»I can't breathe« (eBook)

George Floyds Leben in einer rassistischen Welt
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
560 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491598-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

»I can't breathe« -  Toluse Olorunnipa,  Robert Samuels
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Ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis 2023 in der Kategorie »General Nonfiction« Am 25. Mai 2020 ging ein Video um die Welt, das den Mord an George Floyd zufällig festhielt: Ein Polizist kniet neun Minuten und 29 Sekunden auf Floyds Hals und lässt auch nicht davon ab, als Floyd mehrmals ruft: »I can't breathe« - »Ich kann nicht atmen!« Der Mord an George Floyd hat die Welt erschüttert und globale Black-Lives-Matter-Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt ausgelöst. In der ersten Biographie Floyds rekonstruieren die preisgekrönten Reporter Robert Samuels und Toluse Olorunnipa von der »Washington Post« die großen Zusammenhänge: Die Lebensgeschichte von George Floyd zeigt exemplarisch, wie Rassismus unsere Gesellschaften durchdringt und sein tödliches Gift entfaltet. Floyds Familie war schon seit Generationen Opfer von Rassismus. Und auch er selbst hatte mit den typischen Problemen eines Schwarzen in den USA zu kämpfen: ein Schulsystem, das Schwarze systematisch benachteiligt, die Hoffnung, durch den Sport dem Elend zu entkommen, die alltägliche Drangsalierung der Polizei, Erfahrungen im Gefängnis, Opioid-Sucht und die verzweifelten Versuche, ein normales Leben zu führen. Samuels und Olorunnipa haben für ihre Biographie mit mehr als 150 Menschen Interviews geführt, darunter Floyds Geschwister, erweiterte Familienmitglieder, Freunde, Kollegen, Beamte, Wissenschaftler und Aktivisten. Differenziert, breit recherchiert und packend erzählt, macht dieses Buch deutlich, wie tief die Probleme liegen und was auf dem Weg zu wahrer Gleichberechtigung zu tun bleibt.

Toluse Olorunnipa, 1986 in Nigeria geboren, wuchs in Tallahassee, Florida, auf. Er studierte Soziologie an der Stanford University und berichtete für die »Washington Post« aus dem Weißen Haus. Seine Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. von der Society of Professional Journalists und der Diverse Future Initiative.

Toluse Olorunnipa, 1986 in Nigeria geboren, wuchs in Tallahassee, Florida, auf. Er studierte Soziologie an der Stanford University und berichtete für die »Washington Post« aus dem Weißen Haus. Seine Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. von der Society of Professional Journalists und der Diverse Future Initiative. Robert Samuels wuchs in der Bronx auf und studierte an der Northwestern University. Seit 2011 berichtet er für die »Washington Post« über politische Themen. Er war Finalist für den Livingston Award for Young Journalists und den Toner Prize for National Political Reporting, die höchste Auszeichnung für politische Berichterstattung in den USA. Henning Dedekind, geboren 1968, studierte Amerikanistik, Soziologie und Rechtswissenschaften in Tübingen, Erlangen und Bayreuth. Er übersetzt seit über 15 Jahren Sachbücher aus dem Englischen, u. a.  Masha Gessen, David Graeber, David Grann, Katja Hoyer, Henry Kissinger,  Frank Trentmann und Bob Woodward. Sigrid Schmid, geboren 1975, studierte Anglistik, Linguistik und Informatik in Tübingen und Dublin. Sie übersetzt seit über zehn Jahren Sachbücher aus dem Englischen,  u.a. Harold James, Jaron Lanier und Paul Theroux. Karin Schuler, geboren 1965, studierte Latein und Geschichte in Tübingen und Bonn. Sie übersetzt seit über 30 Jahren Sachbücher aus dem Englischen, u.a. John Barton, Howard French, Ivan Krastev, Ian Mortimer, Philippa Perry, Janina Ramirez, Ulinka Rublack, und Frank Trentmann.

Die Autoren verstehen es, die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten in George Floyds Leben aufzuzeigen. (...) eine fundierte Argumentation, Rassismus als Struktur, nicht als Individualeigenschaft anzuerkennen

das Buch bekommt in seinem Ton so eine Intensität, die über den eines Sachbuches hinaus geht.

