Zwei Enthüllungen über die Scham (eBook)

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2022 | 1. Auflage
208 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491562-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zwei Enthüllungen über die Scham -  Robert Pfaller
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Eine scharfsinnige und provokante philosophische Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Debatte um das Thema »Shaming« von SPIEGEL-Bestseller-Autor Robert Pfaller. In unserer Kultur der sozialen Medien finden viele, dass andere sich schämen sollten: Großkonzerne, Steuerhinterzieher, weiße, männliche Heterosexuelle, Dicke, Hässliche, Gegner. Früher wollte man mit Andersdenkenden diskutieren. Heute versucht man, sie nicht zu Wort kommen zu lassen. Das ist wie bei der Scham. Denn bei der Scham muss immer etwas weg: Jemand möchte im Boden versinken oder am liebsten tot sein. In seinem neuen Buch »Zwei Enthüllungen über die Scham« untersucht Robert Pfaller die Hintergründe dieses Phänomens. Er widerlegt die beiden Hauptirrtümer über die Scham: die »Außenleitung« bei den Kulturanthropologen und das »Idealungenügen« bei den Philosophen. Dadurch können bessere Strategien entwickelt werden, um uns aus den leidvollen Zuständen der Scham zu befreien. Denn es hilft nicht, Barbiepuppen zu modifizieren oder dickere Models auf Laufstege zu schicken. Erst ein besseres Verständnis der Scham eröffnet den Blick für Auswege aus den Sackgassen der aktuellen Pseudo-Schamkultur. Pfallers Stärke »liegt in seiner Fähigkeit, paradoxen Entwicklungen unserer Zeit auf die Spur zu kommen und auf einen treffenden Begriff zu bringen.« Konrad Paul Liessmann

Robert Pfaller, geboren 1962, studierte Philosophie in Wien und Berlin und ist nach Gastprofessuren in Chicago, Berlin, Zürich und Straßburg Professor für Philosophie an der Kunstuniversität Linz. Von 2009 bis 2014 war er Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst Wien. In den Fischer Verlagen ist von ihm »Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur« (2008) erschienen, die vielbeachtete Studie »Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie« (2011), »Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere« (2012) sowie im Fischer Taschenbuch »Kurze Sätze über gutes Leben« (2015). Mit Beate Hofstadtler hat er außerdem den Band »After you get what you want, you don't want it. Wunscherfüllung, Begehren und Genießen« (2016) herausgegeben. Nach »Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur« (2017) erschien 2020 »Die blitzenden Waffen. Über die Macht der Form«. 2020 wurde ihm der Paul-Watzlawick-Ehrenring verliehen.

Robert Pfaller, geboren 1962, studierte Philosophie in Wien und Berlin und ist nach Gastprofessuren in Chicago, Berlin, Zürich und Straßburg Professor für Philosophie an der Kunstuniversität Linz. Von 2009 bis 2014 war er Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst Wien. In den Fischer Verlagen ist von ihm »Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur« (2008) erschienen, die vielbeachtete Studie »Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie« (2011), »Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere« (2012) sowie im Fischer Taschenbuch »Kurze Sätze über gutes Leben« (2015). Mit Beate Hofstadtler hat er außerdem den Band »After you get what you want, you don't want it. Wunscherfüllung, Begehren und Genießen« (2016) herausgegeben. Nach »Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur« (2017) erschien 2020 »Die blitzenden Waffen. Über die Macht der Form«. 2020 wurde ihm der Paul-Watzlawick-Ehrenring verliehen.

immer wieder schöne, klare Sätze, die erhellende Einsichten vermitteln.

Ein schönes Plädoyer für Diskretion, Haltung und den zunehmend in Vergessenheit geratenen Modus des “Als-ob”.

ein fulminanter Essay, der Kulturtheorie und Gegenwartsdiagnostik mit vielen gedanklichen Gänsehautmomenten zusammenführt.

