Sensibel (eBook)
240 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11663-2 (ISBN)
Svenja Flaßpöhler ist Chefredakteurin des Philosophie Magazin. Die promovierte Philosophin war leitende Redakteurin bei Deutschlandfunk Kultur, wo sie die Sendung »Sein und Streit« verantwortete. Mit Wolfram Eilenberger, Gert Scobel und Jürgen Wiebicke gestaltet sie das Programm der »Phil.cologne«, dem größten Philosophiefestival Deutschlands. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt, die Streitschrift »Die potente Frau« wurde ein Beststeller.
Svenja Flaßpöhler ist Chefredakteurin des Philosophie Magazin. Die promovierte Philosophin war leitende Redakteurin bei Deutschlandfunk Kultur, wo sie die Sendung »Sein und Streit« verantwortete. Mit Wolfram Eilenberger, Gert Scobel und Jürgen Wiebicke gestaltet sie das Programm der »Phil.cologne«, dem größten Philosophiefestival Deutschlands. Ihre Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt, die Streitschrift »Die potente Frau« wurde ein Beststeller.
I: Prozess der Sensibilisierung
Geschichte der Zivilisation mit Norbert Elias
Die Gegenwart mit ihren Verwerfungen hat eine lange Geschichte, in der sich die menschliche Sensibilität nach und nach herausgebildet hat. In seinem berühmten Werk »Über den Prozeß der Zivilisation« beschreibt der Soziologe Norbert Elias diese Entwicklung ausführlich und konkret anhand von Praktiken wie Tischsitten, Hygieneregeln oder Ehebräuchen. Machen wir an dieser Stelle einen radikalen Zeitsprung und unternehmen ein kleines Gedankenspiel, um den zivilisatorischen Weg, den der Mensch im Lauf der letzten Jahrhunderte zurückgelegt hat, zu veranschaulichen. Wir befinden uns im europäischen Mittelalter und stellen uns einen circa dreißigjährigen Mann im 11. Jahrhundert vor – und zwar so, wie sich sein Leben unter Rückgriff auf Elias erschließen lässt. Nennen wir ihn Johan.
Johan ist Ritter. Seine Ausbildung begann im Kindesalter. Gewalt gehört zu seinem Leben, er kennt es nicht anders. Rücksichtnahme oder Fürsorglichkeit kommen in seiner Welt genauso wenig vor wie gewisse für uns heute übliche Grundregeln des Benehmens. Johan schnäuzt sich ganz selbstverständlich in die Finger. Beim Essen an einer großen Tafel nimmt er sich mit derselben Hand Fleischstücke direkt von der Platte auf der Mitte des Tisches, wo das getötete Tier kurz zuvor zerteilt wurde. Gabel und Löffel gibt es ebenso wenig wie Taschentücher, sein Essen führt sich Johan mit seinem eigenen Messer zwischen die Zähne, das er aus guten Gründen stets bei sich trägt.[1] Wenn Johan Hunger hat, macht er sich über das Fleisch her, tunkt gierig sein angebissenes Stück in die gemeinsame Soßenschüssel, schmatzt, schnaubt, spuckt und nimmt auch beim Sprechen kein Blatt vor den Mund. Schmeckt es ihm nicht, sagt er es. Alle Themen, auch Reizthemen, spricht er an, wie ihm der Schnabel gewachsen ist,[2] Verletztheiten anderer, sollte es sie überhaupt geben, verlaufen unterhalb seiner Wahrnehmungsschwelle. Das Glas teilt sich Johan mit seinen Sitznachbarn, oft schwimmen Brotkrumen und Essensreste im Getränk, was Johan aber nicht weiter stört. Wenn er zwischendurch den Drang verspürt, seine Notdurft zu verrichten, hockt er sich in einen Gang. Wird er nachts vom Harndrang geweckt, pinkelt er in eine Ecke des Schlafzimmers. Ob er bei seiner Entleerung gesehen wird, ist ihm ganz gleich. Ebenso, ob andere ihn nackt zu Gesicht bekommen. Sich entblößt vor sozial Niederstehenden zu zeigen, ist völlig normal. Im Bad wird Johan von Frauen bedient. Auch der Nachttrunk wird ihm von Frauen gereicht, was für einen Mann wie ihn, der sich auch sexuell keine Grenzen setzt, gewisse Vorteile birgt.