In dem erschütternden, präzisen und mit viel Aufwand recherchierten Buch "I can't breathe" zeichnen die Journalisten Toluse Olorunnipa und Robert Samuels das Leben Floyds nach.

Einleitung: Blumen


»Ich liebe dich.«

George Perry Floyd Jr. sagte dies zu Männern, Frauen und Kindern, zu Verwandten, alten Freund*innen und Fremden, zu Beziehungspartnerinnen, platonischen Bekannten und den Frauen, die irgendwo dazwischen lagen, zu hartgesottenen Gaunern und obdachlosen Junkies, zu Berühmtheiten und Nobodys aus dem Viertel.

Floyd sagte diesen Satz so oft, dass viele Freund*innen und Familienmitglieder keinen Zweifel an den letzten Worten hegten, die er zu ihnen sprach. Er beendete Telefongespräche mit dieser Redewendung und tippte sie in Großbuchstaben am Schluss von Textnachrichten.

»In Ordnung, meinetwegen, Mann«, sagte De’Kori Lawson, als er Big Floyd, wie er von seinen Freunden genannt wurde, zum ersten Mal diese Worte sagen hörte. »Wir sprechen uns später, Mann.«

Im Laufe der Jahrzehnte lernte er Floyds Ernsthaftigkeit zu schätzen, als die beiden Menschen durch Waffengewalt, Drogenüberdosen, Polizeigewalt und andere Gefahren verloren, die junge Schwarze Männer wie sie erwarteten, die in einer rauen, oft lieblosen Wirklichkeit heranwuchsen.

»D, ich liebe dich, Bro«, sagte Floyd zu seinem Freund bei ihrem letzten Telefonat im Frühjahr 2020.

»Ich liebe dich auch, Mann«, antwortete Lawson daraufhin.

»Wir haben immer gesagt, wir würden einander Blumen schenken, bevor wir sterben«, erinnert sich Lawson. »Und genau das zeigt, was für ein Mensch er war.«

 

In Floyds letzten Wochen zeigte sich angesichts des zerrütteten Zustands der Welt, wie wichtig es ist, Freund*innen Liebe und Blumen zu schicken, solange sie noch leben. Im Frühjahr 2020 wütete die COVID-19-Pandemie, der jeden Tag Tausende US-Amerikaner*innen zum Opfer fielen, die zahlreiche Unternehmen lahmlegte und Millionen von Menschen arbeitslos machte. Wie viele Schwarze Amerikaner war auch Floyd besonders anfällig für den gnadenlosen Ansturm der Pandemie. Bei ihm war eine asymptomatische Form der Viruserkrankung diagnostiziert worden. Obendrein hatte er seinen Job verloren, als der Club in Minneapolis, in dem er als Wachmann gearbeitet hatte, zwangsweise hatte schließen müssen.

Da sich der größte Teil des Landes im Lockdown befand, verbrachte Floyd einen Großteil seiner Zeit am Telefon, um mit alten Freund*innen zu plaudern und sich bei Verwandten in seiner Heimatstadt Houston zu melden. Er war drei Jahre zuvor von Texas nach Minneapolis gezogen, in der Hoffnung, sein Leben neu zu ordnen und sich von seiner Drogensucht zu befreien, doch hatte er erst kürzlich die Vorwahl seines Mobiltelefons von der 832 für Houston in 612 geändert, ein Zeichen dafür, dass er sich seiner Wahlheimat in den »Twin Cities« nun verbunden fühlte. Eines dieser Telefonate führte er mit seinem Bruder Terrence, dessen zweijährige Tochter ihn an sein eigenes kleines Mädchen Gianna erinnerte.

»Meine kleine Nichte, oh Mann«, sagte Floyd am Telefon und bewunderte die Babyfotos, die Terrence ins Internet gestellt hatte. »Wenn ich wieder okay bin, hole ich Gianna hierher, und du bringst die Kleine mit, und dann können wir uns zum Spielen treffen.«

»Ich bin dabei«, antwortete Terrence.

