakteurin zum »New Yorker« ging. Schulz ist Trägerin des National Magazine Award und wurde 2016 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Nach dem Tod ihres Vaters schrieb sie den Essay »Losing Streak« (»Pechsträhne«), der sie zu »Lost & Found« inspirierte. Mit ihrer Frau, der Autorin Casey Cep, lebt Schulz an der Ostküste von Maryland.
Kathryn Schulz, geboren 1973 und aufgewachsen in Cleveland, Ohio, ist Journalistin und Schriftstellerin. Sie studierte an der Brown University und war Literaturkritikerin beim »New York Magazine«, bevor sie 2015 als Redakteurin zum »New Yorker« ging. Schulz ist Trägerin des National Magazine Award und wurde 2016 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Nach dem Tod ihres Vaters schrieb sie den Essay »Losing Streak« (»Pechsträhne«), der sie zu »Lost & Found« inspirierte. Mit ihrer Frau, der Autorin Casey Cep, lebt Schulz an der Ostküste von Maryland. Nicole Seifert ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und Verlagsbuchhändlerin. Heute arbeitet sie als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin. 2019 wurde ihr Blog »Nacht und Tag« vom Börsenverein des deutschen Buchhandels als bester Buchblog ausgezeichnet. Ihr vielbesprochenes Sachbuch »FRAUEN LITERATUR. Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt« (Kiepenheuer & Witsch) erschien 2021.
II Finden
Eine wahre Geschichte, die mir sehr am Herzen liegt, handelt von einem elfjährigen Jungen namens Billy, der beinahe von einem herunterfallenden Stern getroffen wurde. Es geschah an einem Sonntagabend im Sommer. Nach der Kirche setzte er sich mit seinen Eltern zum Mittagessen zusammen und ging anschließend über eine Weide und ein Maisfeld zum Hof der Johnsons. Roger Johnsons war in Billys Alter und für die beiden waren Sommersonntage selbst so etwas wie ein Feld – weit und offen, keine Erwachsenen, die auf sie aufpassten, kein Schultag, der drohend vor ihnen lag, der Tag hatte keine Grenze, nur die natürliche der Dunkelheit. Sie spielten Murmeln, sie kletterten auf Bäume, sie veranstalteten Schlachten mit den auf dem Boden liegenden Maiskolben, die ihnen als Munition dienten. Wenn diese Schlachten eskalierten, durchsuchten sie Schuppen und Schrotthaufen, nagelten ein Brett zwischen zwei junge Bäume, spannten einen Fahrradschlauch darüber und erklärten die Konstruktion zum Raketenwerfer. Erst wenn die Vögel anfingen zu lärmen und sich das Licht vom Himmel verzog, sagte Billy auf Wiedersehen und machte sich auf den Heimweg, um zu melken.
In der Kindheit ist die Welt riesengroß. Selbst ein bescheidener Vorstadtgarten hat seine geheimen Gefahren und Königreiche; dort, wo Billy aufwuchs, trennten einen Nachbarn vom andern in der Regel fünfzig Hektar und so ein Heimweg konnte ganze Epochen und Zivilisationen umspannen. Weiter als das Land war nur der Himmel; er musste den gesamten Raum ausfüllen, den der sich fast vollkommen flach von einem Horizont zum anderen erstreckende Boden nicht ausfüllte. An manchen Tagen legten Roger und er sich, wenn sie die Kühe über die Straße treiben sollten, mit ihnen zusammen auf die Weide und sahen den Verwandlungen der Wolken zu: ein einsamer Drache, der seinen Schwanz entrollt, ein Löwe, der sich auf seinen Hinterbeinen zurücklehnt, eine dunkelgraue Weite wie das Meer bei schlechtem Wetter, ständig in Bewegung, aber so sauber gefurcht wie frisch gepflügte Erde. An manchen Abenden saß Billy nach getaner Pflicht allein hinter der Scheune und sah zu, wie die Sterne erschienen, erst einer nach dem anderen, dann in Gruppen und irgendwann in großen Mengen – zehn Millionen Fremde, die sich mit ihren Fackeln auf einem anderen, unfassbar weit entfernten Feld versammeln.