Pfaller liefert […] einen die Augen öffnenden Blick auf die heutige Debattenkultur und die Cancel Culture sowie deren exzessiv moralisierenden, anklagenden und verletzten Unterton.

Robert Pfallers scharfsinniger Essay über die Scham ist nicht nur eine philosophische Analyse, sondern auch eine Abrechnung mit einer "Cancel-Culture".

Pfaller ist ein sehr gelehrtes und lehrreiches Buch gelungen; eines, das viel Mitdenken verlangt, aber auch tiefe Einsichten in unsere von Scham dominierte Debattenkultur ermöglicht.

1. Die Scham als Luxusartikel.
Eine Maske verhohlenen Stolzes


»Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als Verächter.«

 

Friedrich Nietzsche ([1886]: 73)

Der Titel von Léon Wurmsers großer Studie »Die Masken der Scham«[2] bezeichnet eine scharfsinnige Erkenntnis: nämlich dass die Scham sich – wie es ihrem schamhaften Wesen entspricht – oft unter anderen Gestalten versteckt, die ihr als Maske dienen: So erscheint sie zum Beispiel als Kälte, Arroganz, Angeberei, Exhibitionismus oder auch Aggression.[3] Wurmsers Erkenntnis hat wohl die Tür aufgestoßen zur Einsicht, wie oft die Scham im Alltagsleben anzutreffen ist und welche bedeutende Rolle sie darin spielt. So ist mit etwas Verspätung in den letzten Jahrzehnten, in der Nachfolge von Wurmsers Entdeckung und nach merkwürdig langem Schweigen der Theorie, eine umfangreiche Forschung und Literatur zum Thema entstanden.

Wurmsers Titel kann aber auch in die entgegengesetzte Richtung gelesen werden – im Sinn des »genitivus subiectivus«. Denn die Scham wird nicht nur oft von etwas anderem maskiert; sie ist vielmehr mitunter auch selbst eine Maske für etwas anderes.[4] Dies ist die Gestalt, in der wir sie gegenwärtig vorwiegend beobachten können: als eine Maske, hinter der sich zum Beispiel ein gewisser Stolz verbirgt. Man ist stolz, dass man so viel Schamgefühl, so viel Sensibilität, Achtsamkeit und Sinn für das Peinliche besitzt; und darum trägt man seine Scham nun auch ähnlich selbstbewusst zur Schau wie früher eine exklusive Armbanduhr oder eine teure Handtasche. Die Scham steht offenbar auch deshalb gegenwärtig so sehr im Rampenlicht, weil sie ein Luxusartikel geworden ist, ein Distinktionsgut. Sie schmückt jene Menschen, die sich so etwas Kostbares leisten können und sich dadurch als etwas Besseres zu erkennen geben möchten. Schließlich muss man schon einiges besitzen, um »Flugscham« empfinden zu können – im Vergleich etwa zu jenen nicht wenigen, die in ihrem Leben überhaupt noch nie in einem Flugzeug gereist sind. Auch »Autoscham« ist nur für jene Menschen erschwinglich, die so wohnen, dass sie leicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit dem Fahrrad ihre lebenswichtigen Wege erledigen können; ein Vorteil, über den die meisten ländlichen Pendler oder Bewohner von urbanen Außenbezirken leider nicht verfügen.

Die meisten aktuellen Formen von Scham, die in neuen Wortschöpfungen wie den eingangs genannten ihren Ausdruck finden, gehören zu diesem Typus eines – oft recht dünn – maskierten Stolzes. Auch in dieser Oberflächengestalt aber lohnt die Scham eine eingehendere Betrachtung. Denn auch sie liefert wertvolle Hinweise über das, was die Scham ausmacht und was von vielen bedeutenden Theorien regelmäßig verkannt wurde. Zwei große Irrtümer, deren Folgen immer gleich mehrere wissenschaftliche Disziplinen erfasst haben, sollen in diesem Buch beleuchtet werden: (1) der Irrtum vom angeblich »außengeleiteten« Charakter der Scham (im Gegensatz zur »innengeleiteten« Schuld«) sowie (2) der Irrtum, die Scham bestünde in einer vom Über-Ich ausgeübten Bestrafung des Ich für dessen Verfehlen eines Ideals. Bevor diese beiden Irrtümer dargestellt und kritisiert werden, soll ein kurzer Parcours die aktuellen, für die Gegenwart charakteristischen Gestalten der Scham veranschaulichen.[5] Dabei sollen erste Indizien gesammelt werden, die bei der Aufhebung der beiden genannten, bis heute wirkmächtigen Irrtümer hilfreich sein könnten.