»Alles klar, Bro, ich liebe dich«, sagte Floyd, bevor er auflegte.

Floyds Bemerkung darüber, dass er wieder »okay« werde, hätte sich auf eine ganze Reihe von Dingen in seinem Leben beziehen können. Seine Versuche, in Minnesota wieder auf die Beine zu kommen – mit dem Ziel, endlich das Sorgerecht für Gianna zu bekommen –, endeten oft als arge Fehlschläge. Andauernd stolperte er über seine eigenen Fehler und über Hindernisse, auf die er keinen Einfluss hatte, nicht zuletzt über eine Pandemie, die seine Einkommensquelle versiegen ließ.

Floyds emotionale Bekundungen waren für seine Geschwister nichts Neues. Als Teenager hielt Floyd inne, um seine Schwester Zsa Zsa zu umarmen und ihr zu sagen, dass er sie liebe, bevor er mit seinen Freunden das Haus verließ – gerade leise genug, damit die anderen Kinder es nicht mitbekamen.

Gemeinsam mit seiner Schwester LaTonya hatte Floyd als Kind Liebeslieder im Karaoke-Stil gesungen, und als sie in jenem Mai zum letzten Mal miteinander sprachen, schwelgten sie in Erinnerungen und stimmten ihre Lieblingsmelodie an:[1] »Keep on Loving You« von REO Speedwagon aus dem Jahre 1980 – And I’m gonna keep on lovin’ you / Cause it’s the only thing I want to do …[2] Als junger Mann hatte Perry, wie ihn seine Familie nannte, hochfliegende Ambitionen. Er wollte Richter am Supreme Court, Profisportler oder Rap-Star werden. In den Monaten vor seinem Tod, als seine Welt aus den Fugen geriet, hatte er bescheidenere Ziele verfolgt: ein wenig Stabilität, einen Job als Lastwagenfahrer, eine Krankenversicherung. Doch in den letzten Sekunden seines Lebens, als er unter dem Knie eines weißen Polizisten erstickte, gelang es Floyd, noch einmal seine Liebe auszudrücken.

»Mama, ich liebe dich!«, schrie er vom Bürgersteig aus, wo seine Rufe »I can’t breathe« (»Ich kann nicht atmen«) auf eine Gleichgültigkeit stießen, die so tödlich war wie Hass.

»Reese, ich liebe dich« – gemeint war sein Freund Maurice Hall, der bei ihm war, als er am Abend des Memorial Day in Handschellen abgeführt wurde.[3]

»Sagt meinen Kindern, dass ich sie liebe!«

Diese Worte markierten das Ende eines Lebens, in dem Floyd immer wieder feststellen musste, dass seine Träume beschnitten, blockiert und zunichte gemacht wurden – nicht zuletzt wegen seiner Hautfarbe.

Wie Millionen anderer Amerikaner*innen sahen wir entsetzt zu, als das Video von Floyds Ermordung im Sommer 2020 in den Nachrichtensendungen und in den sozialen Medien gezeigt wurde. Die erschütternden Aufnahmen weckten in uns den Wunsch, nicht nur etwas über die verhängnisvollen 9 Minuten und 29 Sekunden zu erfahren, in denen er nach Luft rang, sondern auch einen Blick auf das Leben zu lenken, das ihnen vorangegangen war, und den Herzschlag der historischen Bürgerrechtsbewegung zu verstehen, die auf das Ereignis folgte.

Diese Mission führte uns an Orte, die wir ansonsten wohl nie besucht hätten. Dabei gingen wir zwei wesentlichen Fragen nach: Wer war George Floyd? Und wie war es, in seinem Amerika zu leben?