An diesem Abend jedoch begann der Himmel sich gerade an seinem fernen Ende zu verdunkeln, die ersten Sterne waren noch kaum zu sehen, als Billy, der immer noch auf dem Heimweg war, sich umdrehte. In späteren Jahren konnte er nie sagen, was ihn dazu brachte – vielleicht nur eine Laune, der Impuls, ein Weilchen rückwärts zu gehen, wie Kinder es so tun, oder vielleicht eine Bewegung am Rand seines Blickfelds oder ein Geräusch, das er nicht zuordnen konnte. Einen nahen Meteoriten kann man im Fallen genauso wenig hören wie einen Apfel, wenn er vom Baum fällt. Man kann jedoch hören, wie die Erde auf den Sinkflug aus großer Höhe reagiert. Die von Meteoriten erzeugte elektromagnetische Energie ist so stark, dass die Gegenstände, die sie absorbieren – Bäume, Zaunpfähle, Brillengläser, Haare – sich aufheizen und ausdehnen und alle möglichen seltsamen Geräusche von sich geben. Zeugen von Meteoriteneinschlägen beschrieben ein Pfeifen, Knacken, Grummeln, Zischen, Knistern und einen Knall wie von einer Kanone. Weil diese starke Energie auch Veränderungen des Luftdrucks bewirken kann, glauben manche Physiker*innen und Planetenforscher*innen, dass sogar gehörlose Menschen einen Meteoritenfall »spüren« können.
Was auch immer Billy dazu brachte, als er sich umdrehte, raste etwas vom Himmel. Es war klein und dunkel und kam direkt auf ihn zu; erschrocken drehte er sich um und rannte weg. Als er schließlich stehen blieb und sich wieder umsah, war das Etwas verschwunden. Er verfolgte seine Schritte zurück und versuchte es zu finden, aber je länger er suchte, desto schwächer wurde das Licht, bis er es schließlich aufgab und durch die heraufziehende Dunkelheit weiter nach Hause ging. Am nächsten Tag ging er wieder dorthin und obwohl er gar nicht wusste, wonach er suchte, war es ihm sofort klar, als er es entdeckte:
vollkommen fehl am Platz dort in der Erde, glatt und außergewöhnlich schwer in seinen Händen, ergreifend wie das unendliche All, aus dem er gestürzt war – er hatte ihn gefunden.
Wie erstaunlich es ist, etwas zu finden. Kinder, die darin besonders gut sind – vor allem, weil die Welt für sie noch so neu ist, dass sie gar nicht anders können, als sie wahrzunehmen – begreifen das und finden automatisch Vergnügen daran. Den fröhlichen Ausruf »Schau mal, Mama, was ich gefunden hab!« hört man deshalb auch dann, wenn es sich beim fraglichen Gegenstand um eine tote Schnecke auf den Stufen vor der Haustür handelt. Und sie haben recht, das so zu empfinden. Etwas zu finden ist normalerweise lohnend und manchmal belebend: das Wiedersehen mit etwas Altem oder die Begegnung mit etwas Neuem, ein glückliches Zusammentreffen von uns mit einem bisher fehlenden oder geheimnisvollen Teil des Kosmos.
Eine Liste solcher Begegnungen würde viel dickere Bücher als dieses füllen, weil Finden, wie Verlieren, eine gigantische Kategorie ist, die vor scheinbar unzusammenhängenden Dingen von Golddublonen bis Gott schier platzt. Wir können Sachen finden wie Stifte zwischen Sofakissen oder aber neue Planeten in weit entfernten Sonnensystemen, oder Dinge, die gar keine Dinge sind: inneren Frieden, alte Mitschüler*innen aus der Grundschule, die Lösung eines Problems. Wir können Dinge finden, die uns gar nicht gefehlt haben in unserem Leben (zum Beispiel einen neuen Job oder eine Imbissbude um die Ecke), und wir können etwas finden, das so gut versteckt war, dass praktisch niemand anders auch nur nach ihm gesucht hätte (wie Quarks oder Gliazellen).
Trotz dieser Vielfalt nimmt Finden immer eine von zwei Formen an. Die erste ist das Wiederfinden: wir können etwas finden, das wir vorher verloren haben. Die zweite ist das Entdecken: wir können etwas finden, das wir nie zuvor gesehen haben. Wiederfinden macht die Auswirkung des Verlustes im Wesentlichen wieder rückgängig. Es ist eine Rückkehr zum Status quo, die Wiederherstellung von Ordnung in unserer Welt. Eine Entdeckung verändert dagegen unsere Welt; statt uns etwas zurückzugeben, gibt sie uns etwas Neues.