Konsumscham


Ein großer Teil aktueller schamhafter Regungen bezieht sich auf das Gefühl, zu viel oder das Falsche zu konsumieren.[6] Viele »less-is-more«-Initiativen lehren die Angehörigen oberer urbaner Mittelschichten, dass man, sofern man über gute Informationen und ein dichtes Netz an Sozialkontakten verfügt, viele Dinge, darunter auch Geld, nicht mehr im üblichen Ausmaß zu besitzen braucht – zum Beispiel, weil man sich den Besitz einer selten gebrauchten Bohrmaschine ja teilen, weil man manche benötigte Leistungen wie Massieren gegen andere Leistungen wie Spanischlernen tauschen, oder weil man benötigte Gebrauchsgegenstände wie Taschen oder Kleinmöbel durch »Upcycling« von Abfallmaterialien herstellen kann. Mit viel high-tech, guter Vernetzung und hochqualifiziertem Erfindungsgeist ermöglichen manche Kreativberufler sich derart ein Bild einfachen Lebens. Immerhin geben sie damit zu denken. Denn sie eröffnen auf diese Weise nicht zuletzt auch eine gewisse Perspektive auf ihre vermeintlichen Vorgänger in der Antike – wie etwa den legendären kynischen Philosophen Diogenes von Sinope, der im Fass gewohnt, ja sogar noch seine Trinkschale weggeworfen haben soll, als er einen Hirtenjungen aus der hohlen Hand trinken sah.[7] Vielleicht waren ja schon die antiken Kyniker, die den Namen ihrer Schule von den Hunden bezogen, die sie sich zum Vorbild eines schlichten, scham- und vorurteilsbefreiten Lebens nahmen, nicht ganz so mittellos, wie sie ihre Umgebung sowie die Nachwelt glauben machen wollten, sondern schwammen gleichsam geschickt an der Oberfläche eines sie umgebenden urbanen Wohlstandes. Andererseits jedoch deuten manche der überlieferten Äußerungen doch in eine andere Richtung. So zum Beispiel zwei, die Diogenes von Sinope zugeschrieben werden:

»Als er einst auf dem Markte Onanie trieb, sagte er: ›Könnte man doch den Bauch auch ebenso reiben, um den Hunger los zu werden.‹«[8]

sowie

»Als man ihm vorrückte, daß er auf dem Markte gegessen habe, sagte er: ›Habe ich doch auf dem Markte auch gehungert.‹«[9]

Solche Belege dokumentieren Erfahrungen der Entbehrung, die den meisten heutigen Hipster-Lebenskünstlern doch recht fremd geblieben sein dürften.