Bei der Beantwortung dieser Fragen mussten wir vor Schüssen in Deckung gehen, als wir mit seinem Mitbewohner am George Floyd Square waren, dem Erinnerungsort in Minneapolis an der Kreuzung, wo man ihn getötet hatte. Wir saßen beim Sonntagsessen mit seiner großen Familie zusammen und genossen den Blaubeerkuchen und die kandierten Süßkartoffeln, die er einst so gern gegessen hatte. Wir ließen uns von seinem Friseur, mit dem er seine tiefsten Ängste und Nöte geteilt hatte, die Haare schneiden. Wir zogen mit Floyds engsten Freunden durch Houstons Third Ward und hörten zu, wie sie über alte Erinnerungen lachten und ein tragisch verkürztes Leben beweinten. Wir besuchten mit seinem Bruder die Kirche und mit seiner Freundin Tarot-Sitzungen, während sie alle versuchten, das Ganze zu verarbeiten, und saßen dann an ihrer Seite, wenn sie zusammenbrachen, weil es ihnen nicht gelang. Floyds Angehörige reagierten mit einer Offenheit und Transparenz, die uns einen lebhaften Eindruck von seiner Menschlichkeit vermittelten. Ihre Erinnerungen verdeutlichten den lähmenden Druck eines Systems, dem Floyd letztlich nicht entkommen konnte, auch wenn er immer wieder versucht hatte, sein Leben neu zu ordnen und seine Vergangenheit zu überwinden.

Insgesamt führten wir mehr als 400 Interviews, um dieses Bild von Floyds persönlicher amerikanischer Erfahrung zu zeichnen. Wir sprachen mit seinen sechs Geschwistern ebenso wie mit seinen Tanten, Onkeln, Vettern, Nichten, Neffen, Geliebten, Freund*innen, Arbeitgeber*innen, Lehrer*innen, Trainern, Mannschaftskameraden, Zellengenossen, Mitbewohner*innen, Berater*innen und vielen anderen mehr. Daneben befragten wir auch zahlreiche Personen, die Floyd nicht persönlich gekannt hatten, die jedoch mit den gesellschaftlichen Kräften vertraut sind, die seinen Weg bestimmten. Dutzende politischer Entscheidungsträger*innen, Professor*innen, Polizeichef*innen und anderer Expert*innen unterstützten uns bei der Darstellung der US-amerikanischen Institutionen, die den Verlauf von Floyds Leben prägten. Unsere Recherchereise führte uns auch zu Augenzeug*innen, Gemeindevertreter*innen, Bürgerrechtler*innen, Stadträt*innen, Bürgermeister*innen, Gouverneur*innen, Senator*innen und zum Präsidenten.

Mehr als ein Jahr waren wir in Houston, Minneapolis, Washington, D.C., und anderswo unterwegs – wir gingen durch die Straßen, in denen Floyd Freunde hatte sterben sehen, wir standen auf den Sportplätzen, auf denen er von sportlichem Ruhm geträumt hatte, wir hörten uns die Mixtapes an, auf denen er über seine Unsicherheiten rappte, wir lasen die Tagebucheinträge, in denen er sich über seine Verfehlungen ärgerte, wir saßen in den Therapiezentren, in denen er Erlösung gesucht hatte. Am Ende bekamen wir einen Eindruck davon, was George Floyd antrieb, von seinen persönlichen Grenzen und von seiner Seele.

Doch je mehr wir über Floyds Weg erfuhren, desto klarer wurde uns, dass sein Leben auch ein anschauliches Beispiel dafür ist, wie Rassismus in den USA funktioniert. Floyds Geschichte und die Geschichte seiner Familie verkörpern viele der sich gegenseitig verstärkenden und unerbittlichen...

Erscheint lt. Verlag 25.5.2022
Übersetzer Henning Dedekind, Marlene Fleißig, Katja Hald, Sigrid Schmid, Karin Schuler, Violeta Topalova, Gabriele Würdinger
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Akron • Antirassismus • Black lives matter • BLM • Bürgerrechtsbewegung • Derek Chauvin • Diskriminierung • Drogen • Gefängnis • Ghetto • Intersektionalität • Investigativer Journalismus • Jayland Walker • Kolonialismus • Ohio • Opioidkrise • people of colour • Polizeigewalt • Pulitzer-Preis • Reportage • Sklaverei • struktureller Rassismus
ISBN-10 3-10-491598-9 / 3104915989
ISBN-13 978-3-10-491598-2 / 9783104915982
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