Beide Ergebnisse klingen wunderbar, aber keine der zwei Formen löst das Versprechen gänzlich ein. Eine Socke wiederzufinden, die fünfzehn Wäschen lang verschwunden war, mag befriedigend sein – eine Art erleichterter Triumph, der eigentlich das Ende eines Ärgernisses ist – aber niemand empfindet deshalb Glück oder Ehrfurcht. Noch schlimmer, manchmal entdecken wir Sachen, die wir lieber nicht entdeckt hätten. Ein Radiologe, der ein Röntgenbild betrachtet, entdeckt den dunklen Schatten eines Tumors; ein Sohn, der seine genetische Geschichte erforscht, erfährt, dass sein Vater Kinder mit einer anderen Frau hatte. Aber das sind die Ausnahmen einer ziemlich zuverlässigen Regel: meistens ist es so erfreulich, etwas zu finden, wie es unerfreulich ist, etwas zu verlieren.
Manchmal ist es sogar mehr als erfreulich; manche Funde verändern unser Leben von Grund auf. Viele Faktoren trugen dazu bei, dass der Tod meines Vaters schwierig war; dazu, ihn erträglich zu machen, trug jedoch eine Sache mehr bei als alle anderen: Im Jahr, bevor er starb, verliebte ich mich. Um diese Erfahrung geht es im Folgenden. Aber so wie jede Trauergeschichte eine Auseinandersetzung mit einem Verlust ist, ist jede Liebesgeschichte die Chronik eines Fundes, die private Geschichte einer außergewöhnlichen Entdeckung. Und so, wie mich der Tod meines Vaters dazu brachte, darüber nachzudenken, was große Verluste mit kleinen gemeinsam haben, brachte mich das Finden der Liebe dazu, darüber nachzudenken, was es mit dem Finden generell gemeinsam hat.
Eine der wichtigsten Eigenschaften des Findens habe ich bereits erwähnt: Etwas zu finden ist fast immer erfreulich. Wenn das Gefundene fraglos einen Wert hat, ist das offensichtlich. Natürlich ist es wunderbar, die wahre Liebe zu finden oder das verlorene Tagebuch oder hundert Dollar auf einem Parkplatz. Aber auch der Akt des Findens an sich hat einen Wert. Vor einigen Jahren habe ich beispielsweise auf dem Nachhauseweg einen Umweg gemacht, kam bei einem Trödler vorbei, der mir noch nie aufgefallen war, schaute, was auf dem einzigen staubigen Brett mit Büchern stand und kaufte für einen Dollar die wunderschöne Erstausgabe eines Gedichtbandes von Langston Hughes – mit Widmung und Unterschrift des Autors. Ich bezweifle, dass ich jemals wieder über etwas stolpern werde, das objektiv einen solchen Wert hat, aber es war nicht nur der tatsächliche Wert der Entdeckung, der es aufregend machte. Hätte ich den Hughes einem Antiquar abgekauft, besäße ich genau denselben Gegenstand, es würde sich aber anders anfühlen, und das nicht nur, weil ich viel mehr Geld dafür ausgegeben hätte. Was diesen Fund bemerkenswert machte, war nicht nur der Ort, an dem ich das Buch fand – versteckt zwischen Angelzeug, Farbdosen und Stapeln leerer Bilderrahmen –, sondern auch die unwahrscheinliche Tatsache, dass ich gerade im richtigen Moment da war.
Selbst wenn man den intrinsischen Wert eines Fundes abzieht, bleibt dieser Wert noch übrig. Bei demselben Trödler erstand ich später einen kleinen gusseisernen Wal, vielleicht zwölf Zentimeter lang, der mich stolze fünfundzwanzig Cents kostete und den ich sehr schätze für sein...
Erscheint lt. Verlag | 29.11.2023 |
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Übersetzer | Nicole Seifert |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Abschied • Beziehung • Ehe für alle • Familie • Familiengeschichte • Große Liebe • Hoffnung • Homosexualität • H wie Habicht • Jüdische Diaspora • LGBTQ • Liebe • Liebe und Trauer • Memoir über Verlust und Liebe • New Yorker • Persönliche Entwicklung • Pulitzer-Preis • Schicksal • Selbstfindung • Tod • Trauer • Trauerarbeit • Trost • Umgang mit Tod und Verlust • Vater • Verlust des Vaters • Verlust eines Elternteils • Verlust und Neuanfang |
ISBN-10 | 3-10-491597-0 / 3104915970 |
ISBN-13 | 978-3-10-491597-5 / 9783104915975 |
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