[3] »Es ist nicht peinlich, es ist die natürliche und selbstverständliche Ordnung der Welt, daß die Krieger, die Edlen, Muße haben, sich zu vergnügen, und daß die anderen für sie arbeiten«, schreibt Norbert Elias im ersten Band seines Werks. »Es fehlt die Identifizierung von Mensch zu Mensch.«[4] Noch deutlicher wird er ein paar Seiten später: »Ihre Affekte (die der Krieger; SF) befriedigt es, sich von den anderen unterschieden zu wissen. Der Anblick des Kontrastes erhöht die Lust am Leben.«[5]
Als Johan heiratet, sieht es der Brauch vor, dass er den Geschlechtsakt mit seiner Angetrauten – ihr Name sei Christiane – im Brautgemach vor Zeugen vollzieht. Nur dann ist die Ehe gültig (»Ist das Bett beschritten, ist das Recht erstritten«[6]).
Als Ritter lebt und brennt Johan ganz und gar für den Kampf. Seine einzige wirkliche Sorge ist, von einem Stärkeren besiegt zu werden, Härte und Widerstandsfähigkeit sind überlebenswichtig. Johans eigenen Grausamkeiten indes gebietet niemand Einhalt. Keiner legt die Hand schützend über die Schwachen und Wehrlosen. Johan plündert Kirchen, vergewaltigt, quält Witwen und Waisen, verstümmelt seine Opfer. Einmal hat er in einem Kloster hundertfünfzig Männern und Frauen die Hände abgeschnitten und die Augen ausgequetscht. Christiane ist übrigens nicht zimperlicher als ihr Mann, im Gegenteil. Niederstehenden Frauen lässt sie die Brüste abschneiden oder die Nägel ausreißen.[7] Die eigene Gewaltbereitschaft ist für Johan lebenswichtig und lustbesetzt. Herrscht gerade kein Krieg, kämpft Johan in Turnieren, die nicht weniger brutal verlaufen. Wer die »Entzückung«[8] des Tötens nicht besitzt, stirbt schnell.
Vor diesem Hintergrund braucht kaum noch gesagt zu werden, dass Johan keinen Sinn hatte, ja haben konnte für die Schönheit der Umwelt. Natur: Das war Gefahr und barg jederzeit die Möglichkeit eines Hinterhalts, der früh genug erkannt werden musste. War er in Wäldern oder auf dem freien Feld unterwegs, spähte er nur nach Feinden.
Das sensible Selbst
Kommen wir zur Gegenwart. Circa tausend Jahre später: Aus Johan ist Jan geworden. Wohnhaft in einer Großstadt, verheiratet, zwei Kinder im Grundschulalter. Sozialer Status: gehobene Mittelklasse.
Jan wurde, als er selbst klein war, kein einziges Mal geschlagen. Nie käme es ihm in den Sinn, Hand anzulegen, auch bei seinen Kindern setzt er selbstverständlich auf die Kraft von Zuwendung und Diskurs. Er nimmt sich Zeit für sie, schmust und spricht ausführlich mit ihnen, fühlt sich ein in ihre Welt. Wenn er seiner sechsjährigen Tochter »Pippi Langstrumpf« vorliest (die Ausgabe stammt noch aus seiner eigenen Kindheit), lässt er das ›N-Wort‹ weg und sagt stattdessen »Südseekönig«, damit sein Kind die Bezeichnung, mit der schwarze Menschen jahrhundertelang herabgewürdigt wurden und immer noch werden, gar nicht erst in seinen Wortschatz übernimmt. Gehört dieses verletzende Wort doch, davon ist Jan überzeugt, aus dem kulturellen Gedächtnis getilgt. Ganz grundsätzlich respektiert er die Vulnerabilität anderer, versucht ihren Schmerz nachzuempfinden, anstatt ihn zu bewerten.