Der Impuls, im Gegensatz vielleicht noch zu der einer Mangelwirtschaft entstammenden Eltern- oder Großelterngeneration, den eigenen Konsum kritisch und schamhaft zu überdenken und ihn »postmaterialistisch« einzuschränken, entstammt vor allem dem Programm der »mündigen Konsumenten« oder »prosumers«,[10] die darauf abzielten, durch bewussten Konsum auf die Herstellungsbedingungen von Produkten Einfluss zu nehmen. Als sich ab Mitte der 1980er Jahre die politische Gestaltungskraft westlicher Staaten im Schwinden befand und diese nicht mehr in der Lage oder gewillt schienen, die großen Konzerne auch nur in den elementarsten Fragen zu lenken, entstand die Hoffnung, die Konsumenten könnten dies an ihrer Stelle leisten. Firmen, die zum Beispiel die Umwelt verschmutzten oder Minderjährige als Arbeitssklaven oder Kindersoldaten einsetzten, sollten mit der Waffe des Einkaufskorbes dafür bestraft werden. Freilich erwies diese Strategie sich bald als schwierig durchführbar, denn sie verlangte von den Konsumenten umfassendes Wissen über die gesamte Wertschöpfungskette sämtlicher von ihnen benötigter Güter (ein Wissen, das oft nicht einmal die jeweiligen Hersteller selbst besaßen). Außerdem entstanden Dilemmata hinsichtlich der politischen Prioritäten: Sollte zum Beispiel die Mode lieber »ethical«, also einwandfrei hinsichtlich der Behandlung der eingesetzten Arbeitskräfte sein, oder aber lieber »ecological«, also möglichst umweltfreundlich hergestellt und nach Gebrauch wieder biologisch abbaubar?[11] Zu allem Unglück waren auch diese Fragen selbst wieder bestimmten Moden unterworfen und von den Herstellern geschickt kommerzialisierbar. So konnte man zum Beispiel in bestimmten kalifornischen Modegeschäften eine Zeitlang keine Sportschuhe kaufen, ohne dass damit zugleich ein zweites Paar an ein afrikanisches Kind ging. Ob diese Kinder wirklich am dringendsten solche Sportschuhe benötigten, oder aber nicht doch eher Zugang zu sauberem Trinkwasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung und Bildung, blieb freilich dahingestellt.

Immerhin hinterließ diese postmoderne Politisierung der Konsumenten eine tiefe Spur im Bewusstsein westlicher Bevölkerungen. Kaum jemand ist noch imstande, jemals ohne den Schatten eines Zweifels ins Einkaufsregal zu greifen, und kaum ein Einkauf verläuft noch ganz reibungslos, ohne zumindest eine Spur von dunkel geahnter Scham zu hinterlassen. Als Hinweis für die Theorie liefert all dies immerhin bereits die Andeutung, dass solche Scham angesichts eigener Bedürfnisse nicht das Problem eines Mangels, sondern vielmehr das eines Überschusses darstellt – wie ja die ganze Problematik insgesamt typisch für Überflussgesellschaften ist. Wir werden auf diesen Punkt im zweiten Kapitel dieses Buches (das der zweiten Enthüllung über die Scham gewidmet ist) ausführlicher zurückkommen.

Verbrauchsscham


Verwandt mit dem Problem der Konsumscham sind alle aktuellen Formen der Scham, die den Umstand betreffen, dass Menschen sich selbst als Faktoren eines obszönen Verbrauchs begreifen. Dazu gehört zum Beispiel die Scham angesichts eines ungünstigen ökologischen Fußabdrucks. Vielen, auch solchen, die keine überzeugten Anhänger von »Fridays for Future« sind, mag diesbezüglich der zornige Ruf Greta Thunbergs »How dare you?« in den Ohren hallen.[12] Sie überdenken dann zum Beispiel, ob sie wirklich ein so schweres oder so stark motorisiertes Auto brauchen, oder ob es ein halb so schweres oder halb so starkes (oder sogar auch ein dank elektrischer Zusatzmotoren...

Erscheint lt. Verlag 25.5.2022
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte außengeleitet • bodypositivity • Bodyshaming • Depression • Emanzipation • Fatshaming • Gewissen • Idealungenügen • Kulturanthropologie • Minderwertigkeit • Models • Norm-Verletzung • Psychoanalyse • Ruth Benedict • Schamkulturen • Scham-Politik • Schuldkulturen • Soziale Medien
ISBN-10 3-10-491562-8 / 3104915628
ISBN-13 978-3-10-491562-3 / 9783104915623
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