Sein Beruf, er ist Deutsch- und Politiklehrer am Gymnasium, erlaubt es Jan, viel zu Hause zu sein und sich zu kümmern. Er kocht gern und, aus ethischen Gründen, nur vegetarisch. Tiere seien leidensfähige Wesen, die einen tiefen, drängenden Lebenswillen in sich trügen: Welchen anderen Schluss als den Verzicht lasse dieser Tatbestand zu, so Jan, wenn Freunde ihn auf seinen Vegetarismus ansprechen.
Jans Frau Tine arbeitet ganztags als Redakteurin beim Radio und kehrt wochentags erst zurück, wenn das Abendessen auf dem Tisch steht. Durch sie wurde Jan schon vor vielen Jahren für die Problematik des generischen Maskulinums sensibilisiert, das zwar rein grammatikalisch geschlechtsneutral ist, aber eben doch in der Imagination ausschließlich Männer aufruft. »Oder woran denkst du bei dem Satz ›Alle Schüler haben heute hitzefrei‹? An Mädchen oder an Jungen?«, hatte Tine ihn damals gefragt.
Seither verwendet Jan, so wie Tine in ihren Sendungen, den Unterstrich. Sagt in Konferenzen »Schüler_innen«, um auch Sascha und Alex aus seinem Oberstufenkurs, die sich non-binär, also weder männlich noch weiblich verstehen, zu repräsentieren. Der Unterstrich, hatte Jan älteren Kollegen vor einigen Monaten im Lehrerzimmer erklärt, die sich über seinen Sprachgebrauch mokierten, gebe dritten, vierten, fünften Geschlechtern Raum; das stumpfe Beharren auf nur zwei Geschlechtern sei »transphobisch«. Auf die spöttelnde Bemerkung, dass gerade er als Deutschlehrer ein Gefühl für die Ästhetik der Sprache haben sollte, die durch so einen »Neusprech« zerstört würde, entgegnete Jan: Ob die Ethik nicht die Ästhetik letztlich schlage, wenn Schönheit doch nur Ungerechtigkeit verdecke wie ein Feigenblatt. Was an dem Wunsch, alle Geschlechter abzubilden, mit Blick auf eine brutale, patriarchale Geschichte, die sich auch und gerade in der Sprache zeige, falsch sei. Übrigens trügen, so fügte Jan angesichts des gespannten Schweigens der Kollegen hinzu, seine Kinder aus genau diesem Grund auch den Nachnamen der Mutter. Väter hätten ihre Namen schließlich lange genug vererbt, und ihm breche nun wahrlich kein Zacken aus der Krone. Zumal er auch ohne die Symbolik des Namens tief, nämlich emotional, mit seinen Kindern verbunden sei. Die Kollegen machten daraufhin Witze, ob Jan nicht lieber gleich Röcke tragen wolle; rationale Gegenargumente aber brachten sie nicht vor.
Mit der MeToo-Bewegung hat sich Jan aus Überzeugung und Mitgefühl solidarisiert – auch wenn er sich durchaus der Problematik bewusst ist, dass er als Mann nicht zu wissen vermag, wie eine Frau sich fühlt, und schon deshalb nicht für sie sprechen kann. Seine Frau Tine hat selbst einmal sexuelle Belästigung erlebt. Der Übergriffige war...
Erscheint lt. Verlag | 20.10.2021 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | cancel culture • Debattenkultur • Diskriminierung • Empfindsamkeit • Feminismus • Geschlecht • Gesellschaft • metoo • Polititcal Correctness • Psychoanalyse • Rassismus • Resilienz • Sensibilität • Sexualität • Verletzlichkeit |
ISBN-10 | 3-608-11663-X / 360811663X |
ISBN-13 | 978-3-608-11663-2 / 9783608116632 |
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